aus nzz.ch, 28.12.2016, 07:00 Uhr
Informelle Netzwerke in Russland
Wo die Sowjetunion überlebt hat
Die
Sowjetunion verdankte ihre lange Existenz nicht der Planwirtschaft.
Entscheidend waren die Tricks, die Planwirtschaft zu umgehen. Solche
Seilschaften wird ein Land aber nur schwer wieder los.
Es gibt etwas, was Witzbolde die Paradoxien des Sowjetstaates nennen: 1. Keiner arbeitet, aber der Plan wird erfüllt. 2. Der Plan wird erfüllt, aber die Regale in den Geschäften sind leer. 3. Die Geschäfte sind leer, aber die Kühlschränke sind voll. 4. Die Kühlschränke sind voll, aber jeder ist unglücklich. 5. Jeder ist unglücklich, aber bei Wahlen stimmt jeder für den offiziellen Kandidaten. 6. Jeder stimmt für den offiziellen Kandidaten, aber der Staat ist zusammengebrochen.
In diesen Tagen, wo an den Zerfall der Sowjetunion vor 25 Jahren erinnert wird, ist angesichts dieser systemimmanenten Widersprüche ein Detail bemerkenswert: Dass die Sowjetunion überhaupt fast 70 Jahre bestehen konnte. Möglich war das, weil sich die entscheidenden Dinge nicht im planwirtschaftlich formellen, sondern im informellen Sektor abspielten. Beziehungen, Freundschaftsdienste und Korruption erwiesen sich als die beste Methode zur Verteilung der Ressourcen.
Es
gibt auch den Witz über den sowjetischen Präsidenten, der eine
scheinbar mustergültige Kolchose besichtigt und fragt: «Wer ist hier der
Chef?» Antwort: «Immer der, der gerade nicht im Gefängnis ist.»
Schliesslich war es ohne Gesetzesverstoss oft nicht möglich, einen
Betrieb zu führen. Auch im Russland nach der Wende gab es das Phänomen.
Wenn der Brandschutz vorschreibt, dass ein Ladengeschäft im Erdgeschoss
keine Gitter vor den Fenstern haben darf, aber wenn der Diebstahlschutz
Gitter verlangt – dann muss der Besitzer zum Schmiergeld für den
Inspekteur greifen und steht immer mit einem Bein im Gefängnis.
Informelle
Netzwerke werden dann wichtig, wenn keine sicheren Rechtsinstitutionen
bestehen. Haben diese Seilschaften einmal eine kritische Größe erlangt,
ist es aber leider sehr schwierig, sie allein durch die Einführung von
Regeln wieder auszumerzen. Auf dieses Problem machte jüngst die
Politikwissenschafterin Aljona Ledenjowa bei einem Vortrag aufmerksam.
So existiert in Russland inzwischen zwar technisch gesehen ein guter
Eigentumsschutz, aber trotzdem hielten es viele Magnaten im Jahr 2014
nach Ausbruch der Ukraine-Krise für angebracht, dem Kreml zu versichern,
er könne beliebig über ihre Unternehmen verfügen.
Was
Minderheitsaktionären den Schweiss auf die Stirn trieb, war für die
Milliardäre der beste Weg, Loyalität zu zeigen. Sie schützten ihre
Firmen damit letztlich besser, als es alleiniges Vertrauen auf das Recht
getan hätte. Solchen informellen Zusammenhängen in einer
Wirtschaftsstruktur ist mit dem technokratischen Erlassen von Gesetzen
nach westlichem Vorbild, wie es internationale Organisationen oft
verlangen, schwer beizukommen.
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