Dienstag, 19. November 2019

SPD hat fertig.


aus nzz.ch,

Gesundbetung im Angesicht der Katastrophe: Das Show-Format zur SPD-Vorsitzenden-Wahl bringt alle Fehlentwicklungen innerhalb der Partei auf den Punkt
Die deutschen Sozialdemokraten haben keine Weltanschauung mehr anzubieten. Aber Diskurs, das Erklären von Politik, von Demokratie und Kompromiss, wären dringend nötig in einer Zeit, in der sich die Gesellschaft polarisiert und die Meinungsfreiheit von rechts wie von links unter Druck gerät.

von Susanne Gaschke

Die Funktionäre der deutschen Sozialdemokratie wirken mittlerweile wie die Schauspieler in einer Netflix-Horror-Serie: «Macht das nicht!», möchte man ihnen dauernd zurufen, «geht doch nicht da lang!», oder: «Vorsicht, hinter euch!» Doch natürlich können Serienfiguren die Zuschauer nicht hören.

Seit 1990 hat die SPD fast eine halbe Million Mitglieder verloren; seit 1998 mehr als zehn Millionen Wähler. Das letzte halbwegs vorzeigbare Ergebnis (34,2 Prozent) erreichte sie bei der Bundestagswahl 2005 mit Gerhard Schröder. Bei Landtagswahlen geht sie inzwischen auch mit einstelligen Ergebnissen (Bayern, Sachsen, Thüringen) nach Hause. Und erreicht sie in einer bundesweiten Meinungsumfrage ausnahmsweise 15 Prozent, wird das vom Establishment schon als neue Stärke gefeiert.

Politische Konsequenzen hat – ausser Hannelore Kraft nach der verlorenen Landtagswahl im SPD-Stammland Nordrhein-Westfalen 2017 – freiwillig noch kaum ein Spitzengenosse gezogen. Vielmehr scheint es so, als würden die schlimmsten Verluste die Verantwortlichen noch zusätzlich stabilisieren. Nach dem Motto: Wir haben so falsch gelegen, jetzt müssen wir erst recht versuchen, im Amt zu bleiben. Das galt für Sigmar Gabriel wie für Martin Schulz – und stets und ständig für den ganzen 44-köpfigen Parteivorstand, der beinahe alles einmütig mitbeschlossen hat: Schulz niemals in ein Merkel-Kabinett, keine grosse Koalition, doch grosse Koalition, Schulz doch in ein Merkel-Kabinett; alle Macht für Andrea Nahles . . .

Die offizielle SPD-Rhetorik ist eine der Gesundbetung im Angesicht der Katastrophe: In Bremen freut man sich, dass es möglich ist, gegen die stärkste Fraktion (CDU) eine rot-rot-grüne Regierung zu bilden. Dass Bundesfamilienministerin Franziska Giffey mit Ach und Krach ihren Doktortitel für eine dürftige Arbeit behalten darf, empfiehlt sie sogleich für Höheres. In einer Talkshow schildert die kommissarische SPD-Vorsitzende Malu Dreyer die Lage in so rosigen Farben, dass sogar die an sich sanftmütige Moderatorin gereizt fragt: «Finden Sie wirklich, dass Ihre Partei keine Probleme hat?»

Tatsächlich besteht sie momentan nur aus Problemen. Das maximal aufwendige Verfahren zur Bestimmung der neuen «Doppelspitze» – 23 Regionalkonferenzen mit sieben Kandidatenteams – hat die hohen Erwartungen enttäuscht. Ein echtes Gespräch darüber, was die SPD ändern müsste, um wieder erfolgreich zu werden, kam schon wegen des rigiden Formats mit viel zu kurzen Redezeiten nicht zustande. Und keiner der potenziellen Führer der ältesten Partei Deutschlands wagte es, gegen diese Kindergarteninszenierung aufzumucken.

Am anschliessenden Mitgliedervotum beteiligte sich nur die Hälfte der Basis – so kam es, dass für den Erstplatzierten Olaf Scholz und seine Partnerin ganze elf Prozent der eingeschriebenen SPD-Mitglieder stimmten. Ein eigentlich deprimierendes Ergebnis – das Scholz allerdings bejubelte. 

In einem Land ohne Merkel

Die Tatsache, dass der Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland, Finanzminister und stellvertretende Parteivorsitzende nicht besser abschnitt, beschädigt Scholz – und lässt erahnen, wie die Genossen mit ihm umgehen werden, falls er sich in der nun folgenden Stichwahl knapp durchsetzt: Sie werden versuchen, ihn zum Austritt aus der grossen Koalition zu nötigen – und zur Aufgabe der «schwarzen Null» im Bundeshaushalt; sie werden in allen denkbaren Fragen eine Linkswende erzwingen. An der Linksdrift der Funktionäre sind schon die Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück gescheitert. Doch verspricht diese Richtung wirklich Erfolg?

Wahlen hat die SPD immer dann gewonnen, wenn es ihr gelang, die solidarische, fortschrittlich gestimmte Mitte anzusprechen – mit Kanzlern wie Willy Brandt («Wir schaffen das moderne Deutschland»), Helmut Schmidt («Modell Deutschland») oder eben Gerhard Schröder («Innovation und Gerechtigkeit»). Ein strammer Linksruck dürfte hingegen direkt in die Opposition führen. Und sich dort zwischen der Linkspartei und der AfD zu profilieren, wird mindestens ebenso schwer, wie in der grossen Koalition nicht unterzugehen.

Ohnehin steht aber vor einem Sieg von Olaf Scholz ein sehr grosses «falls». Denn wer ihn wollte, hat ihm möglicherweise bereits die Stimme gegeben; sein Potenzial könnte weitgehend ausgeschöpft sein. Hingegen fällt der Satz «Ich kann ihn einfach nicht wählen!» gegenwärtig bei beinahe jeder Zusammenkunft von Sozialdemokraten, die aus mehr als zwei Personen besteht.

Gleichwohl verbreiten Scholz’ Mitarbeiter unerbittliche Zuversicht: Wenn die Partei sich nicht für ihn entscheide, dann sei sie sowieso nicht mehr zu retten, sagen sie. Das mag sogar stimmen: Stellt man sich das Land einmal ernsthaft ohne Bundeskanzlerin Angela Merkel vor, dann brächte Scholz mehr Kampfgewicht und Regierungserfahrung auf die Waage als die kraftlose CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer oder der mutmassliche Grünen-Spitzenkandidat Robert Habeck. Das kann man vom zweitplatzierten SPD-Kandidaten, dem ehemaligen nordrhein-westfälischen Finanzminister Norbert Walter-Borjans, nicht wirklich behaupten, allein schon, weil er den meisten Deutschen gar nicht bekannt ist.

Doch Scholz macht es den Genossen nicht leicht, sich für ihn zu entscheiden: Er spricht hermetisch. Sein Gesichtsausdruck wirkt oft mokant. Er antwortet fast nie auf Fragen, die Journalisten ihm stellen, sondern haut ihnen seine Wahrheiten um die Ohren. Scholz hat nichts darüber zu sagen, wie Deutschland im Augenblick ist oder in Zukunft sein sollte. Wie Merkel ist er Vertreter einer nichtdiskursiven, technokratischen Politik. Aber Diskurs, das Erklären von Politik, von Demokratie und Kompromiss, wären dringend nötig in einer Zeit, in der sich die Gesellschaft polarisiert und die Meinungsfreiheit von rechts wie von links unter Druck gerät.

Das Show-Format zur Bestimmung der neuen SPD-Vorsitzenden bringt alle Fehlentwicklungen innerhalb der Partei auf den Punkt: Die Sozialdemokraten haben keine Weltanschauung mehr anzubieten. Sie haben sich thematisch auf sozialpolitische Projekte eingeschränkt, die sie spiegelstrichartig abarbeiten, ohne dass es ihnen irgendjemand dankt.

Dass Olaf Scholz’ Partnerin Klara Geywitz (seine zweite oder dritte Wahl) öffentlich sagte, sie wolle nicht das Salatblatt auf seiner Kandidatur sein, rückte die generell salatblattartige Rolle der SPD-Frauen auf schmerzliche Weise in den Fokus. Denn ausser der Professorin Gesine Schwan gab es in der Endrunde keine Bewerberin aus eigenem Recht oder Anspruch – und die 77-jährige Politikwissenschafterin landete zusammen mit Parteivize Ralf Stegner auf dem letzten Platz in der Mitgliederbefragung.

Ein Teil der unmodernen Anmutung der SPD ist dem Umstand geschuldet, dass die Partei, trotz aller Quotierung und allen frauenpolitischen Bemühungen, immer noch eine Organisation der Männerseilschaften ist. Die Genossen schickten über Jahrzehnte Frauen gegeneinander ins Rennen, und kooptierten dort, wo sie es konnten, die bravsten Mädchen in ihre Vorstände. Gerhard Schröder bezeichnete Familienpolitik als «Gedöns», und die äusserst erfolgreiche Familienministerin Renate Schmidt ging nach der Bundestagswahl 2005 ohne jede Diskussion ihres Ressorts verlustig – die SPD hatte es nicht so wichtig gefunden. Diese Art von Prioritätensetzung teilt sich dem Publikum durchaus mit.

Auch die inzwischen bereits wieder zurückgetretene Parteivorsitzende Andrea Nahles war offenbar kein «role model» für jüngere Wählerinnen. Die strebten in den vergangenen Jahren entweder zur Union der Bundeskanzlerin oder zu den Grünen.

Anschaulich machte das Verfahren zur Vorsitzendenfindung auch die Tabuthemen, die die SPD dringend erörtern müsste, vor denen sie aber zurückschreckt. Das vielleicht wichtigste: Wie viele Flüchtlinge kann Deutschland aufnehmen und integrieren? Und vor allem: Wie gut funktioniert die Integration? Wie verhindert man die Bildung von Parallelgesellschaften, unter denen die klassische ehemalige SPD-Klientel in den traditionellen Arbeiterstadtteilen am meisten zu leiden hat? 

Das Beispiel Sarrazin

Der frühere Berliner Finanzsenator und Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin hatte der SPD und ihren Wählern mit seinem Bestseller «Deutschland schafft sich ab» schon 2010 ein provozierendes Gesprächsangebot gemacht. Doch statt sich mit Sarrazin auseinanderzusetzen – und seine kruderen Thesen dabei souverän zu widerlegen –, versucht die Partei seit Jahren erfolglos, ihr ungeliebtes Mitglied auszuschliessen. Dabei muss man Sarrazin wenigstens darin recht geben, dass die SPD in der Wählergunst vermutlich anders dastünde, wenn sie seit zehn Jahren konstruktiv über Migration diskutiert hätte. Und wenn sie aus dieser Debatte Schlussfolgerungen für Schulen und Quartiere gezogen hätte, für die Durchsetzung von Gleichberechtigung und zeitgemässe Religionsausübung.

Während der SPD-Bewerbertournee beklagte der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius, es gebe keinen Raum für eine Debatte über innere Sicherheit, Migrationspolitik, erfolgreiche Integration oder Extremismus. Doch als Kandidat hätte er natürlich das Wort zu diesen Fragen ergreifen können. Wie schon viel zu oft wurde mit der Beschwörungsformel «Geschlossenheit» die dringend notwendige Kritik am Status quo verhindert – doch wenn alles richtig gewesen wäre, was die Parteiführung in den vergangenen Jahren (oft einstimmig) beschlossen hat, dann wäre die SPD ja nicht in einem derart elenden Zustand.

Manchmal überkommt die Betrachterin das Gefühl, den Sozialdemokraten wäre nur noch zu helfen, indem man ihre Partei auflöste und neu gründete. Manche Genossen raunen, dass der ehemalige Parteivorsitzende Sigmar Gabriel so etwas im Schilde führe. Und manche verbinden damit sogar Hoffnung. Doch war es Gabriel, der zwei Kanzlerkandidaten verschliss, ohne jemals selbst anzutreten; Gabriel, der mit seiner Wankelmütigkeit und seiner Haltlosigkeit nach links die SPD sieben Jahre lang in die Bedeutungslosigkeit führte – genau dorthin, wo sie jetzt ist.


Nota. - Das könnte man an dieser oder jenen Stelle noch etwas erläutern; aber über einen Satz, dem ich nicht zustimmen kann, bin ich nicht gestolpert.
Frau Gaschke ist Stammautorin bei der Welt. Warum schreibt sie dort nicht so gute Beiträge? Lässt man sie nicht?
JE


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