aus nzz.ch, 29. 4. 2015 Kaiser Wilhelm II. mit Kriegsminister Enver Pascha.
Neue Forschungsliteratur über den Genozid an den Armeniern
Der erste Völkermord im 20. Jahrhundert
In einigen der neueren Bücher über den Völkermord an den Armeniern wird auch die Frage einer deutschen Mitschuld aufgeworfen.
von Edward Kanterian
Man hört immer wieder von offizieller türkischer Seite, es habe nie einen Völkermord an den Armeniern gegeben. In der heutigen Geschichtsforschung ist dies jedoch keine ernstzunehmende These, sondern ein Kapitel der Rezeptionsgeschichte des Völkermords. Und der gelegentlich zu vernehmenden (fadenscheinigen) Aufforderung, türkische und armenische Historiker sollten gemeinsam und unvoreingenommen die Geschichte erforschen, ist längst schon entsprochen worden. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür liefert die 2011 in den USA erschienene, sorgfältig recherchierte Dokumentation «Judgment at Istanbul», die von den türkischen Militärtribunalen 1919 bis 1922 handelt. Als Autoren zeichnen zwei Experten des Themas, der Türke Taner Akçam und der Armenier Vahakn Dadrian. In diesen Prozessen wurden viele der Hauptverantwortlichen des Völkermords wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu Tode verurteilt, darunter Talât Pascha und Enver Pascha. Die Prozessakten belegen, dass der Massenmord in der Türkei kurz nach dem Krieg als schändliche Tatsache galt, bevor man ihn nach der «nationalen Wiedergeburt» zu leugnen anfing.
Sechs Phasen eines Verbrechens
Noch eindrucksvoller ist die soeben in Frankreich publizierte Monografie «Comprendre le génocide des Arméniens», von einem armenischen (Raymond Kévorkian), einem türkischen (Hamit Bozarslan) und einem französischen Historiker (Vincent Duclert) verfasst. Das gewichtige Werk hat gute Chancen, zu einem Standardwerk zu avancieren, und sollte auch ins Deutsche übersetzt werden, da auf Deutsch nichts Vergleichbares existiert. Je ein Kapitel ist der Chronik der Ereignisse, den ideologischen und staatlichen Grundlagen des Massenmords und seiner Rezeptionsgeschichte gewidmet. Zitiert werden osmanische und westliche Archive, Überlebende und Zeitzeugen sowie die inzwischen sehr umfangreiche Sekundärliteratur.
Die Autoren unterscheiden sechs Phasen des Völkermords: Zuerst wurden im Februar bis im Mai 1915 armenische Soldaten in der türkischen Armee entwaffnet, in Arbeitsbataillone gesteckt und dann hingerichtet, wie schliesslich alle wehrfähigen Männer. Ende März desselben Jahres begann, zweitens, die Vernichtung der Zivilbevölkerung mit vereinzelten Deportationen sowie, in der Region Van, mit der Ermordung von 58 000 Dorfbewohnern. Drittens wurde ab dem 24. April die armenische Oberschicht im ganzen Land verhaftet und ermordet; sodann, viertens, wurden von Mai bis Juli über eine Million Frauen, Kinder und Alte aus den Ostprovinzen in die Syrische Wüste vertrieben und zum grossen Teil unterwegs massakriert. Schliesslich kam es 1916 in den Wüstenlagern in Deir ez-Zor und Ras ul-Ayn zu systematischen Massakern, deren Bestialität jede Vorstellung übersteigt. Zwischen 1,2 und 1,5 Millionen Armenier waren am Ende tot.
Waffenbrüder
In der Debatte über diesen Völkermord wird mitunter auf die deutsche Mitschuld hingewiesen. Erstaunlicherweise gab es bisher keine deutschsprachigen Publikationen zu diesem Thema. Wichtige Untersuchungen von Vahakn N. Dadrian und Christoph Dinkel aus den neunziger Jahren sind auf Englisch verfasst. Laut Dadrian waren die Deutschen zwar keine Vollstrecker des Massenmords (von einigen Ausnahmen abgesehen), aber als Alliierte und Ideengeber hatten sie eine katalysierende Wirkung auf die sich radikalisierende antiarmenische Politik im Osmanischen Reich. Dadrian wies auch auf die Politik der Nichteinmischung Wilhelms II. im Blick auf die bereits unter dem osmanischen Sultan Abdul Hamid II. begangenen Massaker hin, denen 1894 bis 1896 an die 200 000 Armenier zum Opfer fielen. Dieser Aspekt deutsch-türkischer Freundschaft blieb bis zum Völkermord während des Ersten Weltkrieges unverändert. So schrieb der deutsche Reichskanzler Bethmann-Hollweg in Dezember 1915: «Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.»
Zudem gab es laut Dadrian auf deutscher Seite sehr mächtige protürkische und antiarmenische Stimmen. Schon 1897 argumentierte Generalfeldmarschall Colmar von der Goltz, die Türkei sei gut beraten, ihren asiatischen Teil zu konsolidieren und den Kaukasus mithilfe der Turkvölker zu erobern. Auf einem Vortrag im Februar 1914 in Berlin, dem auch türkische Diplomaten beiwohnten, soll er zudem vorgeschlagen haben, die Armenier in den östlichen Provinzen des Landes nach Syrien und Mesopotamien umzusiedeln, um der Gefahr eines «Dolchstosses» zuvorzukommen. Genauso redeten und handelten die Jungtürken gegen die Armenier 1915, nur dass sie mit «Umsiedlung» die Vernichtung meinten.
Gegen Dadrian hat der britische Genozid-Experte Donald Bloxham in einem Buch von 2005 Einspruch erhoben. Für Bloxham beschränkt sich Deutschlands Mitschuld darauf, dass es nicht gegen den Massenmord intervenierte. Zwar habe das Kaiserreich die Vernichtung der Armenier akzeptiert, doch habe es selbst nicht aktiv dazu beigetragen. Eine kritischere Position bezieht Jürgen Gottschlich in «Beihilfe zum Völkermord». Der Mitbegründer der Berliner «Tageszeitung» und Türkei-Korrespondent zeigt in seinem stellenweise wie eine spannende Reportage geschriebenen Buch, wie eng die Beziehungen zwischen Schlüsselfiguren der beiden Seiten, der deutschen und der türkischen, waren. Er beschreibt etwa die Freundschaft zwischen dem osmanischen Kriegsminister Enver Pascha und dem Deutschen Hans Humann, der als Marineattaché und Agent in Konstantinopel alles tat, um Envers Paranoia gegen die Armenier zu schüren. Auf dem Höhepunkt der Deportationen im Juni 1915 berichtete der deutsche Konsul in Mosul: «Leichen und menschliche Glieder treiben seit einigen Tagen im Fluss hier vorbei.» Dazu Humann offiziell: «Die Armenier werden – aus Anlass ihrer Verschwörung mit den Russen! – jetzt mehr oder weniger ausgerottet. Das ist hart, aber nützlich.»
Ähnlich dachten andere deutsche Militärs, die höchste Positionen in der osmanischen Armee innehatten, etwa Friedrich Bronsart von Schellendorf, Generalstabschef des türkischen Heeres, und sein Operationschef Otto von Feldmann. Schellendorf schrieb 1919: «Der Armenier ist, wie der Jude, ausserhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit eines anderen Landes, in dem er sich niedergelassen hat, aufsaugt.» Beide Militärs gehörten zu den engsten Beratern Enver Paschas. Ihre Rolle bei der Planung der Deportationen ist bis heute nicht geklärt, da die relevanten Sitzungsprotokolle fehlen. Ein Versuch Gottschlichs, entsprechende Dokumente im Militärarchiv in Ankara einzusehen, wurde abgeblockt.
Rettungsversuche des Papstes
Gottschlich bemängelt zu Recht, dass deutsche Historiker den Völkermord an den Armeniern bisher zu wenig erforscht haben. Aber es werden mehr. Michael Hesemanns Buch «Völkermord an den Armeniern» ist eine gut lesbare Gesamtdarstellung nicht nur des Genozids von 1915/16, sondern auch der anderen türkischen Verbrechen an den Armeniern, sowohl jener unter Sultan Abdul Hamid II. als auch der weniger bekannten unter Atatürk (1920/21) begangenen. Der Autor hat im Vatikanischen Geheimarchiv Hunderte von unbekannten Dokumenten entdeckt, die das schreckliche Ausmass des Völkermords bezeugen. Er führt vor Augen, dass auch der Papst schon bald über die Vernichtung der Armenier Bescheid wusste und sein Möglichstes für deren Rettung unternahm – ohne Erfolg.
Zwar versuchte die Hohe Pforte die Geschehnisse zu vertuschen. Doch selbst auf diplomatischer Ebene vermochten die Osmanen ihren Hass gegen die Armenier nicht zu unterdrücken, wie ein Brief von Sultan Mehmet V. an Benedikt XV. belegt. Darin werden die armenischen Politiker eines «Dolchstosses» «in Rücksprache mit unseren Feinden» bezichtigt, der es «unseren Behörden praktisch unmöglich [machte], einen Unterschied zwischen dem friedlichen und dem aufrührerischen Element zu machen», und eine «generelle Umsiedlung» erzwungen habe. Die Türkei hält bis heute an dieser Sichtweise fest, noch immer de facto unterstützt von einer deutschen Politik der «Nichteinmischung».
Hamit Bozarslan, Vincent Duclert, Raymond H. Kévorkian: Comprendre le génocide des arméniens – 1915 à nos jours. Editions Tallandier, Paris 2015. 495 S., € 21.50.
Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier. Verlag Christoph Links, Berlin 2015 344 S., Fr. 27.90.
Michael Hesemann: Völkermord an den Armeniern. Herbig, München 2015. 352 S., Fr. 39.90.
Donnerstag, 30. April 2015
Mittwoch, 29. April 2015
Rückkehr des Sozialistischen Realismus?
aus nzz.ch, 28.4.2015, 05:30 Uhr
Zensur in Putins Russland
Zurück zum sozialistischen Realismus?
von Oliver Bilger
Auf Moskauer Bahngleisen wird die Leiche eines jungen Knaben: nackt, der Bauch aufgeschlitzt, der Mund vollgestopft mit Erde. Der Geheimdienstoffizier Leo Demidow soll den Fall im Jahr 1953 rasch zu den Akten legen, seine heimlichen Nachforschungen führen ihn jedoch bald auf die Spur eines Serienmörders. Die Obrigkeit will die Taten vertuschen – die Verbrechen passen nicht in die stalinistische Sowjetunion. Das ist die Handlung des Kriminalromans «Child 44» des Briten Tom Rob Smith. Hollywood hat die Geschichte gerade verfilmt* – doch der Film passt nicht in Putins Russland. So wie manch andere Kulturdarbietung.
«Verzerrte Tatsachen»
Seit vorletzter Woche sollte der Film in russischen Kinos laufen. Kurz vor der Premiere aber stoppten Verleih und Kulturministerium alle Vorführungen. In der Kritik steht die «Verzerrung historischer Tatsachen». Der Film stelle die UdSSR dar wie Mordor, erklärte Kulturminister Wladimir Medinski, die Brutstätte des Bösen in Tolkiens «Herr der Ringe», voller körperlich und moralisch minderwertiger Untermenschen. «Child 44» sei es nicht wert, in der Zeit der 70-Jahr-Feier des Sieges über Hitlerdeutschland gezeigt zu werden. Der 9. Mai ist in Russland höchster und zugleich identitätsstiftender Feiertag. Angesichts des Ukraine-Konflikts und der gestörten Ost-West-Beziehung ist er wichtiger denn je. Aber schon seit längerem feilt der Kreml am Geschichtsbild des Landes, unter Putin ist eine Rehabilitierung des Stalinismus in Gang gekommen. Medinski selbst war vor seinem Ministeramt Mitglied der berüchtigten Kommission «zur Verhinderung von Versuchen der Geschichtsfälschung zum Nachteil der Interessen Russlands».
«Child 44» war, anders als der Bestseller aus dem Jahr 2008, bereits vorab bei der Kritik durchgefallen. Das Verbot bescherte dem Film in Russland eine Aufmerksamkeit, die er im Kino kaum erlangt hätte. Gleichzeitig kamen Zensurvorwürfe auf. Künstler und Kunstschaffende sehen in dem Vorgehen des Ministeriums einen Angriff auf ihre Freiheiten. In einer Gesellschaft müsse es erlaubt sein, Geschichte unterschiedlich darzustellen, erklärte die Bürgerrechtlerin Ljudmila Alexejewa. Das Kulturministerium steht nicht zum ersten Mal in der Kritik. Ende März sorgte Medinski für die Absetzung einer «Tannhäuser»-Inszenierung am Opernhaus von Nowosibirsk, da orthodoxe Christen sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt sahen. Die Oper in der sibirischen Metropole zählt zu den wichtigsten Bühnen des Landes. Dort hatte der Jungregisseur Timofei Kuljabin die Handlung des Wagner-Klassikers in die Neuzeit verlegt: Tannhäuser ist ein Filmregisseur, der ein provokantes Werk präsentiert, mit Jesus Christus im Venusberg. Die Kirche klagte wegen Blasphemie. Der Vizekulturminister nannte die Szenen in einem von Staatsgeldern finanzierten Theater «unzulässig». Am Ende musste der Direktor des Hauses seinen Posten räumen, er wird durch einen regierungsfreundlichen Intendanten ersetzt.
Hetze und Klagen gegen Künstler sind in Russland nicht neu, doch in letzter Zeit häufen sich die Fälle. Die Kirche, in Putins konservativ-patriotischer Gesellschaft ohnehin eine wichtige Machtstütze, übernimmt dabei eine tragende Rolle: Gemeinsam mit Staatsanwaltschaft und Behörden geht man rasch gegen unliebsame Kunst vor.
Umstritten bei Kirchentreuen und Patrioten war zu Jahresbeginn auch der Golden-Globe-Gewinner und Oscar-nominierte Film «Leviathan». Hardliner sahen darin vor allem eine Kritik am System Putin, obwohl Regisseur Andrei Swjaginzew betonte, das Werk sei universell und könne überall spielen. Auch Minister Medinski schaltete sich in die Diskussion ein und meinte, die russische Realität werde falsch dargestellt, im Film wehe der «Geist der Ausweglosigkeit und Sinnlosigkeit unseres Daseins». Sein Ressort will künftig keine Filme mehr unterstützen, die die Staatsmacht «bespucken». Der Regisseur Swjaginzew erklärte, Medinski sehe Filme als ideologisches Instrument. Patriotismus aber, der dunkle und problematische Bereiche der Gesellschaft verschleiere, hält der Filmemacher für ignorant und unaufgeklärt.
Alte und neue Hebel des Staates
Russische Künstler fürchten, die Staatsführung wolle nach Politik und Medien nun den Kulturbetrieb gleichschalten. Sie sehen Russland auf dem Weg zurück in Zeiten des sozialistischen Realismus. Die Ideologie der Sowjetzeit rückte positive Themen aus dem sozialistischen Alltag in den Vordergrund – und schuf eine konfliktfreie Kunst im Dienst der stalinistischen Gesellschaftstheorie.
Dazu braucht es heute keine offizielle Zensur. In den vergangenen Jahren verschärfte Russland Gesetze, die offiziell zum Schutz religiöser Gefühle sowie Minderjähriger dienen sollen; neu verbannt eine weitere Vorschrift Vulgärsprache und Flüche aus Fernsehen, Kino, Literatur sowie von Theater- und Konzertbühnen. Es sind Hebel des Staates, auf Unliebsames einwirken zu können und eine kulturelle Agenda vorzugeben. Künstler setzen mit umstrittenen Projekten ihre Finanzierung auf Spiel, denn in vielen Fällen entscheidet der Staat über die Unterstützung. 95 Milliarden Rubel (knapp 1,7 Milliarden Franken) betrug das Kulturbudget 2014. Im Zug der Wirtschaftskrise wurde es um zehn Prozent gekürzt. In anderen Fällen raten Offizielle privaten Geldgebern von einer Unterstützung ab. All das verleitet zur Selbstzensur.
Der Staat drängt offenbar auf weitere Kontrolle. Magomedsalam Magomedow, stellvertretender Chef der Präsidialverwaltung, meint, Experten sollten die Aufführungen, insbesondere an Staatstheatern, überprüfen, um neue Skandale zu vermeiden. Gezeigt werden sollten Inhalte, die die Menschen zusammenschweissten, statt die Gesellschaft zu spalten. In der Kulturszene wachsen aufgrund solcher Äusserungen die Sorgen. Im Fall der «Tannhäuser»-Inszenierung schrieben Intellektuelle und Kreative in Nowosibirsk an den dortigen Gouverneur, kirchliche Zensur habe schon oft zu einer Verarmung der Kunst geführt. Jeder Künstler habe das Recht, Glaubensfragen selbst zu interpretieren. Russlands Verband alternativer Filmschaffender warf Medinski eine «Antikulturpolitik» vor und forderte seinen Rücktritt: Er habe mehrfach gegen die russische Verfassung verstossen, in der die Kunstfreiheit festgeschrieben sei.
Der Minister widerspricht allen Zensurvorwürfen und erklärt, er sei gegen jedes Verbot von Kreativität. Selbst der «Tannhäuser» könnte in der nächsten Saison wieder in den Spielplan aufgenommen werden, wohl aber in einer überarbeiteten Version. Auch soll das Verbot für den Film «Child 44» nicht für den DVD-Verkauf gelten. Das Kulturministerium will das Werk sogar auf seinem eigenen Internetportal zugänglich machen. Begleitet von detaillierten kritischen Kommentaren russischer Historiker von seinen Gnaden.
*) Eine erste - sehr gute - Verfilmung mit Donald Sutherland in der Hauptrolle geschah 1995 unter dem Titel Citizen X. JE
Nota. - Beachten Sie: Sozialistisch-realistisch ist lediglich die obige Skulptur; der Sockel jedoch (s. ganz oben) ist ein markanter Eintrag in das tragische Kapitel Sowjetmoderne.
JE
Samstag, 18. April 2015
Nicht die Not, sondern der Überfluss.
aus derStandard.at, 25. Dezember 2014, 18:25
Die Weltreligionen erwuchsen aus einem neuen Überfluss
Nicht politisch komplexe Gesellschaftsstrukturen, sondern materielle Sicherheit ließen die großen Religionen entstehen
Paris - Die Wurzeln der Weltreligionen, wie wir sie heute kennen, reichen weit in die Zeit zurück. Buddhismus, Islam, Hinduismus, Judaismus und damit auch das Christentum basieren auf einem Spiritualismus, auf asketischen Lebensregeln und moralischen Prinzipien, die unabhängig voneinander in drei unterschiedlichen Regionen Eurasiens auftraten. Dieses parallele Erblühen neuer religiöser Denkrichtungen wurde bedingt durch die Entstehung von großen, politisch komplexen Gesellschaften, so zumindest lautet die gängige Annahme. Eine Gruppe von Wissenschaftern sieht dies allerdings anders: Auf Basis eines komplizierten statistischen Modells, kombiniert mit historischen und psychologischen Daten, kamen sie zu dem Schluss, dass es der verbesserte Lebensstandard war, der den grundlegenden Wandel im Denken herbeführte.
Heute erscheint es selbstverständlich, dass Religion auf spirituellen und moralischen Ideen und Regeln basiert. Doch das war nicht immer so. Unter Jägern und Sammlern und frühen Stammesgesellschaften etwa drehte sich Religion vor allem um Rituale, Opfergaben, Tabus und Kulthandlungen, die Böses oder allgemeines Unglück abwehren sollten. Zwar findet man all das auch bei den heutigen Religionen mehr oder weniger ausgeprägt, doch kamen in der Zeit zwischen 500 und 300 vor unserer Zeitrechnung wesentliche Element neu dazu. Während dieser sogenannten Achsenzeit wurde unter anderem das Fundament der modernen religiösen Vorstellungen gelegt - und zwar unabhängig voneinander im östlichen Mittelmeergebiet, auf dem indischen Subkontinent und im heutigen Nordost-China.
Askese statt täglicher Kampf ums Überleben
"Die neuen Doktrinen, die damals entstanden, betonten erstmals die individuelle Fähigkeit zur 'persönlichen Transzendenz', also die Vorstellung, dass es für den Menschen unabhängig vom materiellen Erfolg einen Lebenssinn gibt", meint Nicolas Baumard von der Ecole Normale Supérieure in Paris. "Die Grundlagen liegen in moralischem Verhalten und die Kontrolle der eigenen materiellen Bedürfnisse durch Entsagung und mitfühlendes Handeln."
Bisher war der Großteil der Fachwelt der Meinung, große Gesellschaften bildeten diese moralisierenden Religionen heraus, weil das ihr Funktionieren wesentlich verbessern würde. Doch Baumard und seine Kollegen widersprechen und nennen das Alte Ägypten oder das römische Imperium als Gegenbeispiele. In diesen hochorganisierten Gesellschaften spielten vielfach quasi "nicht-moralische" Götter wichtige Rollen.
Im Rahmen ihrer Studie, die im Fachjournal "Current Biology" erschienen ist, kombinierten die Forscher statistische Methoden mit psychologischen Theorien, die auf Experimenten basieren. Es zeigte sich, dass erst ein gewisser Überfluss an Ressourcen, die unmittelbar lebenswichtig sind, zu den grundlegenden Veränderungen im Denken geführt hatte. Nach den Berechnungen der Wissenschafter kam es in den antiken Gesellschaften zu einem geradezu plötzlichen Erblühen neuer religiöser Denkrichtungen, sobald den einzelnen Mitgliedern eine tägliche Energieration von rund 20.000 Kilokalorien zur Verfügung stand. Etwa ab diesem Wert könne man von einer gewissen materiellen Existenzsicherheit sprechen, die auch eine Planung etwa der Nahrungsmittel- versorgung über die unmittelbare Zukunft hinaus ermöglichte, glaubt Baumard.
Neuer Seelenfriede
"Das mag zwar heute immer noch recht bescheiden klingen, doch damals war dieser 'Seelenfriede', der mit einem solchen Überfluss einhergeht, völlig neu", erklärt Baumard. "Die Menschen der Stammesgesellschaften, ja selbst der archaischen Großreiche, erlebten regelmäßige Hungersnöte und verheerende Seuchenausbrüche. Erst als während der Achsenzeit die Bevölkerung anwuchs und die Urbanisierungsrate stieg, brachen zumindest für einige Gesellschaftsschichten bessere Zeiten an."
Die Wissenschafter fanden Hinweise, dass dieser Übergang mit einem Wandel zusammenfällt, der von einer "schnellen", ausschließlich auf die unmittelbar Bedürfnisbefriedigung ausgerichtete Lebensweise zu einer Existenz führte, die auf längerfristige Investitionen ausgerichtet ist. (tberg)
Die Weltreligionen erwuchsen aus einem neuen Überfluss
Nicht politisch komplexe Gesellschaftsstrukturen, sondern materielle Sicherheit ließen die großen Religionen entstehen
Paris - Die Wurzeln der Weltreligionen, wie wir sie heute kennen, reichen weit in die Zeit zurück. Buddhismus, Islam, Hinduismus, Judaismus und damit auch das Christentum basieren auf einem Spiritualismus, auf asketischen Lebensregeln und moralischen Prinzipien, die unabhängig voneinander in drei unterschiedlichen Regionen Eurasiens auftraten. Dieses parallele Erblühen neuer religiöser Denkrichtungen wurde bedingt durch die Entstehung von großen, politisch komplexen Gesellschaften, so zumindest lautet die gängige Annahme. Eine Gruppe von Wissenschaftern sieht dies allerdings anders: Auf Basis eines komplizierten statistischen Modells, kombiniert mit historischen und psychologischen Daten, kamen sie zu dem Schluss, dass es der verbesserte Lebensstandard war, der den grundlegenden Wandel im Denken herbeführte.
Heute erscheint es selbstverständlich, dass Religion auf spirituellen und moralischen Ideen und Regeln basiert. Doch das war nicht immer so. Unter Jägern und Sammlern und frühen Stammesgesellschaften etwa drehte sich Religion vor allem um Rituale, Opfergaben, Tabus und Kulthandlungen, die Böses oder allgemeines Unglück abwehren sollten. Zwar findet man all das auch bei den heutigen Religionen mehr oder weniger ausgeprägt, doch kamen in der Zeit zwischen 500 und 300 vor unserer Zeitrechnung wesentliche Element neu dazu. Während dieser sogenannten Achsenzeit wurde unter anderem das Fundament der modernen religiösen Vorstellungen gelegt - und zwar unabhängig voneinander im östlichen Mittelmeergebiet, auf dem indischen Subkontinent und im heutigen Nordost-China.
Askese statt täglicher Kampf ums Überleben
"Die neuen Doktrinen, die damals entstanden, betonten erstmals die individuelle Fähigkeit zur 'persönlichen Transzendenz', also die Vorstellung, dass es für den Menschen unabhängig vom materiellen Erfolg einen Lebenssinn gibt", meint Nicolas Baumard von der Ecole Normale Supérieure in Paris. "Die Grundlagen liegen in moralischem Verhalten und die Kontrolle der eigenen materiellen Bedürfnisse durch Entsagung und mitfühlendes Handeln."
Bisher war der Großteil der Fachwelt der Meinung, große Gesellschaften bildeten diese moralisierenden Religionen heraus, weil das ihr Funktionieren wesentlich verbessern würde. Doch Baumard und seine Kollegen widersprechen und nennen das Alte Ägypten oder das römische Imperium als Gegenbeispiele. In diesen hochorganisierten Gesellschaften spielten vielfach quasi "nicht-moralische" Götter wichtige Rollen.
Im Rahmen ihrer Studie, die im Fachjournal "Current Biology" erschienen ist, kombinierten die Forscher statistische Methoden mit psychologischen Theorien, die auf Experimenten basieren. Es zeigte sich, dass erst ein gewisser Überfluss an Ressourcen, die unmittelbar lebenswichtig sind, zu den grundlegenden Veränderungen im Denken geführt hatte. Nach den Berechnungen der Wissenschafter kam es in den antiken Gesellschaften zu einem geradezu plötzlichen Erblühen neuer religiöser Denkrichtungen, sobald den einzelnen Mitgliedern eine tägliche Energieration von rund 20.000 Kilokalorien zur Verfügung stand. Etwa ab diesem Wert könne man von einer gewissen materiellen Existenzsicherheit sprechen, die auch eine Planung etwa der Nahrungsmittel- versorgung über die unmittelbare Zukunft hinaus ermöglichte, glaubt Baumard.
Neuer Seelenfriede
"Das mag zwar heute immer noch recht bescheiden klingen, doch damals war dieser 'Seelenfriede', der mit einem solchen Überfluss einhergeht, völlig neu", erklärt Baumard. "Die Menschen der Stammesgesellschaften, ja selbst der archaischen Großreiche, erlebten regelmäßige Hungersnöte und verheerende Seuchenausbrüche. Erst als während der Achsenzeit die Bevölkerung anwuchs und die Urbanisierungsrate stieg, brachen zumindest für einige Gesellschaftsschichten bessere Zeiten an."
Die Wissenschafter fanden Hinweise, dass dieser Übergang mit einem Wandel zusammenfällt, der von einer "schnellen", ausschließlich auf die unmittelbar Bedürfnisbefriedigung ausgerichtete Lebensweise zu einer Existenz führte, die auf längerfristige Investitionen ausgerichtet ist. (tberg)
Abstract
Current Biology: "Increased Affluence Explains the Emergence of Ascetic Wisdoms and Moralizing Religions"
Current Biology: "Increased Affluence Explains the Emergence of Ascetic Wisdoms and Moralizing Religions"
Freitag, 17. April 2015
Dein Geruch ist deine Körpersprache.
aus nzz.ch, 17.4.2015, 05:30 Uhr
Düfte und ihre Bedeutung
Interview: Kathrin Klette
Auf der philippinischen Insel Bohol hat Reinheit eine besondere Bedeutung, vor allem die des Körpers. Laut der Forscherin Bettina Beer, die am Samstag an einer Basler Tagung über Gerüche auftritt, wird dort viel über Düfte kommuniziert.
Frau Beer, Sie betreiben seit über 20 Jahren ethnologische Feldforschung auf der philippinischen Insel Bohol, unter anderem über Gerüche. Wie riecht Bohol?
Sehr intensiv. Wenn ich dort aus dem Flugzeug steige, schlägt mir sofort ein Schwall warmer, tropischer Luft entgegen. Auf Bohol sind die Gerüche stärker als hier. Das liegt an der hohen Luftfeuchtigkeit, wodurch zum Beispiel Früchte schneller faulen. Auch tote Ratten oder Hunde, die am Wegesrand liegen und natürlich enorm stinken, gehören dort zum Alltag.
Bettina Beer, Ethnologin in Luzern.
Aber welche Erkenntnisse gewinnt man aus der Beschäftigung mit dem Geruch toter Ratten und fauliger Früchte?
Man lernt, dass die Sinne in anderen Kulturen eine andere Bedeutung haben können. Wenn wir über Düfte sprechen, vergleichen wir. Auf Bohol gibt es für viele Gerüche dagegen eigene Wörter: «angso» für den Geruch von Urin, «langsa» für den von Fisch. Das deutet darauf hin, dass generell mehr über Gerüche kommuniziert wird und deshalb auch deren genaue Benennung wichtiger ist. Im Westen steht ja das Sehen an erster Stelle; erst seit den frühen neunziger Jahren beschäftigen sich die Ethnologen mit dem Riechen.
Wie gehen Sie bei Ihrer Arbeit vor?
Ich nehme am Alltag der Einwohner teil und beobachte. Seit Jahren habe ich Kontakt zu einer Familie, die ich immer wieder besuche. Oft verbringe ich Wochen, manchmal Monate mit ihnen: Ich schlafe in ihrer Hütte, esse mit ihnen, bin bei Festen dabei. Dabei ist mir aufgefallen, dass auf Bohol Gerüche dazu dienen, soziale Beziehungen und ethnische Unterschiede zu markieren.
Können Sie Beispiele dafür nennen?
Vor allem mit Weissen wird ein genuin unangenehmer Geruch assoziiert, und auch die Familie, die ich immer wieder besuche, gilt als übelriechend, weil sie den Ati angehört, einer ethnischen Minderheit. Sie bemühen sich gerade deshalb, besonders sauber zu erscheinen: Sie waschen sich morgens und abends und legen viel Wert darauf, jeden Tag ein frisches, oft sogar ein weisses T-Shirt anzuziehen. Dabei ist regelmässiges Wäschewaschen unter ihren Bedingungen wirklich schwierig. Ein Shampoo-Fläschchen ist für sie Luxus und gilt als modern. Viele benutzen auch Weichspüler – aber nicht, weil die Wäsche weich werden soll, sondern weil sie den Geruch so gerne mögen.
Warum hat der Geruch auf Bohol eine so grosse Bedeutung?
Ein übler Geruch wird mit einer schlechten Moral assoziiert. Wie jemand riecht, ist deshalb wichtiger als dessen Kleidung und Auftreten. Reinheit wird dort in einem sehr weiten Sinne verstanden: Auch der Haushalt muss sauber sein, und manche verbrennen täglich alte Blätter und Abfälle im Garten, damit alles aufgeräumt erscheint. Auf Bohol ist es völlig normal, jemanden auf seinen Geruch anzusprechen, sogar Fremde.
Bei uns wäre das ja ein Fauxpas.
Ja, das hat mich zuerst auch irritiert. Eine Weile habe ich auf Papua-Neuguinea geforscht, das noch nicht so verwestlicht ist. Dort habe ich tagelang mit einer Frau zusammengearbeitet, ohne dass wir uns waschen konnten. Irgendwann sagte sie: «Du riechst stark.» Das war mir sehr unangenehm. Sie aber sagte, sie würde mich nun erst richtig kennen lernen. Sie fand, dass Weisse durch Deodorants und Parfums ihre Persönlichkeit zurückhalten und gewissermassen unehrlich sind, indem sie ihren natürlichen Körpergeruch verstecken.
Am Freitag und Samstag findet im Museum Tinguely in Basel ein interdisziplinäres Symposium über Gerüche statt. Es ist öffentlich und der Besuch kostenlos.
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.
Mittwoch, 15. April 2015
Die legendären Seevölker sind - eine Legende.
Wissenschaftler des Sonderforschungsbereichs RessourcenKulturen für neue Erkenntnisse zur biblischen Archäologie ausgezeichnet
Jesse Millek, Doktorand des Sonderforschungsbereichs 1070 RessourcenKulturen an der Universität Tübingen, widerlegt in seiner Forschungsarbeit die bis heute in der biblischen Archäologie vieldiskutierte These, dass Seevölker aus dem nördlichen Mittelmeerraum für den Kollaps der Reiche in der Levante am Ende der Bronzezeit verantwortlich waren. Als Evidenz für diese Seevölker – Theorie gilt eine Inschrift aus dem Totentempel von Ramses dem III in Medinet Habu aus dem Jahr 1180 v.Chr., auf der die Invasion von Fremden, die über das Meer kamen, als Grund für den Niedergang ägyptischer Nachbarreiche genannt wird. Daraus leitete die bisherige archäologische Forschung ab, Seevölker aus dem Mittelmeerraum seien auch für den ökonomischen Kollaps in der Levante verantwortlich gewesen.
Nach neuesten Erkenntnissen spricht jedoch einiges dafür, dass die Ursachen für den starken Rückgang des Handels viel komplexer sind als bisher angenommen und eher auf einen internen, gesellschaftlichen Umwälzungsprozess und auf einen veränderten Umgang mit Ressourcen zurückzuführen sind. Die Dokumentationen archäologischer Grabungen an 16 Fundorten der Region werden in der Forschungsarbeit des SFB 1070 kritisch neu bewertet und ausdifferenziert. Ein Beispiel ist die Fundstätte Lachisch, 44 Kilometer südwestlich von Jerusalem, eine der größten und bedeutendsten Fundstätten der Levante.
In früheren Grabungen wurden in der spätbronzezeitlichen Zerstörungsschicht 7 die ausgebrannten Überreste eines Tempels und eines Gebäudes entdeckt. Diese Funde interpretierte man in Untersuchungen als Hinweise auf eine kriegerische Auseinandersetzung mit den Seevölkern. Die kritische Neubetrachtung der Grabungsdokumentation zeigt, dass bei der initialen Interpretation einige Faktoren übersehen wurden.
„Der bronzezeitliche Gebäudebrand in Lachisch begann nachweislich im Küchenbereich – auch in der Bronzezeit gab es ganz alltägliche Ursachen für Zerstörungen“, berichtet Jesse Millek. „Der Tempel weist keinerlei Vandalismus und keine Anzeichen von Schatzräuberei auf und wurde vor der Zerstörung vollständig geräumt. Alles deutet auf eine kultische Stilllegung der Stätte hin. Die heiligen Gegenstände wurden geordnet und systematisch entfernt. Der Standort des Tempels blieb dennoch als heilige Stätte tabu, auch in späterer Zeit.“ Die geordnete Stilllegung von Heiligtümern deutet auf einen veränderten Umgang mit spirituellen Ressourcen und eine kulturelle Neuordnung von Werten innerhalb der Gesellschaft hin. In der weiteren Forschungsarbeit soll nun geklärt werden, inwieweit der Rückgang des Handels mit diesem Wertewandel zusammen hängt.
Jesse Millek studierte zunächst Archäologie und Kunstgeschichte in New York und Leiden. Seit 2013 ist er Doktorand im SFB RessourcenKulturen an der Universität Tübingen und untersucht unter Leitung von Professor Jens Kamlah die Ressourcenkontrolle am Übergang von der Bronze- zur Eisenzeit im Ostmittelmeerraum. Vor allem der Niedergang des Handels in der Spätbronzezeit in Israel und den umliegenden Ländern steht dabei im Forschungsinteresse.
Professor Jens Kamlah, Leiter des Teilprojekts A06, hebt die Bedeutung der Widerlegung der Seevölkerthese hervor: „Ziel unserer Forschung ist es, dem alten, stark vereinfachenden Modell die Beweise zu entziehen. Hierzu leistet die Arbeit von Jesse Millek einen wichtigen Beitrag. Der Zeitraum, den wir untersuchen, ist ausschlaggebend für die Entstehung des alttestamentarischen Israels, wie wir es aus der Bibel kennen. Das Aufzeigen der verschiedenen Gründe und komplexen wirtschaftlichen Zusammenhänge für den Handelsrückgang kann neue Einblicke in diese wichtige Epoche leisten.“
Für seine Forschung wurde Jesse Millek mit dem Sean W. Dever Memorial Prize ausgezeichnet. Der Preis wird jährlich für bahnbrechende Veröffentlichungen im Bereich syro-palästinischer und biblischer Archäologie vergeben. Das William F. Albright Institute of Archaeological Research in Jerusalem honoriert damit einen innovativen Forschungsansatz.
http://www.aiar.org/announcing-winner-of-sean-w-dever-memorial-prize-2015/
Kontakt:
Alexandra Niskios, M.A.
Universität Tübingen
Pressestelle des Sonderforschungsbereichs 1070 Ressourcen Kulturen
Telefon +49 7071 29 73586
alexandra.niskios[at]uni-tuebingen.de
www.sfb1070.uni-tuebingen.de
Publikation:
Jesse Millek: “Sea Peoples, Philistines, and the Destruction of Cities: A Critical Examination of Destruction Layers ‘Caused’ by the ‘Sea Peoples’”—
presented on 4 November 2014 at the conference “The Sea Peoples Up-To-Date: New Research on the Migration of Peoples in the 12th Century BCE,” in Vienna.
Bild oben: nach der Siegesstele Ramses' III.
Montag, 13. April 2015
De mortuis nil nisi bene.
Dann sag ich wohl besser nichts.
P.S. Obiger Satz ist nun doch missverstanden worden. Ich wollte nur sagen - der Mann hat sein' Lebtag so feste selbst die Trommel gerührt, dass für seine Nachrufer nichts übrig geblieben ist.
Samstag, 11. April 2015
Der Schweizer Sonderweg.
aus nzz.ch, 10.4.2015, 13:53 Uhr
Thomas Maissens Aufklärungsbuch zur helvetischen Historie
Geschichte und Heldengeschichten
von Francisca Loetz
Wir brauchen sie offenbar, unsere Helden. Besorgt werden Jugendliche in Umfragen nach ihren Vorbildern befragt. Besorgt beklagen einige Kreise, dass den Schweizern das Wissen um die Helden ihrer Geschichte abhandenkomme. Wie gut, dass auch Thomas Maissen, der ausgewiesene Kenner der politischen Geschichte der Schweiz, danach fragt, was hinter den Heldengeschichten der kollektiven Erinnerung steckt. Der Verlag Hier und Jetzt kommt mit Maissens Buch im Jahr der vielen Nationaljubiläen punktgenau auf den Markt. Der Autor rührt an heikle Aspekte des Schweizer Selbstverständnisses. Er wagt es, die Topoi von der Schweiz als Sonderfall – einer Schweiz, die inmitten eines feindlichen Umfelds dank dem wehrhaften und solidarischen Zusammenhalt ihrer Bürger über Jahrhunderte hinweg einzigartige Freiheiten zu erringen und zu behaupten gewusst habe – auf ihren historischen Gehalt zu überprüfen. Er erklärt, wie die «Narrative» entstanden und verbreitet worden sind, in denen die Schweiz als David tapfer und erfolgreich gegen Goliath, gegen die Nachbarn, kämpft. Wo in der Erinnerungspolitik erfunden, geschönt und verdrängt worden ist und weiterhin wird, darüber klärt Maissen auf.
Eine Inventur
Maissen geht mit journalistisch geübter Feder fern jeglicher Polemik ans Werk. Den Kapiteln sind Zitate von Christoph Blocher und eines von Ueli Maurer* vorangestellt, in denen die Politiker mit ihrer Sicht der Schweizer Geschichte zu Wort kommen. Den Zitaten stellt Maissen die historischen Quellen und den gegenwärtigen Forschungsstand gegenüber. Nüchtern trägt er zusammen, was die Geschichtswissenschaft an Entmythologisierung der grossen Erzählungen geleistet hat und was man ausführlicher in seinem 2010 erschienenen Buch «Geschichte der Schweiz» nachlesen kann. Von dem, was manche noch aus ihren Schulzeiten kennen und was uns einige Politiker glauben machen wollen, bleibt wenig übrig: Der offen geschlossene Bund von 1291 hat mit dem romantisierten heimlichen Rütlischwur nichts zu tun. Wilhelm Tell, so ruft Maissen in Erinnerung, ist eine Erfindung des 15. Jahrhunderts. Die Erzählung von den solidarischen Eidgenossen löst sich angesichts der vielen Quellen auf, welche die wechselnden Bündnisse und Konflikte dokumentieren, in denen die Eidgenossen ihre je eigenen Interessen verfolgten. Die seit Marignano geschickt verfochtene Neutralität und die 1648 intelligent errungene Unabhängigkeit sind nicht mehr als Erfolgsgeschichte zu verkaufen.
Die Unterlegenheit der schweizerischen Kriegstechnologie ab 1515 zwang zur Neutralität. Im Westfälischen Frieden sagte sich nicht die Schweiz vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation los, sondern wurde der Eidgenossenschaft dank französischer Einflussnahme das reichsrechtliche Privileg gewährt, nicht mehr dem Reichsgericht zu unterstehen. Es waren die Konkurrenten des Reichs, welche diese Regelung als Anerkennung der Schweizer Souveränität uminterpretierten, obwohl dafür jegliche völkerrechtliche Grundlage fehlte. Die altehrwürdige direkte Demokratie, sie entwickelt sich mühsam aus dem Kampf rechtlich ungleicher Einwohner für ihre Bürgerrechte und schliesst bis 1971 (auf Bundesebene) Frauen aus. Die Bundesverfassung verliert den Glanz des nationalen Einigungsaktes. Zermürbende, jahrzehntelange Bürgerkriege mussten die Einwohner der Schweiz erst dazu bringen, sich kriegsmüde zur Nation zusammenzuschliessen. Die friedliche Insel im Europa der Weltkriege des 20. Jahrhunderts verliert als Land, das die Krisensituation für Kriegsgewinne nutzt und antisemitische wie kriegsverlängernde politische Entscheidungen fällt, ihre Unschuld.
Rütliwiese
Lässt Maissen denn gar kein gutes Haar an den Schweizer Heldengeschichten? Diese Frage ist falsch gestellt. Als seriöser Wissenschafter sieht Maissen davon ab, «die» Schweizer Geschichte moralisch zu bewerten oder politisch zu instrumentalisieren. Es geht darum, die populären Heldengeschichten als selbstgefällige Geschichten aufzudecken, die den Stand der historiografischen Forschung schlichtweg ignorieren.
Frei von schulmeisterlichem Gestus beherrscht Maissen die Kunst, Dinge sprachlich auf den Punkt zu bringen. Hier nur ein Beispiel: «Tatsächlich hat die Eidgenossenschaft seit bald 500 Jahren alle Schlachten verloren, die sie gegen äussere Mächte führte. Ihr Glück war bloss, dass es nicht viele waren.» Wiederholt vergleicht er schweizerische Verhältnisse der Vergangenheit mit den zeitgenössischen Verhältnissen in den Nachbarländern oder mit heutigen politischen Konstellationen. Das macht seine Argumentation anschaulich, lebendig und nachdenkenswert.
Glaube und Irrglaube
Maissen hat bei all seinem Engagement für Schweizer Geschichte allerdings einige Chancen, die sich vom Thema her angeboten hätten, verpasst. Dass er seine Argumentation als eine wissenschaftlich begründete Replik auf die von Nationalkonservativen verbreiteten Geschichtsbilder anlegt, bedingt, dass er sich auf deren enges Verständnis von politischer Geschichte einschränkt. Er hätte jedoch die Verflechtung der Schweiz mit den Nachbarländern und den jeweiligen Grossmächten nicht nur auf der politischen, sondern auch auf der wirtschaftlichen und kulturellen Ebene stärker herausarbeiten können, wie es André Holenstein in seinem im letzten Herbst erschienenen «Mitten in Europa» tut. Auch hätte es auf der Hand gelegen, die Frage, was hinter Heldengeschichten steckt, selbst infrage zu stellen: Hat bzw. braucht Geschichte überhaupt Helden? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht?
So radikal geht Maissen nicht vor. Er tastet das landläufige Verständnis, was Geschichte sei, nicht an. Politische Geschichte erscheint weiterhin als die Heldin der Geschichtsschreibung. Maissen verweist zwar in seiner Einleitung auf Schweizer Geschichten im Plural, meint aber damit unterschiedliche Interpretationen der nationalen Geschichte, nicht unterschiedliche Formen und Methoden der Geschichtsschreibung, wie sie etwa die bei Schwabe vor einem Jahr herausgekommene «Geschichte der Schweiz» präsentiert. Es hätte sich da angeboten, die Diskussion fortzuführen, wie im Zeitalter der Globalisierung eine sinnvolle Schweizer Geschichte aussehen sollte.
Maissen geht mit seinen Korrekturen an den volkstümlichen Geschichtserzählungen weit, hätte jedoch noch grundlegendere anbringen können: Wer und was macht die Nation aus? Heldinnen und Helden aus dem Wirtschaftsleben, der Religion, den Wissenschaften, den Künsten, die den Alltag in der Schweiz und ihr Selbstverständnis mitgeprägt haben, gehören in seiner Darstellung jedenfalls nicht dazu. Und schwingen in Heldengeschichten nicht immer Geschichten von Antihelden mit, die als historische Buhmänner, etwa als (vermeintliche) Landesverräter, herhalten müssen?
Hat Thomas Maissen sich auch einige argumentative Chancen entgehen lassen, die Chance zur historischen Aufklärung hat er zweifellos am Schopf gepackt: Wer an die Schweizer Heldengeschichten glauben will, um sie in den Medien und der Politik zu gebrauchen oder zu missbrauchen, sie touristisch zu nutzen oder sich mit ihnen zu identifizieren, wird es weiterhin tun können. Wer aber behauptet, dieser Glaube beruhe auf geschichtswissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen, verbreitet einen Irrglauben. Dies demonstriert Maissen in aller wünschenswerten Klarheit.
*) Blocher, Maurer: die beiden Oberhäupter der Schweizerischen Volkspartei.
Thomas Maissen: Schweizer Heldengeschichten – und was dahintersteckt. Hier und Jetzt, Baden 2015. 240 S., Fr. 29.90.
Thomas Maissens Aufklärungsbuch zur helvetischen Historie
Geschichte und Heldengeschichten
von Francisca Loetz
Wir brauchen sie offenbar, unsere Helden. Besorgt werden Jugendliche in Umfragen nach ihren Vorbildern befragt. Besorgt beklagen einige Kreise, dass den Schweizern das Wissen um die Helden ihrer Geschichte abhandenkomme. Wie gut, dass auch Thomas Maissen, der ausgewiesene Kenner der politischen Geschichte der Schweiz, danach fragt, was hinter den Heldengeschichten der kollektiven Erinnerung steckt. Der Verlag Hier und Jetzt kommt mit Maissens Buch im Jahr der vielen Nationaljubiläen punktgenau auf den Markt. Der Autor rührt an heikle Aspekte des Schweizer Selbstverständnisses. Er wagt es, die Topoi von der Schweiz als Sonderfall – einer Schweiz, die inmitten eines feindlichen Umfelds dank dem wehrhaften und solidarischen Zusammenhalt ihrer Bürger über Jahrhunderte hinweg einzigartige Freiheiten zu erringen und zu behaupten gewusst habe – auf ihren historischen Gehalt zu überprüfen. Er erklärt, wie die «Narrative» entstanden und verbreitet worden sind, in denen die Schweiz als David tapfer und erfolgreich gegen Goliath, gegen die Nachbarn, kämpft. Wo in der Erinnerungspolitik erfunden, geschönt und verdrängt worden ist und weiterhin wird, darüber klärt Maissen auf.
Eine Inventur
Maissen geht mit journalistisch geübter Feder fern jeglicher Polemik ans Werk. Den Kapiteln sind Zitate von Christoph Blocher und eines von Ueli Maurer* vorangestellt, in denen die Politiker mit ihrer Sicht der Schweizer Geschichte zu Wort kommen. Den Zitaten stellt Maissen die historischen Quellen und den gegenwärtigen Forschungsstand gegenüber. Nüchtern trägt er zusammen, was die Geschichtswissenschaft an Entmythologisierung der grossen Erzählungen geleistet hat und was man ausführlicher in seinem 2010 erschienenen Buch «Geschichte der Schweiz» nachlesen kann. Von dem, was manche noch aus ihren Schulzeiten kennen und was uns einige Politiker glauben machen wollen, bleibt wenig übrig: Der offen geschlossene Bund von 1291 hat mit dem romantisierten heimlichen Rütlischwur nichts zu tun. Wilhelm Tell, so ruft Maissen in Erinnerung, ist eine Erfindung des 15. Jahrhunderts. Die Erzählung von den solidarischen Eidgenossen löst sich angesichts der vielen Quellen auf, welche die wechselnden Bündnisse und Konflikte dokumentieren, in denen die Eidgenossen ihre je eigenen Interessen verfolgten. Die seit Marignano geschickt verfochtene Neutralität und die 1648 intelligent errungene Unabhängigkeit sind nicht mehr als Erfolgsgeschichte zu verkaufen.
Die Unterlegenheit der schweizerischen Kriegstechnologie ab 1515 zwang zur Neutralität. Im Westfälischen Frieden sagte sich nicht die Schweiz vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation los, sondern wurde der Eidgenossenschaft dank französischer Einflussnahme das reichsrechtliche Privileg gewährt, nicht mehr dem Reichsgericht zu unterstehen. Es waren die Konkurrenten des Reichs, welche diese Regelung als Anerkennung der Schweizer Souveränität uminterpretierten, obwohl dafür jegliche völkerrechtliche Grundlage fehlte. Die altehrwürdige direkte Demokratie, sie entwickelt sich mühsam aus dem Kampf rechtlich ungleicher Einwohner für ihre Bürgerrechte und schliesst bis 1971 (auf Bundesebene) Frauen aus. Die Bundesverfassung verliert den Glanz des nationalen Einigungsaktes. Zermürbende, jahrzehntelange Bürgerkriege mussten die Einwohner der Schweiz erst dazu bringen, sich kriegsmüde zur Nation zusammenzuschliessen. Die friedliche Insel im Europa der Weltkriege des 20. Jahrhunderts verliert als Land, das die Krisensituation für Kriegsgewinne nutzt und antisemitische wie kriegsverlängernde politische Entscheidungen fällt, ihre Unschuld.
Rütliwiese
Lässt Maissen denn gar kein gutes Haar an den Schweizer Heldengeschichten? Diese Frage ist falsch gestellt. Als seriöser Wissenschafter sieht Maissen davon ab, «die» Schweizer Geschichte moralisch zu bewerten oder politisch zu instrumentalisieren. Es geht darum, die populären Heldengeschichten als selbstgefällige Geschichten aufzudecken, die den Stand der historiografischen Forschung schlichtweg ignorieren.
Frei von schulmeisterlichem Gestus beherrscht Maissen die Kunst, Dinge sprachlich auf den Punkt zu bringen. Hier nur ein Beispiel: «Tatsächlich hat die Eidgenossenschaft seit bald 500 Jahren alle Schlachten verloren, die sie gegen äussere Mächte führte. Ihr Glück war bloss, dass es nicht viele waren.» Wiederholt vergleicht er schweizerische Verhältnisse der Vergangenheit mit den zeitgenössischen Verhältnissen in den Nachbarländern oder mit heutigen politischen Konstellationen. Das macht seine Argumentation anschaulich, lebendig und nachdenkenswert.
Glaube und Irrglaube
Maissen hat bei all seinem Engagement für Schweizer Geschichte allerdings einige Chancen, die sich vom Thema her angeboten hätten, verpasst. Dass er seine Argumentation als eine wissenschaftlich begründete Replik auf die von Nationalkonservativen verbreiteten Geschichtsbilder anlegt, bedingt, dass er sich auf deren enges Verständnis von politischer Geschichte einschränkt. Er hätte jedoch die Verflechtung der Schweiz mit den Nachbarländern und den jeweiligen Grossmächten nicht nur auf der politischen, sondern auch auf der wirtschaftlichen und kulturellen Ebene stärker herausarbeiten können, wie es André Holenstein in seinem im letzten Herbst erschienenen «Mitten in Europa» tut. Auch hätte es auf der Hand gelegen, die Frage, was hinter Heldengeschichten steckt, selbst infrage zu stellen: Hat bzw. braucht Geschichte überhaupt Helden? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht?
So radikal geht Maissen nicht vor. Er tastet das landläufige Verständnis, was Geschichte sei, nicht an. Politische Geschichte erscheint weiterhin als die Heldin der Geschichtsschreibung. Maissen verweist zwar in seiner Einleitung auf Schweizer Geschichten im Plural, meint aber damit unterschiedliche Interpretationen der nationalen Geschichte, nicht unterschiedliche Formen und Methoden der Geschichtsschreibung, wie sie etwa die bei Schwabe vor einem Jahr herausgekommene «Geschichte der Schweiz» präsentiert. Es hätte sich da angeboten, die Diskussion fortzuführen, wie im Zeitalter der Globalisierung eine sinnvolle Schweizer Geschichte aussehen sollte.
Maissen geht mit seinen Korrekturen an den volkstümlichen Geschichtserzählungen weit, hätte jedoch noch grundlegendere anbringen können: Wer und was macht die Nation aus? Heldinnen und Helden aus dem Wirtschaftsleben, der Religion, den Wissenschaften, den Künsten, die den Alltag in der Schweiz und ihr Selbstverständnis mitgeprägt haben, gehören in seiner Darstellung jedenfalls nicht dazu. Und schwingen in Heldengeschichten nicht immer Geschichten von Antihelden mit, die als historische Buhmänner, etwa als (vermeintliche) Landesverräter, herhalten müssen?
Hat Thomas Maissen sich auch einige argumentative Chancen entgehen lassen, die Chance zur historischen Aufklärung hat er zweifellos am Schopf gepackt: Wer an die Schweizer Heldengeschichten glauben will, um sie in den Medien und der Politik zu gebrauchen oder zu missbrauchen, sie touristisch zu nutzen oder sich mit ihnen zu identifizieren, wird es weiterhin tun können. Wer aber behauptet, dieser Glaube beruhe auf geschichtswissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen, verbreitet einen Irrglauben. Dies demonstriert Maissen in aller wünschenswerten Klarheit.
*) Blocher, Maurer: die beiden Oberhäupter der Schweizerischen Volkspartei.
Thomas Maissen: Schweizer Heldengeschichten – und was dahintersteckt. Hier und Jetzt, Baden 2015. 240 S., Fr. 29.90.
Donnerstag, 9. April 2015
Nicht Jesus, sondern Paulus hat das Christentum geschaffen.
Unterm Titel Unter Denkmalschutz schrieb Heinz-Werner Kubitza im Tagesspiegel vom 4. April über die Frage, ob Theologie als Wissenschaft gelten könne (und an eine staatliche Universität gehört).
... Heute dürfte kein Professor der Theologie, der an einer staatlichen Universität lehrt, noch der Meinung sein, dass an den Geburtsgeschichten Jesu im Neuen Testament sich mehr findet als christliche Legenden. Es ist jedem Neutestamentler klar, dass Jesus sich in der Erwartung des „Reichs Gottes“, das er als unmittelbar bevorstehend glaubte, schlicht geirrt hat.
Jesus hatte mit dem entstehenden Christentum wenig zu tun
Man weiß heute, dass die biblische Verherrlichung ihrem Herrn bald davongaloppiert ist. Es ist allgemein anerkannt, dass er gläubiger Jude war und es bis zu seinem Tode geblieben ist, dass er sich nur gesandt sah „zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“, dass also Nichtjuden einfach nicht seine Adressaten waren. Den Auftrag zur Weltmission hat ihm erst der Evangelist Matthäus in den Mund gelegt. Kaum ein Neutestamentler nimmt heute noch an, dass er sich tatsächlich selbst als Messias verstanden hat. Und jeder Neutestamentler weiß, dass Jesus mit seinem Tod offenbar keine Sühnefunktion verband, wie das später Paulus behauptet hat. Die großen Differenzen zwischen der Lehre Jesu und der Verkündigung des Paulus ist Theologen hinlänglich bekannt.
Jesus hat mit dem entstehenden Christentum eher wenig bis gar nichts zu tun, der eigentliche Protagonist ist Paulus. Jungfrauengeburt, Wunder und Exorzismen gelten als Übernahmen von alttestamentlichen Vorbildern oder der heidnischen Umwelt. Die Auferstehungserzählungen der Evangelien halten wohl alle Neutestamentler für legendär, auch wenn der Auferstehungsglaube selbst sehr alt ist. Erst die altkirchlichen Konzilien haben aus Jesus einen Gott gemacht. Das sind bekannte Fakten unter Theologen, doch immer noch weithin unbekannt beim Kirchenvolk.
Die Erzväter Abraham, Isaak und Jakob hat es wohl kaum gegeben
Im Alten Testament ist der Kahlschlag fast noch größer. Dort haben die Archäologie und die alttestamentliche Forschung die wenig spektakulären Anfänge des alttestamentlichen Gottes als Wetter- oder Berggott von Nomadengruppen freigelegt, der später noch lange Zeit zusammen mit seiner Ehefrau Aschera verehrt wurde. Der Monotheismus war auch in Israel eine recht späte Erscheinung und hat sich erst nach dem babylonischen Exil durchgesetzt.
Dass es die Erzväter Abraham, Isaak und Jakob tatsächlich gab, wird von vielen Forschern verneint. Es gab offenbar keinen spektakulären Auszug (Exodus) aus Ägypten. Viele Alttestamentler halten selbst Mose für eine rein literarische Figur. Es gab keine Wüstenwanderung, keine „Landnahme“ und keinen Josua, offenbar auch kein Großreich unter David (obwohl ein „Haus Davids“ nachweisbar ist). Die Israeliten waren offenbar selbst Kanaanäer und verehrten wie diese lange kanaanäische Götter.
Deshalb sind die Glaubensgrundlagen, wie sie in den Bekenntnissen der Kirchen fixiert sind, intellektuell schon lange nicht mehr haltbar. Der dogmatische Gott der Kirchen ist tot, und der übrig gebliebene „historische Jesus“ ist eher spröde und hat erstaunlich wenig zu bieten. Dogmatiker wissen dies, dennoch ist es ihre Aufgabe, die Denkmöglichkeit ihrer eigentlich längst hinreichend widerlegten Religion zu erweisen. ...
Dienstag, 7. April 2015
So friedlich war die Welt noch nie.
aus Die Presse, Wien, 28.03.2015 | 20:01
Die Menschheit ist heute so friedlich wie noch nie
Dass die Gewalt explodiert, kommt uns nur so vor, weil unser Gedächtnis kurz ist. Wahr ist das Gegenteil: Im Lauf der Geschichte ging Gewalt frappant zurück. Psychologe Steven Pinker hat es bilanziert.
von Jürgen Langenbach
Wenn man die Nachrichten aufdreht, wird man von Islamisten und der Ukraine überflutet, und in irgendwelchen U-Bahn-Stationen schlagen Jugendliche jemanden tot, ganz ohne Grund. Gewalt ist allerorten, und so arg war sie noch nie! Nein, es ist gerade umgekehrt, so sicher und friedlich war es noch nie, das rechnete Steven Pinker, Psychologe in Harvard, erstmals 2007 vor, er wusste, dass er mit diesem Urteil „den Eindruck erweckt, es sei irgendwo zwischen Halluzination und Obszönität angesiedelt“.
Aber er hatte die Geschichte auf seiner Seite, und in die kam das Blutvergießen erst relativ spät, dafür aber bald uferlos: „Da erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot“ (1. Mose 4,8).
Dergleichen gibt es sonst in der Natur kaum, außer uns fallen nur Ameisen und Schimpansen mit Mord und Totschlag über Nachbarn her, innergesellschaftlich ist Gewalt verbreiteter, vor allem, wenn Männchen sich messen. Aber die Menschen überboten alles, wohl erst, als sie die Landwirtschaft erfunden hatten, zuvor lebten sie Jahrhunderttausende friedlich(er), darauf deuten heutige Jäger und Sammler, sie haben keinen Besitz, auf den andere ein Auge werfen könnten.
Als die Ersten von ihnen vor 11.000 Jahren sesshaft wurden und Tiere und Pflanzen domestizierten, ging es ihnen lang schlechter als zuvor, dann ging es bergauf, mit Besitz und Gewalt: Die erste Schlacht wurde vor 5500 Jahren um Hamoukar in Mesopotamien geschlagen, die nächste vor 3250 Jahren um San José in Mexiko. Beides waren Städte mit Mauern, hinter denen etwas zu holen war – Vorräte –, auch Kain erschlug einen (tierhaltenden) Bauern, nicht des Besitzes wegen, sondern weil Jahweh sein, des Ackerbauern, Opfer verschmähte und das des Hirten annahm.
Wie auch immer: Wenn eine Stadt erobert war, folgten fürchterliche Gemetzel, man kann sie auch im Alten Testament nachlesen. Das waren keine exotischen Besonderheiten: Als die Siedlung Schletz bei Aspern an der Zaya vor 5300 Jahren überfallen wurde, blieb keiner am Leben, nur die gebärfähigen Frauen wurden mitgenommen. So war es überall, das steht hinter Pinkers Argument: Die Gesamtzahl der Opfer stieg zwar mit der Sprengkraft der Waffen, der letzte große Krieg, der Zweite Weltkrieg, forderte 50 bis 70 Millionen Opfer, so viel wie kein anderer.
Aber wenn man statt der absoluten die relativen Zahlen nimmt, floss früher das Blut in ganz anderen Strömen: „Hätten die Kriege des 20. Jahrhunderts den gleichen Anteil der Bevölkerung getötet, wie das in Kriegen zwischen Stämmen üblich war, hätten sie nicht 100 Millionen Tote gefordert, sondern zwei Milliarden“, bilanziert Pinker.
Vernunft vermeidet Krieg.
Vor Jahrtausenden fanden 15 Prozent der Menschen den Tod durch organisierte Gewalt, im 20. Jahrhundert drei Prozent (durch Kriege und Genozide). Noch frappierender die Entwicklung bei der Gewalt innerhalb von Gesellschaften: An Mord und Totschlag starben im 14. Jh. 40 von 100.000 Menschen, im 20. Jh. 1,4. „Wir leben heute wahrscheinlich im friedlichsten Moment der ganzen Zeit, die unsere Art auf der Erde verbracht hat“, schloss Pinker: „Irgendetwas müssen wir richtig gemacht haben. Es wäre fein, genau zu wissen, was.“ 2011 hatte er eine Antwort: Es liege an der „Vernunft, die uns erlaubt, die Welt zu verstehen, Ideen auszutauschen und soziale Vereinbarungen auszuhandeln“.
Nota. - Sie meinen, ich wiederhole mich? Das kann man gar nicht oft genug wiederholen. Jede Generation - mit Ausnahme wohl der 68er - hat noch immer geglaubt, so schlimm wie heute war's noch nie. Aber jede vorige hat daraus den Schluss gezogen, sie müsse die Ärmel hochkrempeln und feste anpacken. Erst die heutige läuft plärrend durch die Straßen und schlägt blutige Schlachten - mit Prellungen, dicken Lippen und blauen Augen. Hinterher gehn sie zum Italiener - oder, besser noch, zum Griechen, schon aus Solidarität.
JE
Die Menschheit ist heute so friedlich wie noch nie
Dass die Gewalt explodiert, kommt uns nur so vor, weil unser Gedächtnis kurz ist. Wahr ist das Gegenteil: Im Lauf der Geschichte ging Gewalt frappant zurück. Psychologe Steven Pinker hat es bilanziert.
von Jürgen Langenbach
Wenn man die Nachrichten aufdreht, wird man von Islamisten und der Ukraine überflutet, und in irgendwelchen U-Bahn-Stationen schlagen Jugendliche jemanden tot, ganz ohne Grund. Gewalt ist allerorten, und so arg war sie noch nie! Nein, es ist gerade umgekehrt, so sicher und friedlich war es noch nie, das rechnete Steven Pinker, Psychologe in Harvard, erstmals 2007 vor, er wusste, dass er mit diesem Urteil „den Eindruck erweckt, es sei irgendwo zwischen Halluzination und Obszönität angesiedelt“.
- Die Welt wird immer friedlicher.
- Nein, es wird nicht immer alles nur schlimmer.
- Es wird alles immer besser.
Aber er hatte die Geschichte auf seiner Seite, und in die kam das Blutvergießen erst relativ spät, dafür aber bald uferlos: „Da erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot“ (1. Mose 4,8).
Dergleichen gibt es sonst in der Natur kaum, außer uns fallen nur Ameisen und Schimpansen mit Mord und Totschlag über Nachbarn her, innergesellschaftlich ist Gewalt verbreiteter, vor allem, wenn Männchen sich messen. Aber die Menschen überboten alles, wohl erst, als sie die Landwirtschaft erfunden hatten, zuvor lebten sie Jahrhunderttausende friedlich(er), darauf deuten heutige Jäger und Sammler, sie haben keinen Besitz, auf den andere ein Auge werfen könnten.
Als die Ersten von ihnen vor 11.000 Jahren sesshaft wurden und Tiere und Pflanzen domestizierten, ging es ihnen lang schlechter als zuvor, dann ging es bergauf, mit Besitz und Gewalt: Die erste Schlacht wurde vor 5500 Jahren um Hamoukar in Mesopotamien geschlagen, die nächste vor 3250 Jahren um San José in Mexiko. Beides waren Städte mit Mauern, hinter denen etwas zu holen war – Vorräte –, auch Kain erschlug einen (tierhaltenden) Bauern, nicht des Besitzes wegen, sondern weil Jahweh sein, des Ackerbauern, Opfer verschmähte und das des Hirten annahm.
Wie auch immer: Wenn eine Stadt erobert war, folgten fürchterliche Gemetzel, man kann sie auch im Alten Testament nachlesen. Das waren keine exotischen Besonderheiten: Als die Siedlung Schletz bei Aspern an der Zaya vor 5300 Jahren überfallen wurde, blieb keiner am Leben, nur die gebärfähigen Frauen wurden mitgenommen. So war es überall, das steht hinter Pinkers Argument: Die Gesamtzahl der Opfer stieg zwar mit der Sprengkraft der Waffen, der letzte große Krieg, der Zweite Weltkrieg, forderte 50 bis 70 Millionen Opfer, so viel wie kein anderer.
Aber wenn man statt der absoluten die relativen Zahlen nimmt, floss früher das Blut in ganz anderen Strömen: „Hätten die Kriege des 20. Jahrhunderts den gleichen Anteil der Bevölkerung getötet, wie das in Kriegen zwischen Stämmen üblich war, hätten sie nicht 100 Millionen Tote gefordert, sondern zwei Milliarden“, bilanziert Pinker.
Vernunft vermeidet Krieg.
Vor Jahrtausenden fanden 15 Prozent der Menschen den Tod durch organisierte Gewalt, im 20. Jahrhundert drei Prozent (durch Kriege und Genozide). Noch frappierender die Entwicklung bei der Gewalt innerhalb von Gesellschaften: An Mord und Totschlag starben im 14. Jh. 40 von 100.000 Menschen, im 20. Jh. 1,4. „Wir leben heute wahrscheinlich im friedlichsten Moment der ganzen Zeit, die unsere Art auf der Erde verbracht hat“, schloss Pinker: „Irgendetwas müssen wir richtig gemacht haben. Es wäre fein, genau zu wissen, was.“ 2011 hatte er eine Antwort: Es liege an der „Vernunft, die uns erlaubt, die Welt zu verstehen, Ideen auszutauschen und soziale Vereinbarungen auszuhandeln“.
Nota. - Sie meinen, ich wiederhole mich? Das kann man gar nicht oft genug wiederholen. Jede Generation - mit Ausnahme wohl der 68er - hat noch immer geglaubt, so schlimm wie heute war's noch nie. Aber jede vorige hat daraus den Schluss gezogen, sie müsse die Ärmel hochkrempeln und feste anpacken. Erst die heutige läuft plärrend durch die Straßen und schlägt blutige Schlachten - mit Prellungen, dicken Lippen und blauen Augen. Hinterher gehn sie zum Italiener - oder, besser noch, zum Griechen, schon aus Solidarität.
JE
Montag, 6. April 2015
Ein uraltes Grundnahrungsmittel.
Ägypter brauten Bier in Tel Aviv
Die alten Ägypter tranken gerne Bier. Gebraut haben sie es überall, wo sie siedelten. Auch im heutigen Tel Aviv, wie Archäologen jetzt herausgefunden haben.
Tel Aviv ist der Ort zum Feiern und Trinken - und das hat offenbar Tradition. Archäologen haben dort Reste einer 5000 Jahre alten Brauerei entdeckt, die einst von den alten Ägyptern betrieben wurde. Am Fundort im Zentrum der israelischen Metropole sollen neue Bürogebäude entstehen. Üblicherweise werden die Grundstücke vor Baubeginn von Archäologen untersucht.
Es seien 17 Höhlen ausfindig gemacht worden, die in der frühen Bronzezeit (3500 bis 3000 vor Christus) zur Lagerung landwirtschaftlicher Produkte dienten, teilte die israelische Altertumsbehörde mit. Dabei seien die Archäologen auch auf Fragmente großer Keramikwannen gestoßen. Diese seien nach ägyptischer Tradition hergestellt worden und hätten zum Brauen von Bier gedient.Bei der Herstellung der ägyptischen Gefäße sei zur Stabilisierung Stroh oder anderes organisches Material mitverwendet worden. Diese Methode sei damals in der örtlichen Töpferei in der Gegend nicht üblich gewesen.
Fruchtsaft als Zusatz
"Dies ist der erste Beweis einer ägyptischen Präsenz im Zentrum des heutigen Tel Aviv", sagte Ausgrabungsleiter Diego Barkan. Bisher sei nur bekannt gewesen, dass die Ägypter damals die nördliche Negev-Wüste und die südliche Küstenebene kontrollierten. "Jetzt wissen wir auch, dass sie auch schätzten, was die Tel-Aviv-Region zu bieten hatte, und dass sie sich gerne ein Glas Bier genehmigten, genauso wie die Einwohner Tel Avivs heute."
Gerstensaft sei in der Antike eine Art "nationales Getränk" der Ägypter und ein Grundnahrungsmittel wie Brot gewesen. Nahezu die gesamte Bevölkerung habe Bier getrunken. Es sei aus einer Mischung aus Wasser und Gerste hergestellt worden, die erwärmt wurde und dann gärte. Die Mischung sei vor dem Genuss noch mit mehreren Fruchtsaftkonzentraten gewürzt und gefiltert worden.
Nota. - 1. Nicht die Juden sind aus Ägypten ausgezogen, sondern die Ägypter haben Judäa wieder verlassen.
2. Die meisten antiken Ägypter - nämlich die, deren Gräber man gefunden hat, also Angehörige der Oberschicht bis hin zu den Pharaonen - litten an Mangel- oder Fehlernährung. Zu wenig Fleisch und Gemüse, zuviel Getreide - auch in vergorener Form.
JE
Sonntag, 5. April 2015
Der Weihrauch der Autokratie.
aus nzz.ch, 2.4.2015, 05:30 Uhr
Die russisch-orthodoxe Kirche und ihre Mission
Putins Dienerin
Wer meint, dass das russisch-orthodoxe Denken jemals verschwunden war, irrt. Selbst der religionsfeindliche Sowjetkommunismus war eine ins Weltlich-Politische verwandelte irdische Ideologie der russischen Orthodoxie. Heute schafft diese den Goldgrund für Putins autokratisches Regime und sein Expansionsstreben.
von Jörg Himmelreich
In der kommenden Woche werden viele Millionen Russen in mehrstündigen Gottesdiensten wie jedes Jahr das russische Osterfest feiern. Es ist das höchste Fest der russisch-orthodoxen Kirche. Im Gegensatz zu den westlichen Kirchen braucht sich die orthodoxe Kirche über den Zuspruch in der Bevölkerung nicht zu beklagen. Mehr als zwei Drittel der Russen bekennen sich zu ihr. Das zeigt an, wie tief die Kirche heute wieder in Russland verankert ist.
Ein übergreifendes Band
Ihr Verhältnis zum Staat war seit je ein fundamental anderes als in Westeuropa. Ja Putins wiederbelebter russischer Expansionismus heute ist gar nicht zu verstehen ohne die elementare Bedeutung der russischen Kirche und ihres orthodoxen Religionsverständnisses gerade für diese Politik. Putins Aggression überrascht uns auch deswegen, weil wir verkannt haben, wie tief die politische Theologie der orthodoxen Kirche das politische Selbstverständnis Russlands auch heute wieder so prägt, wie sie es schon Jahrhunderte zuvor getan hat. Die Verfolgung und Enteignung der Kirche zu Zeiten des Sowjetkommunismus nimmt sich dagegen nur als eine oberflächliche, temporäre und kurze Unterbrechung von siebzig Jahren aus.
Als der Kiewer Grossfürst Wladimir im Jahre 988 den orthodoxen Glauben des damaligen oströmischen Byzanz annahm und durch Massentaufen seine Bevölkerung zwang, ihm zu folgen, war das eine historische Weichenstellung. Sie wirkt bis heute nach. Zum einen begründete sie in Zeiten der damaligen Konkurrenz mit anderen russischen Teilfürstentümern und Städten in der Kiewer Rus erstmals ein übergreifendes vereinigendes Band. Denn der orthodoxe Glaube verbreitete sich schnell. So stiftete er in den Wirren und Kämpfen der einzelnen Teilfürstentümer in der Kiewer Rus eine gemeinsame Identität, die es politisch und kulturell noch nicht gab. Und das gilt auch heute noch: Wer sich in dem Vielvölkerstaat Russland als wahrer Russe versteht, bekennt sich zur orthodoxen Kirche. Das Bekenntnis zur orthodoxen Kirche ist oft mehr ein nationales denn ein religiöses.
Das «Dritte Rom»
Zum anderen begann mit der byzantinischen Taufe die wesentliche Abweichung Russlands vom Weg der westeuropäischen Geschichte. In Westeuropa kämpften im Mittelalter machtbewusste weströmische Päpste mit deutschen Königen im Investiturstreit um die politische Vorrangstellung von Staat und Kirche. Im oströmischen Konstantinopel galt dagegen das von Kaiser Konstantin (270/288–337) begründete Prinzip der Harmonie zwischen Staat und Kirche, der «Symphonia». Zu den Zeiten der Taufe Wladimirs sah sich die orthodoxe Kirche in Byzanz schon derart von weströmischem Katholizismus im Westen und gleichzeitig vom osmanischen Islam im Osten religiös bedrängt, dass spätestens dann byzantinische Kaiser zu Schutzherren der orthodoxen Kirche erwuchsen.
Ein Gang nach Canossa, mit dem der deutsche König Heinrich IV. im Jahre 1077 den römischen Papst Gregor VII. darum bat, seine kirchliche Verbannung aufzuheben – das war in Byzanz wie auch später in Kiew undenkbar. Die die westeuropäische Geschichte so prägende und im Investiturstreit ausgefochtene Trennung von Staat und Kirche und die Unterscheidung zwischen der Gewalt des Papstes und der des Kaisers waren dem orthodoxen Verhältnis von Staat und Kirche völlig fremd. Wie die Kaiser in Byzanz verstanden sich die Kiewer Fürsten von Anfang an auch als Schutzherren der orthodoxen Kirche.
Dies erst recht, als 1453 Konstantinopel in die Hände der Osmanen fiel. Das Grossfürstentum Moskau war unter Wassili II. (1415–1462) und Iwan III. (1440–1505) dabei, die einzelnen Teilfürstentümer und Städte der Rus zu «sammeln», die sich gerade von der Mongolenherrschaft der «Goldenen Horde» befreiten, und zur neuen russischen Vormacht aufzusteigen. Moskau war damit zum einzigen und letzten sicheren politischen Hort des orthodoxen Glaubens geworden. Die russische orthodoxe Kirche löste sich von der Vormundschaft des byzantinischen Patriarchats und wurde autokephal. Dankbar pries die orthodoxe Kirche Moskau als das «Dritte Rom». Der Mönch Filofej (1465–1542) aus Pskow formulierte schon 1510 eine politische Theorie russischer Herrschaft, deren Kontinuität bis heute fortwirkt: «Alle christlichen Reiche sind vergangen und sind zusammen übergegangen in das Eine Reich unseres Herrn: Das ist das Russische Reich. Denn zwei Rome sind gefallen, aber das dritte steht, und ein viertes wird es nicht geben.»
So ruhten alle Hoffnungen, diese Welt zu erlösen, alleine auf Moskau – so zumindest der Glaube von Kirche und Staat in Russland. Wie schon der byzantinische Kaiser Justinian (482–565) zuvor seine Herrschaft unmittelbar von Gott abgeleitet hatte, beanspruchten jetzt auch die Moskauer Grossfürsten als Schutzherren der Kirche Vertreter Gottes auf Erden zu sein. Damit rechtfertigte die russische Kirche die politische Autokratie aller russischen Herrscher gleichsam religiös. Denn die Autokratie war eben gottgewollt.
Das Erbe von Byzanz begründete auf diese Weise das politische Selbstverständnis einer heilsgeschichtlichen Auserwähltheit Russlands – auch das herrscht bis heute ungebrochen und ununterbrochen vor. Die Zaren kamen gleichsam einem messianischen Auftrag nach, die Menschen zu erlösen und orthodoxe Christen zu schützen, wenn sie das russische Zarenreich über die Jahrhunderte hinweg in alle Himmelsrichtungen ausdehnten. Besser liessen sich geopolitische Ambitionen nicht verbrämen. Die orthodoxe Kirche lieferte die religiöse Rechtfertigung für zaristische Autokratie und für russischen Expansionsdrang.
Orthodoxie und Sowjetkommunismus
Zwar gab es in der Kirche immer wieder Versuche, dieses Verhältnis zum Staat zu reformieren. So forderte der einflussreiche Patriarch Nikon (1605–1681) noch einmal den Primat der geistlichen Herrschaft und das Recht der Kirche, in weltlich-politischen Fragen mitzusprechen, wurde aber 1660 seines Amtes enthoben. Am Ende änderte sich die grundsätzliche Unterwerfung der Kirche unter die Zarenherrschaft nicht. Im Gegenteil: Ihre verbliebene Eigenständigkeit wurde fortwährend beschnitten. Peter der Grosse schaffte das Amt des Patriarchen ganz ab, übertrug die Leitung der Kirche 1721 dem «Heiligsten Dirigierenden Synod», gliederte den Synod in die staatliche Verwaltung ein und beraubte damit die Kirche endgültig ihrer Unabhängigkeit. Diesen aufklärerischen Kurs setzten seine Nachfolger, insbesondere Katharina die Grosse, fort. Die Kirche war ein selbstverständlicher Teil Russlands und der zaristischen Autokratie geworden, in der Gesellschaft marginalisierte sie sich. Im aufkommenden Nationalismus im Russland des 19. Jahrhunderts, dessen Bevölkerung nur zu 44 Prozent aus ethnischen Russen bestand, sah die übrige Bevölkerung sie zumeist als Instrument zaristischer Autokratie zur Unterdrückung und Russifizierung.
Kein Wunder, dass die russische Revolution 1917 mit dem Zarentum auch die orthodoxe Kirche hinwegfegte. Der Kirchenbesitz wurde eingezogen, Geistliche wurden verfolgt und Religion zur Privatsache erklärt. Die Kirche fristete in der UdSSR ein Schattendasein. Erst mit dem Millennium der Christianisierung der Rus 1988 gewann sie unter Gorbatschow wieder an Bedeutung und erhielt ihren Grundbesitz zurück. Seitdem kann kein russischer Präsident auf sie verzichten, wenn es darum geht, wieder eine nationale grossrussische Identität zu stiften. Wie in der jahrhundertelangen Vergangenheit ist die orthodoxe Kirche auch heute wieder Dienerin ihres Herrn.
1998 in Krapiviye
Diese jahrhundertealte Staatsideologie der orthodoxen Kirche ist tief in die russische Herrschaftspsychologie eingraviert. Auch die aufgeklärteren Zaren, wie Peter I. und Katharina II., haben mit ihren Expansionen des Zarenreichs im 18. Jahrhundert auf sie aufgebaut.
Selbst der Sowjetkommunismus trug orthodoxe Herrschaftsmerkmale. Er war am Ende nichts anderes als eine ins Weltlich-Politische verwandelte irdische Ideologie der russischen Orthodoxie, so wie sie der Mönch Filofej schon 400 Jahre früher formuliert hatte. Die messianische Heilserwartung des «Dritten Rom» entspricht dem weltlichen Befreiungsgedanken der kommunistischen Ideologie. Als «letztes Rom» der Christenheit allein im Besitz der letzten absoluten Wahrheit zu sein, verweist auf den totalitären Anspruch des Sowjetkommunismus. Die orthodoxe Rechtfertigung russischer Autokratie setzt sich in der Sowjetdiktatur Lenins, Stalins und ihrer Nachfolger fort. Und Trotzkis Ideologie der kommunistischen Weltrevolution begründet den sowjetischen Imperialismus genauso wie die russische Orthodoxie den Imperialismus der Zaren. Wie schon seit Wladimirs Taufe 988 die russische Orthodoxie auch dazu diente, Ziele politischer Macht der russischen Herrschaft nur zu verkleiden, so war auch unter Stalin die Ideologie des Sowjetkommunismus nur noch notdürftige moralische Hülle nackter Gewaltausübung. Orthodoxie und Sowjetkommunismus bilden als Zwillingspaar über ein Jahrtausend hinweg die wesentliche Legitimationsquelle russischer Autokratie und russischer Expansion.
Im Besitz des rechten Glaubens
So bildet die historische, orthodoxe Herrschaftsideologie auch heute wieder den Goldgrund für Putins autokratisches Regime und seinen wiederbelebten russischen Expansionismus. Wer im orthodoxen Alleinbesitz letzter Wahrheiten ist, kann ernsthafte und dauerhafte Kompromisse nicht zulassen. Denn solche setzen Toleranz gegenüber anderen, gleichberechtigten Wahrheiten voraus. Das macht die fortdauernde Gefährlichkeit dieser tief verankerten, orthodox gerechtfertigten russischen Herrschaftspsychologie aus. Wer im Rahmen eines missionarischen Auftrags für sich das politische Recht in Anspruch nimmt, alleine den rechten Glauben zu verbreiten, der kennt keine Grenzen.
Jörg Himmelreich lehrt politische Wissenschaft an der Jacobs-Universität in Bremen.
Die russisch-orthodoxe Kirche und ihre Mission
Putins Dienerin
Wer meint, dass das russisch-orthodoxe Denken jemals verschwunden war, irrt. Selbst der religionsfeindliche Sowjetkommunismus war eine ins Weltlich-Politische verwandelte irdische Ideologie der russischen Orthodoxie. Heute schafft diese den Goldgrund für Putins autokratisches Regime und sein Expansionsstreben.
von Jörg Himmelreich
In der kommenden Woche werden viele Millionen Russen in mehrstündigen Gottesdiensten wie jedes Jahr das russische Osterfest feiern. Es ist das höchste Fest der russisch-orthodoxen Kirche. Im Gegensatz zu den westlichen Kirchen braucht sich die orthodoxe Kirche über den Zuspruch in der Bevölkerung nicht zu beklagen. Mehr als zwei Drittel der Russen bekennen sich zu ihr. Das zeigt an, wie tief die Kirche heute wieder in Russland verankert ist.
Ein übergreifendes Band
Ihr Verhältnis zum Staat war seit je ein fundamental anderes als in Westeuropa. Ja Putins wiederbelebter russischer Expansionismus heute ist gar nicht zu verstehen ohne die elementare Bedeutung der russischen Kirche und ihres orthodoxen Religionsverständnisses gerade für diese Politik. Putins Aggression überrascht uns auch deswegen, weil wir verkannt haben, wie tief die politische Theologie der orthodoxen Kirche das politische Selbstverständnis Russlands auch heute wieder so prägt, wie sie es schon Jahrhunderte zuvor getan hat. Die Verfolgung und Enteignung der Kirche zu Zeiten des Sowjetkommunismus nimmt sich dagegen nur als eine oberflächliche, temporäre und kurze Unterbrechung von siebzig Jahren aus.
Als der Kiewer Grossfürst Wladimir im Jahre 988 den orthodoxen Glauben des damaligen oströmischen Byzanz annahm und durch Massentaufen seine Bevölkerung zwang, ihm zu folgen, war das eine historische Weichenstellung. Sie wirkt bis heute nach. Zum einen begründete sie in Zeiten der damaligen Konkurrenz mit anderen russischen Teilfürstentümern und Städten in der Kiewer Rus erstmals ein übergreifendes vereinigendes Band. Denn der orthodoxe Glaube verbreitete sich schnell. So stiftete er in den Wirren und Kämpfen der einzelnen Teilfürstentümer in der Kiewer Rus eine gemeinsame Identität, die es politisch und kulturell noch nicht gab. Und das gilt auch heute noch: Wer sich in dem Vielvölkerstaat Russland als wahrer Russe versteht, bekennt sich zur orthodoxen Kirche. Das Bekenntnis zur orthodoxen Kirche ist oft mehr ein nationales denn ein religiöses.
Das «Dritte Rom»
Zum anderen begann mit der byzantinischen Taufe die wesentliche Abweichung Russlands vom Weg der westeuropäischen Geschichte. In Westeuropa kämpften im Mittelalter machtbewusste weströmische Päpste mit deutschen Königen im Investiturstreit um die politische Vorrangstellung von Staat und Kirche. Im oströmischen Konstantinopel galt dagegen das von Kaiser Konstantin (270/288–337) begründete Prinzip der Harmonie zwischen Staat und Kirche, der «Symphonia». Zu den Zeiten der Taufe Wladimirs sah sich die orthodoxe Kirche in Byzanz schon derart von weströmischem Katholizismus im Westen und gleichzeitig vom osmanischen Islam im Osten religiös bedrängt, dass spätestens dann byzantinische Kaiser zu Schutzherren der orthodoxen Kirche erwuchsen.
Ein Gang nach Canossa, mit dem der deutsche König Heinrich IV. im Jahre 1077 den römischen Papst Gregor VII. darum bat, seine kirchliche Verbannung aufzuheben – das war in Byzanz wie auch später in Kiew undenkbar. Die die westeuropäische Geschichte so prägende und im Investiturstreit ausgefochtene Trennung von Staat und Kirche und die Unterscheidung zwischen der Gewalt des Papstes und der des Kaisers waren dem orthodoxen Verhältnis von Staat und Kirche völlig fremd. Wie die Kaiser in Byzanz verstanden sich die Kiewer Fürsten von Anfang an auch als Schutzherren der orthodoxen Kirche.
Dies erst recht, als 1453 Konstantinopel in die Hände der Osmanen fiel. Das Grossfürstentum Moskau war unter Wassili II. (1415–1462) und Iwan III. (1440–1505) dabei, die einzelnen Teilfürstentümer und Städte der Rus zu «sammeln», die sich gerade von der Mongolenherrschaft der «Goldenen Horde» befreiten, und zur neuen russischen Vormacht aufzusteigen. Moskau war damit zum einzigen und letzten sicheren politischen Hort des orthodoxen Glaubens geworden. Die russische orthodoxe Kirche löste sich von der Vormundschaft des byzantinischen Patriarchats und wurde autokephal. Dankbar pries die orthodoxe Kirche Moskau als das «Dritte Rom». Der Mönch Filofej (1465–1542) aus Pskow formulierte schon 1510 eine politische Theorie russischer Herrschaft, deren Kontinuität bis heute fortwirkt: «Alle christlichen Reiche sind vergangen und sind zusammen übergegangen in das Eine Reich unseres Herrn: Das ist das Russische Reich. Denn zwei Rome sind gefallen, aber das dritte steht, und ein viertes wird es nicht geben.»
So ruhten alle Hoffnungen, diese Welt zu erlösen, alleine auf Moskau – so zumindest der Glaube von Kirche und Staat in Russland. Wie schon der byzantinische Kaiser Justinian (482–565) zuvor seine Herrschaft unmittelbar von Gott abgeleitet hatte, beanspruchten jetzt auch die Moskauer Grossfürsten als Schutzherren der Kirche Vertreter Gottes auf Erden zu sein. Damit rechtfertigte die russische Kirche die politische Autokratie aller russischen Herrscher gleichsam religiös. Denn die Autokratie war eben gottgewollt.
Das Erbe von Byzanz begründete auf diese Weise das politische Selbstverständnis einer heilsgeschichtlichen Auserwähltheit Russlands – auch das herrscht bis heute ungebrochen und ununterbrochen vor. Die Zaren kamen gleichsam einem messianischen Auftrag nach, die Menschen zu erlösen und orthodoxe Christen zu schützen, wenn sie das russische Zarenreich über die Jahrhunderte hinweg in alle Himmelsrichtungen ausdehnten. Besser liessen sich geopolitische Ambitionen nicht verbrämen. Die orthodoxe Kirche lieferte die religiöse Rechtfertigung für zaristische Autokratie und für russischen Expansionsdrang.
Orthodoxie und Sowjetkommunismus
Zwar gab es in der Kirche immer wieder Versuche, dieses Verhältnis zum Staat zu reformieren. So forderte der einflussreiche Patriarch Nikon (1605–1681) noch einmal den Primat der geistlichen Herrschaft und das Recht der Kirche, in weltlich-politischen Fragen mitzusprechen, wurde aber 1660 seines Amtes enthoben. Am Ende änderte sich die grundsätzliche Unterwerfung der Kirche unter die Zarenherrschaft nicht. Im Gegenteil: Ihre verbliebene Eigenständigkeit wurde fortwährend beschnitten. Peter der Grosse schaffte das Amt des Patriarchen ganz ab, übertrug die Leitung der Kirche 1721 dem «Heiligsten Dirigierenden Synod», gliederte den Synod in die staatliche Verwaltung ein und beraubte damit die Kirche endgültig ihrer Unabhängigkeit. Diesen aufklärerischen Kurs setzten seine Nachfolger, insbesondere Katharina die Grosse, fort. Die Kirche war ein selbstverständlicher Teil Russlands und der zaristischen Autokratie geworden, in der Gesellschaft marginalisierte sie sich. Im aufkommenden Nationalismus im Russland des 19. Jahrhunderts, dessen Bevölkerung nur zu 44 Prozent aus ethnischen Russen bestand, sah die übrige Bevölkerung sie zumeist als Instrument zaristischer Autokratie zur Unterdrückung und Russifizierung.
Kein Wunder, dass die russische Revolution 1917 mit dem Zarentum auch die orthodoxe Kirche hinwegfegte. Der Kirchenbesitz wurde eingezogen, Geistliche wurden verfolgt und Religion zur Privatsache erklärt. Die Kirche fristete in der UdSSR ein Schattendasein. Erst mit dem Millennium der Christianisierung der Rus 1988 gewann sie unter Gorbatschow wieder an Bedeutung und erhielt ihren Grundbesitz zurück. Seitdem kann kein russischer Präsident auf sie verzichten, wenn es darum geht, wieder eine nationale grossrussische Identität zu stiften. Wie in der jahrhundertelangen Vergangenheit ist die orthodoxe Kirche auch heute wieder Dienerin ihres Herrn.
1998 in Krapiviye
Diese jahrhundertealte Staatsideologie der orthodoxen Kirche ist tief in die russische Herrschaftspsychologie eingraviert. Auch die aufgeklärteren Zaren, wie Peter I. und Katharina II., haben mit ihren Expansionen des Zarenreichs im 18. Jahrhundert auf sie aufgebaut.
Selbst der Sowjetkommunismus trug orthodoxe Herrschaftsmerkmale. Er war am Ende nichts anderes als eine ins Weltlich-Politische verwandelte irdische Ideologie der russischen Orthodoxie, so wie sie der Mönch Filofej schon 400 Jahre früher formuliert hatte. Die messianische Heilserwartung des «Dritten Rom» entspricht dem weltlichen Befreiungsgedanken der kommunistischen Ideologie. Als «letztes Rom» der Christenheit allein im Besitz der letzten absoluten Wahrheit zu sein, verweist auf den totalitären Anspruch des Sowjetkommunismus. Die orthodoxe Rechtfertigung russischer Autokratie setzt sich in der Sowjetdiktatur Lenins, Stalins und ihrer Nachfolger fort. Und Trotzkis Ideologie der kommunistischen Weltrevolution begründet den sowjetischen Imperialismus genauso wie die russische Orthodoxie den Imperialismus der Zaren. Wie schon seit Wladimirs Taufe 988 die russische Orthodoxie auch dazu diente, Ziele politischer Macht der russischen Herrschaft nur zu verkleiden, so war auch unter Stalin die Ideologie des Sowjetkommunismus nur noch notdürftige moralische Hülle nackter Gewaltausübung. Orthodoxie und Sowjetkommunismus bilden als Zwillingspaar über ein Jahrtausend hinweg die wesentliche Legitimationsquelle russischer Autokratie und russischer Expansion.
Im Besitz des rechten Glaubens
So bildet die historische, orthodoxe Herrschaftsideologie auch heute wieder den Goldgrund für Putins autokratisches Regime und seinen wiederbelebten russischen Expansionismus. Wer im orthodoxen Alleinbesitz letzter Wahrheiten ist, kann ernsthafte und dauerhafte Kompromisse nicht zulassen. Denn solche setzen Toleranz gegenüber anderen, gleichberechtigten Wahrheiten voraus. Das macht die fortdauernde Gefährlichkeit dieser tief verankerten, orthodox gerechtfertigten russischen Herrschaftspsychologie aus. Wer im Rahmen eines missionarischen Auftrags für sich das politische Recht in Anspruch nimmt, alleine den rechten Glauben zu verbreiten, der kennt keine Grenzen.
Jörg Himmelreich lehrt politische Wissenschaft an der Jacobs-Universität in Bremen.
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