Freitag, 8. November 2019

Eine Welt der Lügen.

Magritte, Legende der Jahrhunderte
aus nzz.ch, 8.11.2019
 
Der Osten war eine Landschaft der Lüge – davon profitiert die AfD bis heute
Der Ostblock existiert nicht mehr, aber die Prägung durch Diktatur und Propaganda steckt noch in vielen Köpfen. Misstrauen gegen die Eliten und Nationalismus gehören zu diesem Erbe, und das nützt Björn Höcke genau so wie Viktor Orban.

von Eric Gujer 

Geschichte vergeht nicht. Sie lässt sich nicht bewältigen, sie lässt sich nicht verdrängen, sie kehrt immer wieder. Der Mauerfall liegt unterdessen dreissig Jahre zurück – eine beträchtliche Zeitspanne, wenn man bedenkt, dass die DDR selbst nur vierzig Jahre dauerte. Doch der Kommunismus wirkt noch immer nach, selbst in den Köpfen derjenigen, die zu jung waren, um ihn selbst zu erleben. Die Westdeutschen glaubten, mit der Wiedervereini- gung sei ein weiteres düsteres Kapitel deutscher Geschichte endgültig abgeschlossen. Die Ostdeutschen waren skeptischer, und sie behielten recht.

Der Ostblock war eine Landschaft der Lüge, angefangen bei den Schauprozessen der dreissiger und fünfziger Jahre, in denen keine Behauptung absurd genug sein konnte, um die Schuld der Angeklagten zu beweisen. Doch auch in ihrer ermatteten Endphase blieben die sozialistischen Regime Lügengebilde, in denen sich die Propaganda wie eine undurchdringliche Wand vor die Realität schob.

So etwa verkündete die Staatsführung in Ostberlin triumphierend die Entwicklung eines Computerchips, der mangels geeigneter Produktionsanlagen dann nie in Serie ging. In Moskau beteten die Funktionäre des kommunistischen Jugendverbandes die Glaubenssätze des Marxismus-Leninismus nach, um sich während der Perestroika in Kapitalisten zu verwandeln. Und in Prag verlangte Vaclav Havel nach Wahrheit und landete im Gefängnis. 

Verbissener Kampf gegen Denkverbote

Der «Homo sovieticus» und seine Verwandten in Mittel- und Osteuropa lernten ein Leben des «als ob», ein Leben in Verstellung und in Distanz zum Staatsapparat. Davon profitieren die AfD und andere Populisten. Was ist Lüge, was ist Wahrheit? Und vor allem: Wer bestimmt darüber? Um diese Fragen kreist die Politik im Osten bis heute, deshalb der Slogan der «Lügenpresse», deshalb auch der verbissene Kampf gegen Denkverbote und die Neigung zu «alternativen Fakten».

Was Westdeutsche für Verschwörungstheorien halten, betrachten viele Ostdeutsche im Gegenteil als einen Akt der Aufklärung: Sie wollen endlich einen Blick hinter die Wand der offiziellen Propaganda werfen. Das Missverständnis befeuert in Deutschland die politische Polarisierung und die Entfremdung zwischen Ost und West.

Die früheren kommunistischen Untertanen haben die Distanz zum Staat und zu dessen Eliten verinnerlicht und an ihre Kinder weitergegeben. Die Prägungen der sozialistischen Diktaturen sind langlebig. In Thüringen lag die AfD bei Jungwählern vorne, Rentner wählten hingegen vor allem die SED-Nachfolgepartei. Da wächst zusammen, was zusammengehört. Wie die AfD bedient die Linkspartei antiwestliche Ressentiments.

«Der Kommunismus, die Ideologie der Gleichheit, hat 
traditionelles autoritäres Denken gefördert.»

Wer heute in Ost- und Mitteleuropa politisch Erfolg haben will, kritisiert das Establishment, auch wenn er selbst dazugehört. Der PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski in Polen und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban verdanken ihren Aufstieg dem Feldzug gegen alte postsozialistische und neue marktliberale Eliten. Die PiS errang ihren Wahlsieg vor wenigen Wochen dank einer Sozialpolitik, die einen Kontrapunkt zu den neoliberalen Reformen seit den neunziger Jahren darstellt. Die AfD gibt sich national und sozial. Marktwirtschaft, Globalisierung und Freihandel fordern einen Preis, der nicht zufällig im Osten am höchsten erscheint, weil hier das politische System noch instabil ist.

Die Skepsis gegenüber Eliten bedeutet aber keine Vorliebe für flache Hierarchien und die «Basisdemokratie», ein Wort, das gemeinsam mit den Grünen Karriere machte. Das unterscheidet die Anhänger der rechtskonservativen Parteien von den Achtundsechzigern, der anderen grossen antielitären Bewegung der letzten fünfzig Jahre. Im Gegenteil, der Kommunismus, die Ideologie der Gleichheit, hat traditionelles autoritäres Denken gefördert. Nicht umsonst nennt der frühere deutsche Bundespräsident Joachim Gauck im NZZ-Interview seine östlichen Landsleute «altdeutsch». Wer der Demokratie und ihren Repräsentanten misstraut, ist anfällig für Führerfiguren, auch wenn er das Establishment verachtet. 

Massenmord und Vertreibung

Die Fassaden sind in Osteuropa inzwischen gestrichen, die internationalen Hotelketten haben Fuss gefasst, und der Latte macchiato wird mustergültig aufgeschäumt. WLAN und Handynetz sind besser als in Deutschland, dem Funkloch Europas. Die Äusserlichkeiten des westlich-kosmopolitischen Lebensstils verleiten dazu, die Tiefenströmungen zu übersehen, die auch nach dreissig Jahren die neue Zeit mit der alten verbinden.

Was wir heute Mittel- und Osteuropa nennen, gehörte mit Ausnahme der DDR vor 1918 zum Zarenreich oder zur Habsburgermonarchie. Zwei Imperien und Vielvölkerstaaten, deren Untergang die Pandorabüchse ethnischer Konflikte öffnete. So war Lwiw (Lemberg) in den letzten hundert Jahren österreichisch-ungarisch, polnisch, sowjetisch, nazideutsch, wieder sowjetisch und gehört heute zur unabhängigen Ukraine.

Wer von den Einwohnern Deutsch, Polnisch oder Armenisch sprach, ist längst vertrieben. Als die Wehrmacht 1941 in Lwiw einmarschierte, fand sie die Leichen der vom sowjetischen Geheimdienst ermordeten städtischen Intelligenzia. Dann vernichteten die SS-Einsatzgruppen die Juden; so starb auch das Jiddische aus. Wer heute in Lwiw lebt, ist oft Nachfahre sowjetischer Funktionäre, die nach 1945 angesiedelt wurden. Das Wort Bevölkerungsaustausch ist in Westeuropa ein rechtsextremer Kampfbegriff, der die Verdrängung der Bevölkerung durch Einwanderer suggeriert. In Lwiw fand ein Bevölkerungsaustausch tatsächlich statt. Unter sowjetischer Herrschaft wurde die Aufarbeitung dieser Erfahrung unterdrückt. Umso heftiger bricht sie nach dem Ende der Diktatur hervor. 

Die Tyrannei der Geschichte

Im Westen reifte der Nationalstaat über Jahrhunderte, bis Exzesse ihn diskreditierten. Überstaatliche Elemente wie die EU gaben ihm ein neues Fundament. In Osteuropa ist der Nationalstaat der Versuch, nach Vertreibungen, Massenmorden und willkürlichen Grenzziehungen endlich Schutz vor der Tyrannei der Geschichte zu finden. Nationalismus gilt nicht als Exzess, sondern als Garant von Identität und Stabilität. Ethnische Homogenität, im Westen lange fast eine Selbstverständlichkeit, existierte im Osten nie und ist deswegen noch immer ein Ideal.

So wie sich West- und Ostdeutsche nicht einig werden, interpretieren West- und Osteuropäer Grundbegriffe der Staatlichkeit völlig unterschiedlich. Die Deutschen beidseits der Elbe begehen den Fehler, ihre Unterschiede als Webfehler eines im Übrigen geeinten Volkes zu begreifen. Dabei sind sie Ausdruck des grossen europäischen Schismas.

Der Westen denkt universalistisch. Er betrachtet Migration als Bereicherung und feiert die Diversität der Ethnien und sexuellen Identitäten. Das war allerdings nicht immer so (und auch heute sehen es viele Menschen anders). Der Osten nahm sich daran nach dem Kollaps des Kommunismus ein Vorbild. Man habe die Geschichte inklusiv geschrieben und die von Ukrainern begangenen Massaker an Polen aus der Perspektive beider Völker erzählt, hiess es an der Körber History Reflection Group, einer Historikertagung, die dieses Jahr in Lwiw stattfand. Aber die Völker hätten nach schärferem Zeug verlangt. Das schärfere Zeug heisst Höcke oder Orban, die Minderheiten und Einwanderer ausgrenzen. Die polnische Regierung treibt grossen Aufwand, um ihre exklusiv nationale Geschichtsschreibung durchzusetzen und andere Sichtweisen im Ausland zu ächten.

In der Euphorie des Aufbruchs nach 1989 übernahm der Osten zunächst die liberalen Wertvorstellungen. Als Reaktion auf die Mühen der Transformation schwang das Pendel zurück. Wahlerfolge feiert jetzt, wer ein antiwestliches Weltbild kultiviert. Westeuropa reagiert auf diese Wellenbewegung entnervt und macht die eigene Erfahrung zum Massstab, an dem es den Osten misst. Bis das europäische Schisma überwunden ist, bis Ost und West die gleiche Sprache sprechen, wird jedoch einige Zeit vergehen. Hier braucht es Geduld und gegenseitiges Verständnis. Eine Lüge ist schnell erzählt. Bis sich die Wahrheit durchsetzt, dauert es lange.


Nota. - Die gleiche Sprache? Herr Gujer, Sie meinen doch nicht ein Pidgin-Deutsch aus Lüge und Wahrheit! Nein nein, so eine Vereinigung hat ihnen das GG nicht in Aussicht gestellt und werden sie von uns nicht bekommen. Der Wahrheit ist nicht gedient, indem man den Lügner "abholt". An dem Punkt haben wir viel zu lange und viel zu bedenkenlos gesündigt. Damit soll nach drei Jahrzehnten endlich Schluss sein.
JE




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