Donnerstag, 2. Oktober 2014

Vorurteile gegen den Islam?

Sonnenaufgang in Mekka.
aus nzz.ch, 1.10.2014, 13:19 Uhr                                                                                      Sonnenaufgang über Mekka

Der Islamwissenschafter Ulrich Rudolph plädiert für Sachlichkeit
Schluss mit den Vorurteilen!
Ist der Islam eine seit Jahrhunderten geistig stagnierende religiöse Kultur? Zeigt sich im Islamismus und in der Gewalt islamistischer Terroristen das, was den Islam von jeher und «eigentlich» ausmacht? – Der Islamwissenschafter Ulrich Rudolph plädiert gegen Pauschalurteile und für Sachlichkeit.

von Ulrich Rudolph 

Seit kurzem wird in der NZZ eine Debatte über den Islam geführt, die von Martin Rhonheimers Artikel «Töten im Namen Allahs» angestossen wurde. Darin behauptet der Autor unter Verweis auf mehrere Koranverse, Gewalt gegen Ungläubige gehöre zum Wesen des Islams, während das Christentum Gewalttaten nur als Fehldeutung der ursprünglichen Botschaft kenne. Necla Kelek stimmt dieser Behauptung ausdrücklich zu, setzt in ihrem Beitrag «Eine Religion der Beliebigkeit» aber andere Akzente. Sie geht davon aus, dass der Koran ein «Textbaukasten» ohne inhaltliche Verbindlichkeit sei. Daher sei es im Islam auch nicht wie im Christentum zu einer vernunftgeleiteten Verständigung über die Glaubensinhalte gekommen. Entstanden sei vielmehr eine «Herrschaft der Vorbeter, die seit tausend Jahren einen innerislamischen Diskurs verhindern», was zur Unterdrückung der Vernunft und zur fraglosen Unterwerfung unter die ewiggleichen Doktrinen und Verhaltensnormen geführt habe.
 
Ein Geschichtsbild

Die Debatte hat inzwischen eine breite Resonanz gefunden, die bereits zu einer kontroversen Diskussion über Rhonheimers Interpretation von Koranversen führte. Gleichwohl erscheint es angezeigt, jenseits des Streits über einzelne Verse einige grundsätzliche Punkte anzusprechen. Denn hinter den vorgetragenen Argumenten stehen Grundannahmen über den Islam, die aufgedeckt werden müssen, weil sie höchst problematisch sind und den Diskurs mit und unter den Muslimen – der durchaus geführt werden muss – nicht fördern, sondern konterkarieren.

Das beginnt mit dem Geschichtsbild, das in der Debatte von einigen vorausgesetzt wird und von Kelek offengelegt wird: In der Entwicklung der islamischen Welt sei es nach einer kurzen Blüte von Wissenschaft und Philosophie zu einem intellektuellen Stillstand gekommen; er dauere nun schon viele Jahrhunderte an und habe seither die Entwicklung von Rationalität und vernunftgeleiteter Lebensbewältigung verhindert. Dieses Geschichtsbild ist nicht neu. Es entstand bereits im frühen 19. Jahrhundert. Damals konstruierte die europäische Orientalistik in einer Verbindung aus kolonialem Überlegenheitsgefühl und beschränkter Quellenkenntnis einen Orient, dem es angeblich an geistiger Autonomie mangele. Am deutlichsten wird das am Beispiel der Philosophie.

Man kannte einige islamische Autoren wie Avicenna und Averroes, weil sie im lateinischen Mittelalter rezipiert wurden; also gestand man den Muslimen zu, dass ihre Philosophie in der Frühzeit, als diese Autoren lebten, geblüht habe. Mit Averroes endete indes die lateinische Rezeption, und damit erlosch auch das Interesse der europäischen Wissenschaft. So kam es zu der folgenschweren These, die Philosophie und überhaupt der rationale Diskurs hätten in der islamischen Welt nach 1200 aufgehört zu existieren. Sie ist inzwischen unzählige Male wiederholt worden, aber das macht sie nicht plausibler.

Wir wissen mittlerweile, dass die Philosophie im Islam vom 13. Jahrhundert bis zur Gegenwart andauerte. Sie ist sogar zu einem Schwerpunkt islamwissenschaftlicher Forschung geworden. Dabei hat sich gezeigt, dass der philosophische Diskurs nach 1200 nicht nur fortgesetzt wurde, sondern auch auf die Theologie und bestimmte mystische Strömungen, die für die gelebte Religion sehr wichtig waren, ausstrahlte. Das wurde erst kürzlich auf einer Tagung zum Thema «Philosophical Theology in Islam» an der Londoner School of Oriental and African Studies eindrücklich bestätigt. 

Das überkommene Bild von der geistigen Stagnation der Muslime wird also gerade von der Forschung revidiert, und solche Ergebnisse sollte man zur Kenntnis nehmen, wenn man eine sachliche Diskussion über den Islam und dessen intellektuelle Entwicklung anstrebt.

Eine zweite, in der Debatte geltend gemachte Annahme lautet, dass heutige Islamisten, zumal, wenn sie gewaltbereit seien, zu den Wurzeln des Islams zurückkehrten. Das entspricht genau dem Bild, das Islamisten gerne von sich selbst zeichnen, sollte aber nicht unbesehen übernommen, sondern kritisch hinterfragt werden. Tatsächlich weist der islamistische Diskurs nämlich zahlreiche Parallelen zu anderen zeitgenössischen Ideologien auf. Das beginnt damit, dass er die traditionelle islamische Bildung ablehnt und auf verkürzte Lösungen setzt. Dabei spielt die alte Idee einer idealen Frühzeit des Islams natürlich eine grosse Rolle. Sie wird aber völlig umgedeutet. In ihrem Mittelpunkt stehen nun nicht mehr die Jenseitsorientierung und die Idee, die frühe Gemeinde habe durch den persönlichen Kontakt mit Mohammed an dessen Nähe zu Gott und zur Offenbarung teilnehmen können. Die Erwartungshaltung wird vielmehr vom Jenseits auf das Diesseits umgelenkt, denn aus dem theologischen ist ein politisches Heilsversprechen geworden. Es besagt, dass mit der Rückkehr zum «reinen» Islam schon hier und jetzt eine vollkommene «islamische Ordnung» entstehen könne, die alle Bereiche des Lebens regele und eine ideale, allen anderen überlegene Gemeinschaft formen werde.

Damit wurde der Schritt von der Religion zur Ideologie vollzogen, aber das geschah nicht ohne Widerspruch. Es gibt längst eine innerislamische Kritik am Islamismus, und es gibt zahlreiche Versuche, offenere Modelle eines islamischen Selbstverständnisses zu entwickeln. Für Ersteres steht etwa der Ägypter al-Ashmawi, der in seinem 1987 erschienenen Buch «Der politische Islam» das islamistische Gedankengut scharf verurteilte. An der Universität Ankara – das wäre ein Beispiel für Letzteres – sind in den letzten Jahrzehnten neue, der Hermeneutik verpflichtete kritische Methoden der Koranexegese ausgearbeitet worden. – Solche Stimmen sollte man unterstützen, sowohl in der islamischen Welt als auch in Europa, wo sich gerade ein differenzierter öffentlicher Diskurs über solche Fragen entwickelt, wie etwa die grosse Tagung «Horizonte der islamischen Theologie» an der Universität Frankfurt Anfang September gezeigt hat. Aber das tut man nicht, indem man jede Form von neuer und subtiler Hermeneutik als «Islam light» diffamiert und radikale Positionen als den «eigentlichen» Islam bezeichnet – was nur Fundamentalisten in die Hände spielt.
 
Die Gewaltfrage

Das führt schliesslich zu einem dritten Punkt, nämlich zur Frage nach der Gewalt. Sie muss natürlich gestellt werden, aber das sollte auf angemessene Weise geschehen. Der Islamismus ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts, der Islamische Staat (IS) gar des 21. Jahrhunderts, und dem sollte eine Analyse auch Rechnung tragen. Dabei spielt die Religion selbstverständlich eine Rolle, aber nicht im Sinne des Aufrechnens einzelner Bibelzitate und Koranverse. Das entspricht eher mittelalterlicher Polemik und bringt letztlich nur Religion insgesamt in Misskredit – so ist in einem Leserbrief zur Debatte ja auch schon die Überwindung aller Religionen gefordert worden. Dabei gerät allerdings der positive Beitrag, den Religionen zur Grundlegung von Gesellschaften leisten, völlig aus dem Blickfeld. Er existiert jedoch, denn jede Gesellschaft, auch die demokratische, baut auf ethischen Grundlagen auf, die unter anderem von religiösen Überzeugungen gelegt wurden.

Gleichwohl bleibt die Frage nach der Gewalt. Doch sie lautet nicht, ob Religionen ein Gewaltpotenzial besitzen – das ist gewiss der Fall. Die Frage lautet vielmehr: Wann und unter welchen Umständen wird dieses Potenzial aktiviert? Auf den Islam bezogen, heisst dies, zu überlegen, warum es seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert zu zahlreichen Gewalttaten kam, was für vorangehende Jahrhunderte, in denen islamische Staaten wie das Osmanische Reich sehr viel mächtiger und damit gewaltfähiger waren, eben so nicht gilt. Die Antwort kann nicht eindimensional sein. Schon erste Untersuchungen darüber, warum sich junge Muslime heute dem IS anschliessen, haben gezeigt, dass es selbst auf diese begrenzte Fragestellung mehrere Perspektiven gibt.

Man wird also damit rechnen müssen, dass neben religiösen und ideologischen Aspekten anderen Faktoren eine grosse Bedeutung zukommt. Dazu gehören politische Konstellationen (wie die autoritären Regime in islamischen Ländern und noch immer die Folgen von Kolonisation und Dekolonisierung), soziale Probleme (Spaltung der Gesellschaften, Ungerechtigkeit), Fragen der Psychologie und der Bildung bzw. des Bildungsmangels. Hinzu kommen Phänomene, die sehr stark an frühere Dritte-Welt-Ideologien und den emotional aufgeladenen «Befreiungskampf» gegen «Imperialisten» erinnern. Ausserdem muss man damit rechnen, dass die beginnende Zerstörung nahöstlicher Gesellschaften eine Eigendynamik entwickelt. Der indische Essayist Pankaj Mishra hat kürzlich den IS mit den atheistischen Roten Khmer verglichen. Auch das ist zunächst nur eine Hypothese, die aber sicher eine genauere Überprüfung verdient.

All das soll nicht von den Fragen der Religion ablenken. Im Gegenteil: Es soll sie erweitern und kontextualisieren. Denn man wird die Gewaltphänomene, die uns zu Recht beunruhigen, letztlich nur erklären und angemessen beantworten können, wenn man sie sachlich und in ihrer Gesamtheit analysiert.

Prof. Dr. Ulrich Rudolph lehrt seit 1999 Islamwissenschaft an der Universität Zürich und arbeitet mit einem internationalen Autorenteam am «Grundriss der Geschichte der Philosophie (Ueberweg)», das die «Philosophie in der islamischen Welt» vom 8. bis zum 20. Jahrhundert in vier Bänden nachzeichnet (erschienen ist 2012, bei Schwabe, der erste Band). Eine kurze Einführung in das Thema gibt Ulrich Rudolphs Buch «Islamische Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart» (C. H. Beck, 3. Auflage 2013).


Nota

- "Es gibt zahlreiche Versuche..." Wer hat das bestritten? Das Argumente von Ronheimer und Frau Kelek ist aber, dass sie erfolglos bleiben werden, weil sie sich auf keinem verbindlichen gemeinsamen Glaubenskern berufen können, dem auch und gerade die Fudamentalisten sich 'unterwerfen' ("Islam heißt...") müssten. Eine Religion der Beliebigkeit, schreibt Frau Kelek. Ach, so ganz beliebig scheint sie ja doch nicht zu sein: Was momentan politisch opportun ist, fällt offenbar schwer ins Gewicht.

- "Wir wissen mittlerweile, dass die Philosophie im Islam vom 13. Jahrhundert bis zur Gegenwart andauerte." Dass sie andauerte, wird auch keiner bestritten haben. Dass sie fruchtbar, nämlich der Ausseinandersetzung wert war, wird bezweifelt. Avicenna, Averroes, aber auch Maimonides haben die christliche Hochscholastik geprägt - nicht, weil die islamische Kultur sich nach Westen, sondern der Westen sich zum Orient hingewendet hat; zuerst im Kreuzzug, das ist wahr, aber dann in der Gelehrsamkeit. Der Westen hat sich geöffnet, um zu empfangen, aber nicht weil Averrroes und Avicenna islamische Philosophen gewesen wären, sondern weil sie gerade das nicht waren: Averroes gilt bis heute als Begründer der Lehre von den "zwei Wahrheiten". Und Maimonides war Jude.

Bereits Averroes ist freilich im Reich des Islam ziemlich wirkungslos geblieben. Und Prof. Rudolph müsste uns nicht nur zeigen, dass auch nach 1300 im Islam 'weiter philosophiert wurde', sondern dass das auf die islamische Kultur irgendeinen Einfluss gehabt hat. Und soll er nicht antworten, auch die Abendländer seien nicht alle Philosophen geworden! Philosophie hat die politisch-kulturelle Epoche der Aufklärung geprägt, und dass die den europäischen Alltag (mit Synkopen) bis heute prägt, wird er nicht bestreiten können.

Das war der Kern von Ronheimers und Frau Keleks Argument. Es kommt mir nach Prof. Rudolphs Beitrag und dem, was er weglässt, noch etwas plausibler vor.
JE