Montag, 13. Oktober 2014

Chruschtschows Sturz von 50 Jahren.

Chruschtschew telefoniert, und Breschnew fädelt im Hintergrund die Entmachtung ein.
aus nzz.ch, 13.10.2014, 05:30 Uhr


Vor 50 Jahren ergriff Leonid Breschnew die Macht
Die starke Sowjetunion



Lange hatte man im Westen geglaubt, der Machtwechsel im Kreml vor fünfzig Jahren habe innen- und aussenpolitische Gründe gehabt. Akten zeigen indes, dass die Parteikader um Macht und Einfluss bangten. Leonid Breschnew erschien als willkommene Alternative nach Stalins Terror und Chruschtschews Reformen.

Leonid Breschnew soll gezittert haben, als er Nikita Chruschtschew auf der Krim anrief, um ihn unter einem Vorwand nach Moskau zu rufen. Chruschtschew schien keinen Verdacht zu schöpfen, er polterte nur: «Was ist denn passiert? Könnt ihr denn nicht einen Tag ohne mich auskommen?» Als er am 13. Oktober 1964 am frühen Nachmittag zur anberaumten Parteipräsidiumssitzung im Kreml eintraf, liessen ihn die versammelten Mitglieder noch den Vorsitz einnehmen, bevor sie ihm in langen Reden erklärten, wie viel Schaden er durch Selbstherrlichkeit und Eigenmächtigkeit in Partei, Staat und Wirtschaft angerichtet habe.

Der sichtlich erschütterte Chruschtschew, der wissen wollte, warum das keiner früher gesagt habe, unterwarf sich schliesslich dem Willen des Präsidiums, aus «Alters- und Gesundheitsgründen» um seine Entlassung zu bitten. Doch die Spannung wich erst von den Verschwörern, als auch das am 14. Oktober einberufene ZK-Plenum das «Rücktrittsgesuch» annahm und Leonid Breschnew zum neuen Ersten Sekretär (seit 1966 wieder Generalsekretär) bestimmte. Chruschtschew wurden eine Datscha, ein Auto, eine Rente sowie andere Sozialleistungen zugewiesen. Man bat ihn, sich nicht mehr in Moskau blicken zu lassen.
 
Machterhaltung

Der Machtwechsel in der Sowjetunion vor fünfzig Jahren ist im Westen lange Zeit auf das innen- und aussenpolitische Scheitern Chruschtschews zurückgeführt worden: Unter ihm kam es zu einer Lebensmittelkrise, die 1961 zu einem Aufstand in der Stadt Nowotscherkassk führte und seit 1962 Staat und Partei dazu zwang, im Ausland Getreide einzukaufen. Die Kubakrise 1962 galt als aussenpolitisches Desaster, mit dem sich die Sowjetunion international blamiert hatte. Doch aus den heute zugänglichen Akten geht hervor, dass die Präsidiumsmitglieder weniger um die Innen- und Aussenpolitik als um ihre eigene Macht besorgt waren. Chruschtschew hatte am Vorabend seiner Ferien erklärt, nach seiner Rückkehr werde er, so wie er bereits viele politische Institutionen zerschlagen hatte, auch das Parteipräsidium auseinanderjagen, das er für einen «Haufen alter Männer» hielt.

Die Präsidiumsmitglieder beschuldigten Chruschtschew, er habe sie beleidigt, gehänselt, gedemütigt und über ihre Köpfe hinweg Partei und Staat unzähligen Strukturreformen unterworfen. «Das ist keine Führung, das ist ein Karussell», sagte Breschnew und versprach den Eliten in Partei und Staat das, wonach sie sich am meisten sehnten: Sicherheit und Stabilität. Er war für sie keine Rückkehr zu Stalin, sondern die Alternative nach Jahrzehnten des Terrors unter Stalin und der Reformwirren unter Chruschtschew. Breschnew selbst erklärte: «Unter Stalin fürchteten die Menschen Repressionen, unter Chruschtschew die Veränderungen und Erneuerungen. Nun sollen die Sowjetmenschen ein friedliches Leben führen, damit sie produktiv arbeiten können.»

Böse Zungen haben behauptet, Breschnew sei durch «Zufall» Parteichef geworden, ein «Unfall» sei es, dass er es geblieben ist. Der führungsschwach, profillos und in seinen späten Jahren starr, grau und aufgedunsen wirkende Breschnew schien nicht das Format zu haben, um die Sowjetunion zu führen. Viele westliche Beobachter hielten ihn nur für einen Vermittler oder Spielball der rivalisierenden Politbüro-Grössen. Und doch war es Breschnew, der die Verschwörung gegen Chruschtschew organisierte und anführte. Er hatte als Zweiter Parteisekretär nicht nur formal die beste Ausgangslage, um sein Nachfolger zu werden; er stand auch mit seiner Persönlichkeit für einen Politikstil, zu dem es damals keine Alternative zu geben schien.

Nach dem jähzornigen, zu Extremen neigenden Chruschtschew wünschte die Parteiführung einen Genossen wie Breschnew, der ausgeglichen, immer freundlich und ohne jeden Dünkel war. Sein engster Mitarbeiter, Georgi Arbatow, berichtet: «Einer seiner Vorzüge war, dass er nicht bösartig und nicht grausam war. Er war ein einfacher Mensch, sogar ein demokratischer, zumindest als er noch nicht verlernt hatte, die anderen anzuhören, Danke zu sagen und laut zuzugeben, dass er vieles nicht weiss.»

Breschnew war ein Zögling Chruschtschews und wuchs wie dieser als Arbeitersohn in der Ukraine auf, in deren Industriegebiete es ihre russischen Eltern um 1900 auf der Suche nach Arbeit gezogen hatte. Geboren 1906, gehörte er zu der typischen Generation, die sich in den 1920er Jahren an der Aufbauarbeit des neuen Landes beteiligte, Anfang der 1930er Jahre studierte und in den Jahren 1937/38 auf Positionen in Partei und Wirtschaft vorrückte, die durch die Massenverhaftungen frei geworden waren.
 
Garant der Kollektivherrschaft

Während die Ghostwriter seiner «Memoiren» später die «Idealbiografie» Breschnews priesen, der Ende der 1920er Jahre als Landvermesser gearbeitet habe, bevor er in den 1930er Jahren Ingenieur wurde, besuchte Breschnew bis 1917 ein Gymnasium, stammte also zumindest aus privilegierten Verhältnissen und wollte eigentlich – als Mitglied einer Laiendarstellertruppe – Schauspieler werden. Als Generalsekretär sollte er später seine Mitarbeiter auf seiner Datscha mit Rezitationen des Dichters Jessenin unterhalten. Entscheidend war, dass er als Parteisekretär in Dnjepropetrowsk 1939 Chruschtschew kennenlernte, der damals erster Mann der Ukraine war und Breschnew nach dem Krieg zu einer steilen Karriere verhalf. Nachdem sich Breschnew als Parteisekretär in der Ukraine, in der Moldau und in Kasachstan bewährt hatte, machte Chruschtschew ihn 1956 in Moskau zu seiner rechten Hand.

Breschnew galt aufgrund seines guten Aussehens, seiner Umgänglichkeit und seines Erfolgs bei Frauen als Hoffnungsträger. Er hatte ausserdem wichtige Lektionen gelernt, als er 1957 half, einen ersten Putsch gegen Chruschtschew zu verhindern. Am Beispiel seines Ziehvaters hatte er erfahren, wie man Mehrheiten organisierte und wie man sie verlor. Breschnews gesamte Herrschaftszeit von 18 Jahren war daher in erster Linie von der Frage der Machtsicherung dominiert. Er hatte nicht nur fünf Mitverschwörer in Schach zu halten; neben seiner eigenen Klientel von Dnjepropetrowsker Gefolgsleuten gab es vier weitere mächtige Netzwerke innerhalb der Partei, die nach mehr Einfluss strebten. Breschnew präsentierte sich daher den Mitgliedern des Präsidiums (seit 1966 wieder Politbüro) als Garant für die Kollektivherrschaft: Alles wurde im Konsens beschlossen. Die ständige Beschwörung der kollektiven Führung und des Konsenses hatten auch schon seine Vorgänger praktiziert. Aber die Loyalität, die Stalin durch Angst und Chruschtschew am Ende durch seinen beissenden Spott erzwungen hatten, sicherte sich Breschnew durch kumpelhaftes bis väterliches Auftreten.

Seine besondere Kunst bestand darin, zwischen 1965 und 1977 einen Mitverschwörer nach dem anderen zu entmachten und dies stets als Konsensentscheidung des Politbüros, wenn nicht gar als Beförderung und Fürsorge um den Genossen erscheinen zu lassen. Als Breschnew 1967 den Moskauer Parteichef Jegorytschew absetzte, bekam dessen Tochter eine Wohnung, er selbst einen Botschafterposten in Kopenhagen; als er 1972 den ukrainischen Parteichef Schelest entmachtete, versprach er ihm einen Stellvertreterposten im Ministerrat in Moskau und insistierte, ein Tapetenwechsel werde ihm sicher guttun; als 1977 auf dem ZK-Plenum mehrere Gebietsvorsitzende unisono erklärten, es sei Zeit, den Generalsekretär auch zum Präsidenten des Obersten Sowjets zu machen, sass Breschnew neben dem geschockten Amtsinhaber Podgorny und gab sich ahnungslos: «Ich verstehe das auch nicht, aber offenbar will es das Volk so.»

Breschnews Reden waren alle vorher abgesprochen und gegengelesen. Während Stalin seine Reden selbst schrieb und Chruschtschew zumindest selbst für die Pointen sorgte, machte Breschnew das Redenschreiben zum kollektiven Schreibprozess, an dem in verschiedenen Runden Abteilungsleiter aus dem ZK, ZK-Sekretäre und Mitglieder des Politbüros beteiligt waren. Die Mitarbeiter stöhnten angesichts der langwierigen, zeitraubenden Formulierungsprozesse. Ein Berater des ägyptischen Präsidenten Nasser berichtete mit Schaudern, wie er Zeuge wurde, dass ein Schriftstück erst von allen vier Staats- und Parteiführern nacheinander gelesen wurde, bevor sie es wagten, es kollektiv zu unterschreiben. Breschnew vermied erfolgreich, den Fehler Chruschtschews zu wiederholen: Jeden Morgen telefonierte er mehrere Stunden mit Parteisekretären im ganzen Land, um sich nach ihren Sorgen und Nöten zu erkundigen. Er liess sich «Ljonja» nennen, hatte seinerseits Kosenamen für alle Politbüromitglieder, die er auf seine Datscha einlud und zur Jagd mitnahm. Breschnew galt als Garant für das Gleichgewicht im Politbüro. Zweimal soll er seinen Rücktritt angeboten haben, stets lehnten die Genossen ab. Er starb 1982 im Amt. Sein persönlicher Erfolg hatte als paradoxes Ergebnis eine Überalterung des Systems zur Folge.
 
Recht auf Konsum

Breschnew führte die Sowjetunion 18 Jahre lang sehr erfolgreich durch ihre vermutlich stabilste Zeit, die heute von vielen Russen als «goldenes Zeitalter» verklärt wird. Er deklarierte einen höheren Lebensstandard zum wichtigsten politischen Ziel, etablierte die UdSSR neben den USA als gleichberechtigte Supermacht und verkaufte den «Drittweltstaaten» die sowjetische Entwicklung als Erfolgsweg in die Moderne. Hatte Chruschtschew noch befunden, der Sowjetmensch solle Bus und Bahn fahren, setzte sich Breschnew, selbst ein Autonarr, zum Ziel, jede Frau solle als Mitgift ein Auto bekommen.

In Kooperation mit Fiat wurde an der Wolga seit Anfang der 1970er Jahre der Lada produziert. Anfangs war Breschnew überzeugt, mehr Konsum würde den Sowjetmenschen verstärkt zur Mitarbeit am Aufbau des Sozialismus motivieren. Alsbald jedoch drehte er die Argumentation um: Im «entwickelten Sozialismus» habe der Sowjetmensch das Recht, mehr zu konsumieren. Doch die Konzentration auf Konsum führte letztlich zur Entideologisierung und damit zur Unterhöhlung des Fundaments der Sowjetunion.

Angesichts der diffizilen Machtbalance im Politbüro wagte Breschnew erst Anfang der 1970er Jahre, auch die Aussenpolitik an sich zu ziehen. Während er im Westen vor allem für die Niederschlagung des Prager Frühlings und den Einmarsch in Afghanistan verantwortlich gemacht wurde, war sein eigentliches Ziel, mit den USA einen Ausgleich zu finden. Er hatte zwar nur als Politkommissar gedient, dennoch war für ihn als Weltkriegsveteran der Friedenserhalt mehr als eine Propagandafloskel. Die Moskauer Verträge, die er 1970 mit Willy Brandt unterzeichnete, Salt I, das er 1972 mit Richard Nixon signierte, sowie die Helsinki-Schlussakte 1975 waren für ihn grosse aussenpolitische Erfolge, für die er mit dem Friedensnobelpreis rechnete. Wie schon sein Vorgänger Chruschtschew setzte Breschnew in der Aussenpolitik auf enge Männerfreundschaften und fühlte sich in der Welt alleingelassen, als 1974 Pompidou starb und Brandt und Nixon zurücktraten. Seine grosse Zeit war damit vorbei.
 
Ruhmsucht und Nachruhm

Seit 1968 nahm er Schlaftabletten, die ab 1975 zu einem merklichen Verfall und immer längeren Zeiten des Ausfalls führten. Als 1979 ein Politbüro-Ausschuss den Einmarsch in Afghanistan beschloss, war er nicht ansprechbar. Mit der Tablettensucht setzte 1973 seine zunehmende Ruhmsucht ein. Zahlreiche Preise, Titel und Orden, vor allem aber die Verleihung des Marschalls-Titels (1976) und des Lenin-Preises für Literatur (1980), machten Breschnew zunehmend zum Gespött der Menschen, die zahlreiche Witze über ihn kreierten.

Heute gehört Breschnew für viele Russen neben Lenin und Stalin in die Reihe derjenigen Staats- und Parteiführer, die die Sowjetunion stark machten und ihren Einfluss ausdehnten; ihnen gegenüber stehen die «Totengräber» Chruschtschew, Gorbatschew und Jelzin. Als Putin 2005 formulierte, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei die «grösste geopolitische Katastrophe» des 20. Jahrhunderts, stand ihm als Vorbild die Sowjetunion Breschnews vor Augen. Unter seiner Führung war die Supermacht respektiert und gefürchtet und beanspruchte mit der Breschnew-Doktrin das moralische Recht und die historische Pflicht, abtrünnige Vasallenstaaten notfalls auch mit Waffengewalt am Austritt aus dem Verteidigungsbündnis zu hindern.

Susanne Schattenberg ist Professorin für Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas und Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Sie schreibt zurzeit im Rahmen eines durch die Exzellenz-Initiative der Universität Bremen geförderten Projekts an einer Breschnew-Biografie.

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