Sonntag, 5. April 2015

Der Weihrauch der Autokratie.


aus nzz.ch, 2.4.2015, 05:30 Uhr

Die russisch-orthodoxe Kirche und ihre Mission
Putins Dienerin
Wer meint, dass das russisch-orthodoxe Denken jemals verschwunden war, irrt. Selbst der religionsfeindliche Sowjetkommunismus war eine ins Weltlich-Politische verwandelte irdische Ideologie der russischen Orthodoxie. Heute schafft diese den Goldgrund für Putins autokratisches Regime und sein Expansionsstreben.

von Jörg Himmelreich 

In der kommenden Woche werden viele Millionen Russen in mehrstündigen Gottesdiensten wie jedes Jahr das russische Osterfest feiern. Es ist das höchste Fest der russisch-orthodoxen Kirche. Im Gegensatz zu den westlichen Kirchen braucht sich die orthodoxe Kirche über den Zuspruch in der Bevölkerung nicht zu beklagen. Mehr als zwei Drittel der Russen bekennen sich zu ihr. Das zeigt an, wie tief die Kirche heute wieder in Russland verankert ist.

Ein übergreifendes Band

Ihr Verhältnis zum Staat war seit je ein fundamental anderes als in Westeuropa. Ja Putins wiederbelebter russischer Expansionismus heute ist gar nicht zu verstehen ohne die elementare Bedeutung der russischen Kirche und ihres orthodoxen Religionsverständnisses gerade für diese Politik. Putins Aggression überrascht uns auch deswegen, weil wir verkannt haben, wie tief die politische Theologie der orthodoxen Kirche das politische Selbstverständnis Russlands auch heute wieder so prägt, wie sie es schon Jahrhunderte zuvor getan hat. Die Verfolgung und Enteignung der Kirche zu Zeiten des Sowjetkommunismus nimmt sich dagegen nur als eine oberflächliche, temporäre und kurze Unterbrechung von siebzig Jahren aus.


Als der Kiewer Grossfürst Wladimir im Jahre 988 den orthodoxen Glauben des damaligen oströmischen Byzanz annahm und durch Massentaufen seine Bevölkerung zwang, ihm zu folgen, war das eine historische Weichenstellung. Sie wirkt bis heute nach. Zum einen begründete sie in Zeiten der damaligen Konkurrenz mit anderen russischen Teilfürstentümern und Städten in der Kiewer Rus erstmals ein übergreifendes vereinigendes Band. Denn der orthodoxe Glaube verbreitete sich schnell. So stiftete er in den Wirren und Kämpfen der einzelnen Teilfürstentümer in der Kiewer Rus eine gemeinsame Identität, die es politisch und kulturell noch nicht gab. Und das gilt auch heute noch: Wer sich in dem Vielvölkerstaat Russland als wahrer Russe versteht, bekennt sich zur orthodoxen Kirche. Das Bekenntnis zur orthodoxen Kirche ist oft mehr ein nationales denn ein religiöses.

Das «Dritte Rom»

Zum anderen begann mit der byzantinischen Taufe die wesentliche Abweichung Russlands vom Weg der westeuropäischen Geschichte. In Westeuropa kämpften im Mittelalter machtbewusste weströmische Päpste mit deutschen Königen im Investiturstreit um die politische Vorrangstellung von Staat und Kirche. Im oströmischen Konstantinopel galt dagegen das von Kaiser Konstantin (270/288–337) begründete Prinzip der Harmonie zwischen Staat und Kirche, der «Symphonia». Zu den Zeiten der Taufe Wladimirs sah sich die orthodoxe Kirche in Byzanz schon derart von weströmischem Katholizismus im Westen und gleichzeitig vom osmanischen Islam im Osten religiös bedrängt, dass spätestens dann byzantinische Kaiser zu Schutzherren der orthodoxen Kirche erwuchsen.

Ein Gang nach Canossa, mit dem der deutsche König Heinrich IV. im Jahre 1077 den römischen Papst Gregor VII. darum bat, seine kirchliche Verbannung aufzuheben – das war in Byzanz wie auch später in Kiew undenkbar. Die die westeuropäische Geschichte so prägende und im Investiturstreit ausgefochtene Trennung von Staat und Kirche und die Unterscheidung zwischen der Gewalt des Papstes und der des Kaisers waren dem orthodoxen Verhältnis von Staat und Kirche völlig fremd. Wie die Kaiser in Byzanz verstanden sich die Kiewer Fürsten von Anfang an auch als Schutzherren der orthodoxen Kirche.

Dies erst recht, als 1453 Konstantinopel in die Hände der Osmanen fiel. Das Grossfürstentum Moskau war unter Wassili II. (1415–1462) und Iwan III. (1440–1505) dabei, die einzelnen Teilfürstentümer und Städte der Rus zu «sammeln», die sich gerade von der Mongolenherrschaft der «Goldenen Horde» befreiten, und zur neuen russischen Vormacht aufzusteigen. Moskau war damit zum einzigen und letzten sicheren politischen Hort des orthodoxen Glaubens geworden. Die russische orthodoxe Kirche löste sich von der Vormundschaft des byzantinischen Patriarchats und wurde autokephal. Dankbar pries die orthodoxe Kirche Moskau als das «Dritte Rom». Der Mönch Filofej (1465–1542) aus Pskow formulierte schon 1510 eine politische Theorie russischer Herrschaft, deren Kontinuität bis heute fortwirkt: «Alle christlichen Reiche sind vergangen und sind zusammen übergegangen in das Eine Reich unseres Herrn: Das ist das Russische Reich. Denn zwei Rome sind gefallen, aber das dritte steht, und ein viertes wird es nicht geben.»

So ruhten alle Hoffnungen, diese Welt zu erlösen, alleine auf Moskau – so zumindest der Glaube von Kirche und Staat in Russland. Wie schon der byzantinische Kaiser Justinian (482–565) zuvor seine Herrschaft unmittelbar von Gott abgeleitet hatte, beanspruchten jetzt auch die Moskauer Grossfürsten als Schutzherren der Kirche Vertreter Gottes auf Erden zu sein. Damit rechtfertigte die russische Kirche die politische Autokratie aller russischen Herrscher gleichsam religiös. Denn die Autokratie war eben gottgewollt.

Das Erbe von Byzanz begründete auf diese Weise das politische Selbstverständnis einer heilsgeschichtlichen Auserwähltheit Russlands – auch das herrscht bis heute ungebrochen und ununterbrochen vor. Die Zaren kamen gleichsam einem messianischen Auftrag nach, die Menschen zu erlösen und orthodoxe Christen zu schützen, wenn sie das russische Zarenreich über die Jahrhunderte hinweg in alle Himmelsrichtungen ausdehnten. Besser liessen sich geopolitische Ambitionen nicht verbrämen. Die orthodoxe Kirche lieferte die religiöse Rechtfertigung für zaristische Autokratie und für russischen Expansionsdrang.

Orthodoxie und Sowjetkommunismus

Zwar gab es in der Kirche immer wieder Versuche, dieses Verhältnis zum Staat zu reformieren. So forderte der einflussreiche Patriarch Nikon (1605–1681) noch einmal den Primat der geistlichen Herrschaft und das Recht der Kirche, in weltlich-politischen Fragen mitzusprechen, wurde aber 1660 seines Amtes enthoben. Am Ende änderte sich die grundsätzliche Unterwerfung der Kirche unter die Zarenherrschaft nicht. Im Gegenteil: Ihre verbliebene Eigenständigkeit wurde fortwährend beschnitten. Peter der Grosse schaffte das Amt des Patriarchen ganz ab, übertrug die Leitung der Kirche 1721 dem «Heiligsten Dirigierenden Synod», gliederte den Synod in die staatliche Verwaltung ein und beraubte damit die Kirche endgültig ihrer Unabhängigkeit. Diesen aufklärerischen Kurs setzten seine Nachfolger, insbesondere Katharina die Grosse, fort. Die Kirche war ein selbstverständlicher Teil Russlands und der zaristischen Autokratie geworden, in der Gesellschaft marginalisierte sie sich. Im aufkommenden Nationalismus im Russland des 19. Jahrhunderts, dessen Bevölkerung nur zu 44 Prozent aus ethnischen Russen bestand, sah die übrige Bevölkerung sie zumeist als Instrument zaristischer Autokratie zur Unterdrückung und Russifizierung.

Kein Wunder, dass die russische Revolution 1917 mit dem Zarentum auch die orthodoxe Kirche hinwegfegte. Der Kirchenbesitz wurde eingezogen, Geistliche wurden verfolgt und Religion zur Privatsache erklärt. Die Kirche fristete in der UdSSR ein Schattendasein. Erst mit dem Millennium der Christianisierung der Rus 1988 gewann sie unter Gorbatschow wieder an Bedeutung und erhielt ihren Grundbesitz zurück. Seitdem kann kein russischer Präsident auf sie verzichten, wenn es darum geht, wieder eine nationale grossrussische Identität zu stiften. Wie in der jahrhundertelangen Vergangenheit ist die orthodoxe Kirche auch heute wieder Dienerin ihres Herrn.
Die orthodoxe Kirche, die zu Sowjetzeiten und darüber hinaus in Ruinen lag (hier 1998 in Krapiviye), erstrahlt heute in neuer Pracht und Macht.1998 in Krapiviye

Diese jahrhundertealte Staatsideologie der orthodoxen Kirche ist tief in die russische Herrschaftspsychologie eingraviert. Auch die aufgeklärteren Zaren, wie Peter I. und Katharina II., haben mit ihren Expansionen des Zarenreichs im 18. Jahrhundert auf sie aufgebaut.

Selbst der Sowjetkommunismus trug orthodoxe Herrschaftsmerkmale. Er war am Ende nichts anderes als eine ins Weltlich-Politische verwandelte irdische Ideologie der russischen Orthodoxie, so wie sie der Mönch Filofej schon 400 Jahre früher formuliert hatte. Die messianische Heilserwartung des «Dritten Rom» entspricht dem weltlichen Befreiungsgedanken der kommunistischen Ideologie. Als «letztes Rom» der Christenheit allein im Besitz der letzten absoluten Wahrheit zu sein, verweist auf den totalitären Anspruch des Sowjetkommunismus. Die orthodoxe Rechtfertigung russischer Autokratie setzt sich in der Sowjetdiktatur Lenins, Stalins und ihrer Nachfolger fort. Und Trotzkis Ideologie der kommunistischen Weltrevolution begründet den sowjetischen Imperialismus genauso wie die russische Orthodoxie den Imperialismus der Zaren. Wie schon seit Wladimirs Taufe 988 die russische Orthodoxie auch dazu diente, Ziele politischer Macht der russischen Herrschaft nur zu verkleiden, so war auch unter Stalin die Ideologie des Sowjetkommunismus nur noch notdürftige moralische Hülle nackter Gewaltausübung. Orthodoxie und Sowjetkommunismus bilden als Zwillingspaar über ein Jahrtausend hinweg die wesentliche Legitimationsquelle russischer Autokratie und russischer Expansion.

Im Besitz des rechten Glaubens

So bildet die historische, orthodoxe Herrschaftsideologie auch heute wieder den Goldgrund für Putins autokratisches Regime und seinen wiederbelebten russischen Expansionismus. Wer im orthodoxen Alleinbesitz letzter Wahrheiten ist, kann ernsthafte und dauerhafte Kompromisse nicht zulassen. Denn solche setzen Toleranz gegenüber anderen, gleichberechtigten Wahrheiten voraus. Das macht die fortdauernde Gefährlichkeit dieser tief verankerten, orthodox gerechtfertigten russischen Herrschaftspsychologie aus. Wer im Rahmen eines missionarischen Auftrags für sich das politische Recht in Anspruch nimmt, alleine den rechten Glauben zu verbreiten, der kennt keine Grenzen.

Jörg Himmelreich lehrt politische Wissenschaft an der Jacobs-Universität in Bremen.






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