Donnerstag, 30. April 2015

Armenien.

aus nzz.ch, 29. 4. 2015                                                                                    Kaiser Wilhelm II. mit Kriegsminister Enver Pascha.
  
Neue Forschungsliteratur über den Genozid an den Armeniern
Der erste Völkermord im 20. Jahrhundert
In einigen der neueren Bücher über den Völkermord an den Armeniern wird auch die Frage einer deutschen Mitschuld aufgeworfen.

von Edward Kanterian

Man hört immer wieder von offizieller türkischer Seite, es habe nie einen Völkermord an den Armeniern gegeben. In der heutigen Geschichtsforschung ist dies jedoch keine ernstzunehmende These, sondern ein Kapitel der Rezeptionsgeschichte des Völkermords. Und der gelegentlich zu vernehmenden (fadenscheinigen) Aufforderung, türkische und armenische Historiker sollten gemeinsam und unvoreingenommen die Geschichte erforschen, ist längst schon entsprochen worden. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür liefert die 2011 in den USA erschienene, sorgfältig recherchierte Dokumentation «Judgment at Istanbul», die von den türkischen Militärtribunalen 1919 bis 1922 handelt. Als Autoren zeichnen zwei Experten des Themas, der Türke Taner Akçam und der Armenier Vahakn Dadrian. In diesen Prozessen wurden viele der Hauptverantwortlichen des Völkermords wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu Tode verurteilt, darunter Talât Pascha und Enver Pascha. Die Prozessakten belegen, dass der Massenmord in der Türkei kurz nach dem Krieg als schändliche Tatsache galt, bevor man ihn nach der «nationalen Wiedergeburt» zu leugnen anfing.

Sechs Phasen eines Verbrechens

Noch eindrucksvoller ist die soeben in Frankreich publizierte Monografie «Comprendre le génocide des Arméniens», von einem armenischen (Raymond Kévorkian), einem türkischen (Hamit Bozarslan) und einem französischen Historiker (Vincent Duclert) verfasst. Das gewichtige Werk hat gute Chancen, zu einem Standardwerk zu avancieren, und sollte auch ins Deutsche übersetzt werden, da auf Deutsch nichts Vergleichbares existiert. Je ein Kapitel ist der Chronik der Ereignisse, den ideologischen und staatlichen Grundlagen des Massenmords und seiner Rezeptionsgeschichte gewidmet. Zitiert werden osmanische und westliche Archive, Überlebende und Zeitzeugen sowie die inzwischen sehr umfangreiche Sekundärliteratur.

Die Autoren unterscheiden sechs Phasen des Völkermords: Zuerst wurden im Februar bis im Mai 1915 armenische Soldaten in der türkischen Armee entwaffnet, in Arbeitsbataillone gesteckt und dann hingerichtet, wie schliesslich alle wehrfähigen Männer. Ende März desselben Jahres begann, zweitens, die Vernichtung der Zivilbevölkerung mit vereinzelten Deportationen sowie, in der Region Van, mit der Ermordung von 58 000 Dorfbewohnern. Drittens wurde ab dem 24. April die armenische Oberschicht im ganzen Land verhaftet und ermordet; sodann, viertens, wurden von Mai bis Juli über eine Million Frauen, Kinder und Alte aus den Ostprovinzen in die Syrische Wüste vertrieben und zum grossen Teil unterwegs massakriert. Schliesslich kam es 1916 in den Wüstenlagern in Deir ez-Zor und Ras ul-Ayn zu systematischen Massakern, deren Bestialität jede Vorstellung übersteigt. Zwischen 1,2 und 1,5 Millionen Armenier waren am Ende tot.

Waffenbrüder

In der Debatte über diesen Völkermord wird mitunter auf die deutsche Mitschuld hingewiesen. Erstaunlicherweise gab es bisher keine deutschsprachigen Publikationen zu diesem Thema. Wichtige Untersuchungen von Vahakn N. Dadrian und Christoph Dinkel aus den neunziger Jahren sind auf Englisch verfasst. Laut Dadrian waren die Deutschen zwar keine Vollstrecker des Massenmords (von einigen Ausnahmen abgesehen), aber als Alliierte und Ideengeber hatten sie eine katalysierende Wirkung auf die sich radikalisierende antiarmenische Politik im Osmanischen Reich. Dadrian wies auch auf die Politik der Nichteinmischung Wilhelms II. im Blick auf die bereits unter dem osmanischen Sultan Abdul Hamid II. begangenen Massaker hin, denen 1894 bis 1896 an die 200 000 Armenier zum Opfer fielen. Dieser Aspekt deutsch-türkischer Freundschaft blieb bis zum Völkermord während des Ersten Weltkrieges unverändert. So schrieb der deutsche Reichskanzler Bethmann-Hollweg in Dezember 1915: «Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.»

Zudem gab es laut Dadrian auf deutscher Seite sehr mächtige protürkische und antiarmenische Stimmen. Schon 1897 argumentierte Generalfeldmarschall Colmar von der Goltz, die Türkei sei gut beraten, ihren asiatischen Teil zu konsolidieren und den Kaukasus mithilfe der Turkvölker zu erobern. Auf einem Vortrag im Februar 1914 in Berlin, dem auch türkische Diplomaten beiwohnten, soll er zudem vorgeschlagen haben, die Armenier in den östlichen Provinzen des Landes nach Syrien und Mesopotamien umzusiedeln, um der Gefahr eines «Dolchstosses» zuvorzukommen. Genauso redeten und handelten die Jungtürken gegen die Armenier 1915, nur dass sie mit «Umsiedlung» die Vernichtung meinten.

Gegen Dadrian hat der britische Genozid-Experte Donald Bloxham in einem Buch von 2005 Einspruch erhoben. Für Bloxham beschränkt sich Deutschlands Mitschuld darauf, dass es nicht gegen den Massenmord intervenierte. Zwar habe das Kaiserreich die Vernichtung der Armenier akzeptiert, doch habe es selbst nicht aktiv dazu beigetragen. Eine kritischere Position bezieht Jürgen Gottschlich in «Beihilfe zum Völkermord». Der Mitbegründer der Berliner «Tageszeitung» und Türkei-Korrespondent zeigt in seinem stellenweise wie eine spannende Reportage geschriebenen Buch, wie eng die Beziehungen zwischen Schlüsselfiguren der beiden Seiten, der deutschen und der türkischen, waren. Er beschreibt etwa die Freundschaft zwischen dem osmanischen Kriegsminister Enver Pascha und dem Deutschen Hans Humann, der als Marineattaché und Agent in Konstantinopel alles tat, um Envers Paranoia gegen die Armenier zu schüren. Auf dem Höhepunkt der Deportationen im Juni 1915 berichtete der deutsche Konsul in Mosul: «Leichen und menschliche Glieder treiben seit einigen Tagen im Fluss hier vorbei.» Dazu Humann offiziell: «Die Armenier werden – aus Anlass ihrer Verschwörung mit den Russen! – jetzt mehr oder weniger ausgerottet. Das ist hart, aber nützlich.»

Ähnlich dachten andere deutsche Militärs, die höchste Positionen in der osmanischen Armee innehatten, etwa Friedrich Bronsart von Schellendorf, Generalstabschef des türkischen Heeres, und sein Operationschef Otto von Feldmann. Schellendorf schrieb 1919: «Der Armenier ist, wie der Jude, ausserhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit eines anderen Landes, in dem er sich niedergelassen hat, aufsaugt.» Beide Militärs gehörten zu den engsten Beratern Enver Paschas. Ihre Rolle bei der Planung der Deportationen ist bis heute nicht geklärt, da die relevanten Sitzungsprotokolle fehlen. Ein Versuch Gottschlichs, entsprechende Dokumente im Militärarchiv in Ankara einzusehen, wurde abgeblockt.

Rettungsversuche des Papstes

Gottschlich bemängelt zu Recht, dass deutsche Historiker den Völkermord an den Armeniern bisher zu wenig erforscht haben. Aber es werden mehr. Michael Hesemanns Buch «Völkermord an den Armeniern» ist eine gut lesbare Gesamtdarstellung nicht nur des Genozids von 1915/16, sondern auch der anderen türkischen Verbrechen an den Armeniern, sowohl jener unter Sultan Abdul Hamid II. als auch der weniger bekannten unter Atatürk (1920/21) begangenen. Der Autor hat im Vatikanischen Geheimarchiv Hunderte von unbekannten Dokumenten entdeckt, die das schreckliche Ausmass des Völkermords bezeugen. Er führt vor Augen, dass auch der Papst schon bald über die Vernichtung der Armenier Bescheid wusste und sein Möglichstes für deren Rettung unternahm – ohne Erfolg. 

Zwar versuchte die Hohe Pforte die Geschehnisse zu vertuschen. Doch selbst auf diplomatischer Ebene vermochten die Osmanen ihren Hass gegen die Armenier nicht zu unterdrücken, wie ein Brief von Sultan Mehmet V. an Benedikt XV. belegt. Darin werden die armenischen Politiker eines «Dolchstosses» «in Rücksprache mit unseren Feinden» bezichtigt, der es «unseren Behörden praktisch unmöglich [machte], einen Unterschied zwischen dem friedlichen und dem aufrührerischen Element zu machen», und eine «generelle Umsiedlung» erzwungen habe. Die Türkei hält bis heute an dieser Sichtweise fest, noch immer de facto unterstützt von einer deutschen Politik der «Nichteinmischung».

Hamit Bozarslan, Vincent Duclert, Raymond H. Kévorkian: Comprendre le génocide des arméniens – 1915 à nos jours. Editions Tallandier, Paris 2015. 495 S., € 21.50.
Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier. Verlag Christoph Links, Berlin 2015 344 S., Fr. 27.90. 
Michael Hesemann: Völkermord an den Armeniern. Herbig, München 2015. 352 S., Fr. 39.90.

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