Samstag, 11. April 2015

Der Schweizer Sonderweg.

aus nzz.ch, 10.4.2015, 13:53 Uhr

Thomas Maissens Aufklärungsbuch zur helvetischen Historie
Geschichte und Heldengeschichten

von Francisca Loetz 

Wir brauchen sie offenbar, unsere Helden. Besorgt werden Jugendliche in Umfragen nach ihren Vorbildern befragt. Besorgt beklagen einige Kreise, dass den Schweizern das Wissen um die Helden ihrer Geschichte abhandenkomme. Wie gut, dass auch Thomas Maissen, der ausgewiesene Kenner der politischen Geschichte der Schweiz, danach fragt, was hinter den Heldengeschichten der kollektiven Erinnerung steckt. Der Verlag Hier und Jetzt kommt mit Maissens Buch im Jahr der vielen Nationaljubiläen punktgenau auf den Markt. Der Autor rührt an heikle Aspekte des Schweizer Selbstverständnisses. Er wagt es, die Topoi von der Schweiz als Sonderfall – einer Schweiz, die inmitten eines feindlichen Umfelds dank dem wehrhaften und solidarischen Zusammenhalt ihrer Bürger über Jahrhunderte hinweg einzigartige Freiheiten zu erringen und zu behaupten gewusst habe – auf ihren historischen Gehalt zu überprüfen. Er erklärt, wie die «Narrative» entstanden und verbreitet worden sind, in denen die Schweiz als David tapfer und erfolgreich gegen Goliath, gegen die Nachbarn, kämpft. Wo in der Erinnerungspolitik erfunden, geschönt und verdrängt worden ist und weiterhin wird, darüber klärt Maissen auf.

Eine Inventur

Maissen geht mit journalistisch geübter Feder fern jeglicher Polemik ans Werk. Den Kapiteln sind Zitate von Christoph Blocher und eines von Ueli Maurer* vorangestellt, in denen die Politiker mit ihrer Sicht der Schweizer Geschichte zu Wort kommen. Den Zitaten stellt Maissen die historischen Quellen und den gegenwärtigen Forschungsstand gegenüber. Nüchtern trägt er zusammen, was die Geschichtswissenschaft an Entmythologisierung der grossen Erzählungen geleistet hat und was man ausführlicher in seinem 2010 erschienenen Buch «Geschichte der Schweiz» nachlesen kann. Von dem, was manche noch aus ihren Schulzeiten kennen und was uns einige Politiker glauben machen wollen, bleibt wenig übrig: Der offen geschlossene Bund von 1291 hat mit dem romantisierten heimlichen Rütlischwur nichts zu tun. Wilhelm Tell, so ruft Maissen in Erinnerung, ist eine Erfindung des 15. Jahrhunderts. Die Erzählung von den solidarischen Eidgenossen löst sich angesichts der vielen Quellen auf, welche die wechselnden Bündnisse und Konflikte dokumentieren, in denen die Eidgenossen ihre je eigenen Interessen verfolgten. Die seit Marignano geschickt verfochtene Neutralität und die 1648 intelligent errungene Unabhängigkeit sind nicht mehr als Erfolgsgeschichte zu verkaufen.

Die Unterlegenheit der schweizerischen Kriegstechnologie ab 1515 zwang zur Neutralität. Im Westfälischen Frieden sagte sich nicht die Schweiz vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation los, sondern wurde der Eidgenossenschaft dank französischer Einflussnahme das reichsrechtliche Privileg gewährt, nicht mehr dem Reichsgericht zu unterstehen. Es waren die Konkurrenten des Reichs, welche diese Regelung als Anerkennung der Schweizer Souveränität uminterpretierten, obwohl dafür jegliche völkerrechtliche Grundlage fehlte. Die altehrwürdige direkte Demokratie, sie entwickelt sich mühsam aus dem Kampf rechtlich ungleicher Einwohner für ihre Bürgerrechte und schliesst bis 1971 (auf Bundesebene) Frauen aus. Die Bundesverfassung verliert den Glanz des nationalen Einigungsaktes. Zermürbende, jahrzehntelange Bürgerkriege mussten die Einwohner der Schweiz erst dazu bringen, sich kriegsmüde zur Nation zusammenzuschliessen. Die friedliche Insel im Europa der Weltkriege des 20. Jahrhunderts verliert als Land, das die Krisensituation für Kriegsgewinne nutzt und antisemitische wie kriegsverlängernde politische Entscheidungen fällt, ihre Unschuld.


Rütliwiese

Lässt Maissen denn gar kein gutes Haar an den Schweizer Heldengeschichten? Diese Frage ist falsch gestellt. Als seriöser Wissenschafter sieht Maissen davon ab, «die» Schweizer Geschichte moralisch zu bewerten oder politisch zu instrumentalisieren. Es geht darum, die populären Heldengeschichten als selbstgefällige Geschichten aufzudecken, die den Stand der historiografischen Forschung schlichtweg ignorieren.

Frei von schulmeisterlichem Gestus beherrscht Maissen die Kunst, Dinge sprachlich auf den Punkt zu bringen. Hier nur ein Beispiel: «Tatsächlich hat die Eidgenossenschaft seit bald 500 Jahren alle Schlachten verloren, die sie gegen äussere Mächte führte. Ihr Glück war bloss, dass es nicht viele waren.» Wiederholt vergleicht er schweizerische Verhältnisse der Vergangenheit mit den zeitgenössischen Verhältnissen in den Nachbarländern oder mit heutigen politischen Konstellationen. Das macht seine Argumentation anschaulich, lebendig und nachdenkenswert.

Glaube und Irrglaube

Maissen hat bei all seinem Engagement für Schweizer Geschichte allerdings einige Chancen, die sich vom Thema her angeboten hätten, verpasst. Dass er seine Argumentation als eine wissenschaftlich begründete Replik auf die von Nationalkonservativen verbreiteten Geschichtsbilder anlegt, bedingt, dass er sich auf deren enges Verständnis von politischer Geschichte einschränkt. Er hätte jedoch die Verflechtung der Schweiz mit den Nachbarländern und den jeweiligen Grossmächten nicht nur auf der politischen, sondern auch auf der wirtschaftlichen und kulturellen Ebene stärker herausarbeiten können, wie es André Holenstein in seinem im letzten Herbst erschienenen «Mitten in Europa» tut. Auch hätte es auf der Hand gelegen, die Frage, was hinter Heldengeschichten steckt, selbst infrage zu stellen: Hat bzw. braucht Geschichte überhaupt Helden? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht?

So radikal geht Maissen nicht vor. Er tastet das landläufige Verständnis, was Geschichte sei, nicht an. Politische Geschichte erscheint weiterhin als die Heldin der Geschichtsschreibung. Maissen verweist zwar in seiner Einleitung auf Schweizer Geschichten im Plural, meint aber damit unterschiedliche Interpretationen der nationalen Geschichte, nicht unterschiedliche Formen und Methoden der Geschichtsschreibung, wie sie etwa die bei Schwabe vor einem Jahr herausgekommene «Geschichte der Schweiz» präsentiert. Es hätte sich da angeboten, die Diskussion fortzuführen, wie im Zeitalter der Globalisierung eine sinnvolle Schweizer Geschichte aussehen sollte.



Maissen geht mit seinen Korrekturen an den volkstümlichen Geschichtserzählungen weit, hätte jedoch noch grundlegendere anbringen können: Wer und was macht die Nation aus? Heldinnen und Helden aus dem Wirtschaftsleben, der Religion, den Wissenschaften, den Künsten, die den Alltag in der Schweiz und ihr Selbstverständnis mitgeprägt haben, gehören in seiner Darstellung jedenfalls nicht dazu. Und schwingen in Heldengeschichten nicht immer Geschichten von Antihelden mit, die als historische Buhmänner, etwa als (vermeintliche) Landesverräter, herhalten müssen?

Hat Thomas Maissen sich auch einige argumentative Chancen entgehen lassen, die Chance zur historischen Aufklärung hat er zweifellos am Schopf gepackt: Wer an die Schweizer Heldengeschichten glauben will, um sie in den Medien und der Politik zu gebrauchen oder zu missbrauchen, sie touristisch zu nutzen oder sich mit ihnen zu identifizieren, wird es weiterhin tun können. Wer aber behauptet, dieser Glaube beruhe auf geschichtswissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen, verbreitet einen Irrglauben. Dies demonstriert Maissen in aller wünschenswerten Klarheit.

*) Blocher, Maurer: die beiden Oberhäupter der Schweizerischen Volkspartei.

Thomas Maissen: Schweizer Heldengeschichten – und was dahintersteckt. Hier und Jetzt, Baden 2015. 240 S., Fr. 29.90.

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