Mittwoch, 29. April 2015

Rückkehr des Sozialistischen Realismus?


aus nzz.ch, 28.4.2015, 05:30 Uhr

Zensur in Putins Russland
Zurück zum sozialistischen Realismus?

von Oliver Bilger

Auf Moskauer Bahngleisen wird die Leiche eines jungen Knaben: nackt, der Bauch aufgeschlitzt, der Mund vollgestopft mit Erde. Der Geheimdienstoffizier Leo Demidow soll den Fall im Jahr 1953 rasch zu den Akten legen, seine heimlichen Nachforschungen führen ihn jedoch bald auf die Spur eines Serienmörders. Die Obrigkeit will die Taten vertuschen – die Verbrechen passen nicht in die stalinistische Sowjetunion. Das ist die Handlung des Kriminalromans «Child 44» des Briten Tom Rob Smith. Hollywood hat die Geschichte gerade verfilmt* – doch der Film passt nicht in Putins Russland. So wie manch andere Kulturdarbietung.



«Verzerrte Tatsachen»

Seit vorletzter Woche sollte der Film in russischen Kinos laufen. Kurz vor der Premiere aber stoppten Verleih und Kulturministerium alle Vorführungen. In der Kritik steht die «Verzerrung historischer Tatsachen». Der Film stelle die UdSSR dar wie Mordor, erklärte Kulturminister Wladimir Medinski, die Brutstätte des Bösen in Tolkiens «Herr der Ringe», voller körperlich und moralisch minderwertiger Untermenschen. «Child 44» sei es nicht wert, in der Zeit der 70-Jahr-Feier des Sieges über Hitlerdeutschland gezeigt zu werden. Der 9. Mai ist in Russland höchster und zugleich identitätsstiftender Feiertag. Angesichts des Ukraine-Konflikts und der gestörten Ost-West-Beziehung ist er wichtiger denn je. Aber schon seit längerem feilt der Kreml am Geschichtsbild des Landes, unter Putin ist eine Rehabilitierung des Stalinismus in Gang gekommen. Medinski selbst war vor seinem Ministeramt Mitglied der berüchtigten Kommission «zur Verhinderung von Versuchen der Geschichtsfälschung zum Nachteil der Interessen Russlands».

«Child 44» war, anders als der Bestseller aus dem Jahr 2008, bereits vorab bei der Kritik durchgefallen. Das Verbot bescherte dem Film in Russland eine Aufmerksamkeit, die er im Kino kaum erlangt hätte. Gleichzeitig kamen Zensurvorwürfe auf. Künstler und Kunstschaffende sehen in dem Vorgehen des Ministeriums einen Angriff auf ihre Freiheiten. In einer Gesellschaft müsse es erlaubt sein, Geschichte unterschiedlich darzustellen, erklärte die Bürgerrechtlerin Ljudmila Alexejewa. Das Kulturministerium steht nicht zum ersten Mal in der Kritik. Ende März sorgte Medinski für die Absetzung einer «Tannhäuser»-Inszenierung am Opernhaus von Nowosibirsk, da orthodoxe Christen sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt sahen. Die Oper in der sibirischen Metropole zählt zu den wichtigsten Bühnen des Landes. Dort hatte der Jungregisseur Timofei Kuljabin die Handlung des Wagner-Klassikers in die Neuzeit verlegt: Tannhäuser ist ein Filmregisseur, der ein provokantes Werk präsentiert, mit Jesus Christus im Venusberg. Die Kirche klagte wegen Blasphemie. Der Vizekulturminister nannte die Szenen in einem von Staatsgeldern finanzierten Theater «unzulässig». Am Ende musste der Direktor des Hauses seinen Posten räumen, er wird durch einen regierungsfreundlichen Intendanten ersetzt.



Hetze und Klagen gegen Künstler sind in Russland nicht neu, doch in letzter Zeit häufen sich die Fälle. Die Kirche, in Putins konservativ-patriotischer Gesellschaft ohnehin eine wichtige Machtstütze, übernimmt dabei eine tragende Rolle: Gemeinsam mit Staatsanwaltschaft und Behörden geht man rasch gegen unliebsame Kunst vor.

Umstritten bei Kirchentreuen und Patrioten war zu Jahresbeginn auch der Golden-Globe-Gewinner und Oscar-nominierte Film «Leviathan». Hardliner sahen darin vor allem eine Kritik am System Putin, obwohl Regisseur Andrei Swjaginzew betonte, das Werk sei universell und könne überall spielen. Auch Minister Medinski schaltete sich in die Diskussion ein und meinte, die russische Realität werde falsch dargestellt, im Film wehe der «Geist der Ausweglosigkeit und Sinnlosigkeit unseres Daseins». Sein Ressort will künftig keine Filme mehr unterstützen, die die Staatsmacht «bespucken». Der Regisseur Swjaginzew erklärte, Medinski sehe Filme als ideologisches Instrument. Patriotismus aber, der dunkle und problematische Bereiche der Gesellschaft verschleiere, hält der Filmemacher für ignorant und unaufgeklärt.



Alte und neue Hebel des Staates

Russische Künstler fürchten, die Staatsführung wolle nach Politik und Medien nun den Kulturbetrieb gleichschalten. Sie sehen Russland auf dem Weg zurück in Zeiten des sozialistischen Realismus. Die Ideologie der Sowjetzeit rückte positive Themen aus dem sozialistischen Alltag in den Vordergrund – und schuf eine konfliktfreie Kunst im Dienst der stalinistischen Gesellschaftstheorie.

Dazu braucht es heute keine offizielle Zensur. In den vergangenen Jahren verschärfte Russland Gesetze, die offiziell zum Schutz religiöser Gefühle sowie Minderjähriger dienen sollen; neu verbannt eine weitere Vorschrift Vulgärsprache und Flüche aus Fernsehen, Kino, Literatur sowie von Theater- und Konzertbühnen. Es sind Hebel des Staates, auf Unliebsames einwirken zu können und eine kulturelle Agenda vorzugeben. Künstler setzen mit umstrittenen Projekten ihre Finanzierung auf Spiel, denn in vielen Fällen entscheidet der Staat über die Unterstützung. 95 Milliarden Rubel (knapp 1,7 Milliarden Franken) betrug das Kulturbudget 2014. Im Zug der Wirtschaftskrise wurde es um zehn Prozent gekürzt. In anderen Fällen raten Offizielle privaten Geldgebern von einer Unterstützung ab. All das verleitet zur Selbstzensur.



Der Staat drängt offenbar auf weitere Kontrolle. Magomedsalam Magomedow, stellvertretender Chef der Präsidialverwaltung, meint, Experten sollten die Aufführungen, insbesondere an Staatstheatern, überprüfen, um neue Skandale zu vermeiden. Gezeigt werden sollten Inhalte, die die Menschen zusammenschweissten, statt die Gesellschaft zu spalten. In der Kulturszene wachsen aufgrund solcher Äusserungen die Sorgen. Im Fall der «Tannhäuser»-Inszenierung schrieben Intellektuelle und Kreative in Nowosibirsk an den dortigen Gouverneur, kirchliche Zensur habe schon oft zu einer Verarmung der Kunst geführt. Jeder Künstler habe das Recht, Glaubensfragen selbst zu interpretieren. Russlands Verband alternativer Filmschaffender warf Medinski eine «Antikulturpolitik» vor und forderte seinen Rücktritt: Er habe mehrfach gegen die russische Verfassung verstossen, in der die Kunstfreiheit festgeschrieben sei.

Der Minister widerspricht allen Zensurvorwürfen und erklärt, er sei gegen jedes Verbot von Kreativität. Selbst der «Tannhäuser» könnte in der nächsten Saison wieder in den Spielplan aufgenommen werden, wohl aber in einer überarbeiteten Version. Auch soll das Verbot für den Film «Child 44» nicht für den DVD-Verkauf gelten. Das Kulturministerium will das Werk sogar auf seinem eigenen Internetportal zugänglich machen. Begleitet von detaillierten kritischen Kommentaren russischer Historiker von seinen Gnaden.

*) Eine erste - sehr gute - Verfilmung mit Donald Sutherland in der Hauptrolle geschah 1995 unter dem Titel Citizen X. JE



Nota. - Beachten Sie: Sozialistisch-realistisch ist lediglich die obige Skulptur; der Sockel jedoch (s. ganz oben) ist ein markanter Eintrag in das tragische Kapitel Sowjetmoderne.
JE

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