Die Menschheit ist heute so friedlich wie noch nie
Dass die Gewalt explodiert, kommt uns nur so vor, weil unser Gedächtnis kurz ist. Wahr ist das Gegenteil: Im Lauf der Geschichte ging Gewalt frappant zurück. Psychologe Steven Pinker hat es bilanziert.
von Jürgen Langenbach
Wenn man die Nachrichten aufdreht, wird man von Islamisten und der Ukraine überflutet, und in irgendwelchen U-Bahn-Stationen schlagen Jugendliche jemanden tot, ganz ohne Grund. Gewalt ist allerorten, und so arg war sie noch nie! Nein, es ist gerade umgekehrt, so sicher und friedlich war es noch nie, das rechnete Steven Pinker, Psychologe in Harvard, erstmals 2007 vor, er wusste, dass er mit diesem Urteil „den Eindruck erweckt, es sei irgendwo zwischen Halluzination und Obszönität angesiedelt“.
- Die Welt wird immer friedlicher.
- Nein, es wird nicht immer alles nur schlimmer.
- Es wird alles immer besser.
Aber er hatte die Geschichte auf seiner Seite, und in die kam das Blutvergießen erst relativ spät, dafür aber bald uferlos: „Da erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot“ (1. Mose 4,8).
Dergleichen gibt es sonst in der Natur kaum, außer uns fallen nur Ameisen und Schimpansen mit Mord und Totschlag über Nachbarn her, innergesellschaftlich ist Gewalt verbreiteter, vor allem, wenn Männchen sich messen. Aber die Menschen überboten alles, wohl erst, als sie die Landwirtschaft erfunden hatten, zuvor lebten sie Jahrhunderttausende friedlich(er), darauf deuten heutige Jäger und Sammler, sie haben keinen Besitz, auf den andere ein Auge werfen könnten.
Als die Ersten von ihnen vor 11.000 Jahren sesshaft wurden und Tiere und Pflanzen domestizierten, ging es ihnen lang schlechter als zuvor, dann ging es bergauf, mit Besitz und Gewalt: Die erste Schlacht wurde vor 5500 Jahren um Hamoukar in Mesopotamien geschlagen, die nächste vor 3250 Jahren um San José in Mexiko. Beides waren Städte mit Mauern, hinter denen etwas zu holen war – Vorräte –, auch Kain erschlug einen (tierhaltenden) Bauern, nicht des Besitzes wegen, sondern weil Jahweh sein, des Ackerbauern, Opfer verschmähte und das des Hirten annahm.
Wie auch immer: Wenn eine Stadt erobert war, folgten fürchterliche Gemetzel, man kann sie auch im Alten Testament nachlesen. Das waren keine exotischen Besonderheiten: Als die Siedlung Schletz bei Aspern an der Zaya vor 5300 Jahren überfallen wurde, blieb keiner am Leben, nur die gebärfähigen Frauen wurden mitgenommen. So war es überall, das steht hinter Pinkers Argument: Die Gesamtzahl der Opfer stieg zwar mit der Sprengkraft der Waffen, der letzte große Krieg, der Zweite Weltkrieg, forderte 50 bis 70 Millionen Opfer, so viel wie kein anderer.
Aber wenn man statt der absoluten die relativen Zahlen nimmt, floss früher das Blut in ganz anderen Strömen: „Hätten die Kriege des 20. Jahrhunderts den gleichen Anteil der Bevölkerung getötet, wie das in Kriegen zwischen Stämmen üblich war, hätten sie nicht 100 Millionen Tote gefordert, sondern zwei Milliarden“, bilanziert Pinker.
Vernunft vermeidet Krieg.
Vor Jahrtausenden fanden 15 Prozent der Menschen den Tod durch organisierte Gewalt, im 20. Jahrhundert drei Prozent (durch Kriege und Genozide). Noch frappierender die Entwicklung bei der Gewalt innerhalb von Gesellschaften: An Mord und Totschlag starben im 14. Jh. 40 von 100.000 Menschen, im 20. Jh. 1,4. „Wir leben heute wahrscheinlich im friedlichsten Moment der ganzen Zeit, die unsere Art auf der Erde verbracht hat“, schloss Pinker: „Irgendetwas müssen wir richtig gemacht haben. Es wäre fein, genau zu wissen, was.“ 2011 hatte er eine Antwort: Es liege an der „Vernunft, die uns erlaubt, die Welt zu verstehen, Ideen auszutauschen und soziale Vereinbarungen auszuhandeln“.
Nota. - Sie meinen, ich wiederhole mich? Das kann man gar nicht oft genug wiederholen. Jede Generation - mit Ausnahme wohl der 68er - hat noch immer geglaubt, so schlimm wie heute war's noch nie. Aber jede vorige hat daraus den Schluss gezogen, sie müsse die Ärmel hochkrempeln und feste anpacken. Erst die heutige läuft plärrend durch die Straßen und schlägt blutige Schlachten - mit Prellungen, dicken Lippen und blauen Augen. Hinterher gehn sie zum Italiener - oder, besser noch, zum Griechen, schon aus Solidarität.
JE
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