Radikalisierung in Moskau
Putin, Stalin und der Glanz der Tabakdose
von Andreas Rüesch
Rund um den Globus ist autoritären Herrschern eines gemeinsam: Sosehr ihnen die Staatsmedien täglich schmeicheln und so schwach ihre Opponenten auch erscheinen, fühlen sie sich ihrer Macht trotzdem nie wirklich sicher. 86 Prozent der Russen würden laut einer neuen Umfrage ihren Präsidenten für eine weitere Amtszeit wählen. Was braucht sich Wladimir Putin da noch zu sorgen? Und doch wirkt Putin nicht wie ein Politiker, der gelassen mit Kritik umgehen kann. Seit seiner Rückkehr in den Kreml vor drei Jahren hat er die Redefreiheit eingeschränkt, Bürgerrechtler als Agenten abgestempelt und die staatliche Propagandamaschinerie aufgerüstet. Unbarmherzig liess er den Hammer der Repression auf die Demokratiebewegung niedersausen. Deren Anführer sind heute entweder im Exil, in den Mühlen der Justiz, in ständiger Angst vor Verfolgung – oder tot wie Boris Nemzow, der letzte Woche einem Auftragsmord zum Opfer fiel. Auch wenn Putin die Tat verurteilt hat, trägt er zumindest eine Mitverantwortung, nachdem der Kreml Nemzow zuvor als Landesverräter verunglimpft und damit faktisch für vogelfrei erklärt hatte.
Rückwärts in die Stagnation
Ist es einfach Paranoia, die den Kreml dazu treibt, die mit dem Untergang der Sowjetunion errungenen Freiheiten Schritt um Schritt einzuschränken? Es steckt wohl mehr dahinter. Putins Regime verfügt über keine festgefügte Ideologie, die als Basis für seine langfristige Legitimation dienen könnte. Es macht Anleihen bei kommunistischem wie auch faschistischem Gedankengut, zelebriert Nationalstolz, Grossmachtdenken und traditionelle Werte. Aber einen Schlüssel für die Zukunft bietet all dies nicht. Um Rückhalt zu mobilisieren, muss der Kreml ständig gegen äussere und innere Feinde hetzen. Der Westen und die prowestliche Opposition geben dabei willkommene Ziele ab. Zu Beginn von Putins Herrschaft war dies noch anders. Der Präsident inszenierte sich als Modernisierer, der zwar nicht demokratisch, aber effizient für Ordnung im Lande sorgte. Ein jahrelanger Wirtschaftsboom sorgte für steigenden Wohlstand und legitimierte das System Putin.
Doch das ist Vergangenheit. Die Wirtschaft verlor in den letzten Jahren kontinuierlich an Schwung. Ab 2013 herrschte faktisch Stagnation, im laufenden Jahr wird eine Rezession erwartet. Die Situation erinnert an die späte Sowjetzeit, als der Wirtschaft des Proletarier-Paradieses buchstäblich der Atem ausging. Auch Putins Modernisierungsdiktatur ist gescheitert. Gründe dafür sind die groteske Selbstbereicherung der Elite, der verschwenderische Ausbau des Sicherheitsapparats und das Versäumnis, Russlands Abhängigkeit von Rohstoffexporten zu verringern. Wohlgemerkt hat dieses Scheitern nichts mit der Ukraine-Krise, den Sanktionen oder dem Zerfall des Ölpreises zu tun. Russlands Wirtschaft lahmte schon 2013, als der Ölpreis noch doppelt so hoch lag und nichts auf den kommenden Krieg im Donbass hindeutete. Russlands Probleme sind völlig hausgemacht. Doch mit seiner tolldreisten Aggressionspolitik hat Putin die Lage verschlimmert und steuert auf ein Debakel zu. Denn unter der Last der Kriegskosten, der Sanktionen, der rekordhohen Kapitalflucht und der Ölpreiskrise stehen Russland magere Jahre bevor.
Damit löst sich auch das eingangs erwähnte Paradox auf: Putins Rückhalt im Volk mag enorm erscheinen, aber er wird zwangsläufig erodieren, und der Kremlchef ist sich dessen zweifellos bewusst. Bereits musste die Regierung Sparmassnahmen im Sozialbereich ankündigen. Die Begeisterung für die territoriale Expansion könnte sich angesichts solcher Einschnitte rasch abkühlen. «Dafür ist die Krim unser», lautet der sarkastische Slogan, mit dem Kritiker der Militärintervention daran erinnern, wie wenig Putins desaströse Politik dem Normalbürger eingebracht hat. Aber nicht nur die kleinen Leute, auch die regimenahen Wirtschaftsmagnaten kommen nicht ungeschoren davon. Seit dem Ausbruch der Ukraine-Krise haben sie riesige Vermögenswerte verloren. Da diese Oligarchen eine Stütze des Systems Putin darstellen, kann der Präsident ihren Unmut nicht einfach ignorieren. Bereits kursieren Gerüchte, wonach sich Teile der Machtelite einen weniger konfrontativen Kremlchef als Putin wünschen.
Vor diesem Hintergrund ist der Mord an Nemzow kaum ein Zufall. Pessimisten in Russland fühlen sich an das Attentat auf den Sowjetpolitiker Sergei Kirow 1934 erinnert, das von Stalin benutzt wurde, um eine Säuberungs- welle gegen interne Rivalen auszulösen. Naheliegender ist die Vermutung, dass die Opposition demoralisiert und eingeschüchtert werden soll, bevor sie Putins Debakel politisch ausschlachten kann. Aber der Aufruf von Regime-Ideologen zum radikalen Aufräumen ist unüberhörbar, und hier scheint Stalin tatsächlich Pate zu stehen. Propagandistisch unterlegt wird dies durch die These, das prowestliche Lager habe den Mord an Nemzow selber eingefädelt.
Der Nationalist Alexander Prochanow, einer der geistigen Väter der Ukraine-Intervention, fordert den Staats- chef auf, nun die letzten prowestlichen Politiker aus der Regierung zu werfen. Es gelte, die Reste liberaler Ideologie auszumerzen, «wie einen faulen Zahn», da sie dem Land nur Krisen beschere. Und in gewohnt blumiger Sprache mahnt Prochanow, die Gänge des Kremls genau auszuleuchten: «Glänzt nicht in irgendjeman- des Hand eine goldene Tabakdose?» Es ist eine Anspielung auf die Palastrevolte gegen Zar Paul, der 1801 mit einer Schatulle erschlagen wurde – notabene von Offizieren, die im Solde Englands gestanden haben sollen. Die Botschaft ist klar: Russland und sein moderner Zar sind von Feinden umzingelt; nur hartes Durchgreifen verspricht noch Rettung.
Der Schlüssel liegt in der Ukraine
Noch vor einigen Jahren hätte man die Einflüsterungen eines Prochanow als wirres Gefasel abgetan. Doch Extremisten seines Schlages geniessen heute erheblichen Einfluss. Nach Ansicht des früheren Schachwelt- meisters Garri Kasparow kann Putin seine Herrschaft nur noch absichern, indem er innere und äussere Gegner erfindet, gegen die er die Russen zu verteidigen vorgibt. Opfer dieser zynischen Machtpolitik ist auch die benachbarte Ukraine, die laut der Moskauer Propaganda vor den Nazis gerettet werden muss. Doch die Ukraine bietet zugleich den Schlüssel dafür, wie Putin geschwächt werden kann. Während der Westen für die russischen Demokraten vorerst wenig tun kann, hat er die Chance, der prowestlichen Regierung in Kiew mit grosszügiger Unterstützung zum Erfolg zu verhelfen. Siegt die Demokratie in der Ukraine, scheitert der Putinismus an entscheidender Front. Überlässt man diesen Randstaat hingegen seinem Schicksal, so lässt man auch dem immer gefährlicheren Regime Putins freie Hand.
Nota. - Es ist zu befürchten, dass der Autor Recht hat. Putin hat keine andere Wahl mehr als die bonapartistische Karte: abenteuerliche Außenpolitik, um das Regime im Innern so lange zusammenzuhalten, wie es eben geht. Doch wenn es nicht mehr geht - was passiert dann? Auf keinen Fall wird man die Risiken mindern, wenn man ihn jetzt zu appeasen sucht. Das macht nur alles noch unberechenbarer.
JE
Hat Putin einen Plan?
aus Putins Hitler-Stalin-Pakt, 27. 12. 2014
Hat Putin einen Plan? Es ist wohl schlimmer: Er hat anscheinend keinen Plan. Doch für einen Mann ohne Plan hat er zu viel Macht. Das ist die wunde Stelle, auf die Snyder zum Glück hinweist, statt der Versuchung nachzugeben, ihn als einen finsteren, zu allem entschlossenen Erben Stalins und Iwans der Schrecklichen darzustellen.
Wenn Gerhard Schröder beteuert, Putin sei ein authentischer Demokrat, dann mag er vielleicht sogar Recht haben, aber davon hat niemand was: Eine Demokratie ist aus Jelzins WildWest-Kapitalismus nicht hervorgegangen, sondern ein bonapartistisches Regime, dem nichts anderes übrigbleibt, als zwischen den tausendfältigen gesellschaftlichen Kräften - von den Oligarchen über die Mafia und die alte Nomenklatura bis zu den wie immer stimmlosen, aber auch ruhebedürftigen Massen - hin und her zu lavieren, mit den KGB-Kadern als seiner loyalen Dezemberbande und den paar mehr oder minder intellektuellen Oppositionellen als Popanz. Wirklich repräsentativ ist dort niemand, jeder läuft seinem unmittelbarsten Vorteil nach, Parteien in einem politischen Sinn sind noch immer nicht entstanden.
Noch vor wenigen Monaten war Putins Autorität im Keller. Da bot sich ihm die Gelegenheit, die noch jeder Bonaparte ergriffen hat, um sein wankendes Regime im Innern neu zu festigen: ein auswärtiges Abenteuer, ein - nur nach außen, nicht nach innen larvierter - Krieg. Wobei der Griff nach der Krim einen guten strategischen Sinn hatte: die Seeherrschaft im Schwarzen Meer zu sichern. Dagegen sind die Scharmützel am Don völlig aus dem Ruder gelaufen. Zuerst war da der Versuch, die Ukraine als russische Satrapie auszubauen, aber der hat hervorgerufen, was es bis dahin gar nicht gab: ein ukrainisches Massennationalbewusstsein, an dem Putin nun nicht mehr vorbeikommt.
Genauso wenig kommt er jetzt aber an dem großrussischen Chauvinismus vorbei, den er zuhause entfacht hat. Was soll er bloß mit den verrosteten Stahlwerken im Donbass? Die sind keine einzige Patrone wert. Aber fahren lassen kann er sie auch nicht mehr, dann ziehn sie ihm daheim das Fell über die Ohren. Mein Gott, wenn er doch nur einen Plan gehabt hätte!
JE
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