Samstag, 3. Dezember 2016

Vor 500 Jahren: die "Utopia" von Thomas Morus.

 
aus nzz.ch, Titelholzschnitt der Ausgabe von 1516

Gesellschaftskritik im Gewand der Ironie
Im Jahr 1517 ist ein philosophischer Dialog erschienen, der Geschichte geschrieben und eine literarische Gattung begründet hat: die «Utopia» des englischen Humanisten und Staatsmannes Thomas More.
 
von Werner von Koppenfels

Die Neue Welt, die Kolumbus 1492 entdeckte, wurde von Europa aus nicht nur als zu kultivierende Wildnis und auszubeutende Kolonie angesehen, sondern auch als eine Art wiedergefundenes Paradies; anders gesagt: als Alternative zur eigenen Mangelhaftigkeit. Die Andere Welt ist möglicherweise eine bessere. Noch Montaigne, der Naivität unverdächtig, preist knapp hundert Jahre später in seinem Essay über die «Kannibalen» das naturnahe Leben der Indianer als Abglanz des Goldenen Zeitalters. Selbst dass sie gelegentlich ihre toten Feinde verzehren, erhebt sie über die Europäer, die ihre Dissidenten bei lebendigem Leibe schmoren.

Ferne Insel mit Fernwirkung

Etwas anders steht es in einem schon 1516 erschienenen Buch von unvergleichlicher Fernwirkung. Dort erfährt man aus dem Mund eines Forschungsreisenden, der sich als Gefährte Vespuccis ausgibt und soeben auf der Südhalbkugel ein unbekanntes Inselreich entdeckt haben will, die wunderbarsten Erlebnisse einer Weltreise seien nicht irgendwelche sagenhaften Ungeheuer, sondern heilsam und weise eingerichtete Staatswesen.

Das Buch, das sich in elegantem Latein an eine gesamteuropäische gebildete Leserschaft wendet, trägt den vollen Titel «Ein wahrhaft goldenes, ebenso nutzbringendes wie unterhaltsames Büchlein über die beste Staatsverfassung und über die neue Insel Utopia, aus der Feder des hochberühmten Thomas Morus». Herausgegeben hat es der Humanist Petrus Egidius, mit dem sich der Jurist und Diplomat Sir Thomas More als Vertreter einer Londoner Handelsdelegation in Antwerpen angefreundet hatte.

Seine Fiktion dient als Erprobungsraum neuer Ideen: Witz und Ernst sind hier keine Gegensätze.
Von dieser biografischen Situation aus führt der Text von Europa nach Utopia und von der Realität in die Fiktion. Nach der Frühmesse im Liebfrauendom macht Egidius More mit dem Entdeckungsreisenden Raphael Hythlodeus bekannt, von dem es vieldeutig heisst, er sei welterfahren wie Odysseus und Platon. Um ihn nach seinen Erlebnissen zu befragen, zieht sich More mit ihm auf die Rasenbank hinter Mores Herberge zurück.

Den ersten, dialogisch-satirischen Teil, in dem der Weitgereiste als Krankheitsherd des europäischen Systems Machtgier und wirtschaftlichen Eigennutz ausmacht, beendet der Gang zum Mittagessen; nachmittags führt Raphael Hythlodeus dann sein positives Gegenbeispiel, den Inselstaat Utopia, systematisch vor Augen. Nach seinem leidenschaftlichen Schlussappell vertagt man die Aussprache auf ein andermal und begibt sich wiederum zu Tisch: ein listig-offenes Ende, wie man es auch von Mores Freund Erasmus kennt, als Auftrag an den Leser, seinen Standort im Disput selbst zu finden.

Thomas More, Hans Holbein d. J. um 1527
 
Im Spannungsfeld zeitgenössischer Machtansprüche ist der Humanist zum ironischen Grenzgang 
zwischen appellativem Realismus und fiktionalem Spiel verurteilt. Doch seine Fiktion dient als Erprobungsraum neuer Ideen: Witz und Ernst sind hier keine Gegensätze. Während Platons «Staat» als hypothetische Konstruktion entworfen war, ist Utopia in genialer Zweideutigkeit ausser- und innerweltlich situiert. Es bleibt ideales Phantasieland der Antipoden Europas und erscheint doch in der Ära Vespuccis für kühne Entdeckernaturen erreichbar.

Aus Sicht der Antipoden

Der Moment humanistischer Besinnung, während Europa in die Neuzeit aufbricht, gibt diesem Bild eines à la Platon auf Gerechtigkeit gegründeten Staates eine politische Dringlichkeit, wie sie die utopischen Phantasien der Antike nach dem Zerfall der Polis nicht mehr erlangen konnten. Die «neue Insel» ist eine konsequent spiegelverkehrte Version von Mores Heimatinsel England. Raphael ist in beiden Welten bewandert, bleibt aber hier wie dort ein Fremder. Er sieht Europa mit den Augen Utopias, Utopia als Europäer – und rät seinen Landsleuten, sich so lange mit den Augen ihrer Antipoden zu betrachten, bis ihnen die Schuppen von den Augen fallen.

Durch die Ironie seiner griechischen Wortspiele geht More sicher, dass seine Erzählung nicht als Reiseabenteuer, sondern als Lehrfabel verstanden wird: «Utopia» bezeichnet bekanntlich einen Nichtort, der Hauptfluss der Insel heisst Anyder, Wasserlos, und der gewählte Herrscher Ademus, Ohne-Volk. Hythlodeus schliesslich trägt einen teuflisch zweideutigen Namen, der mit «Possenfeind» ebenso übersetzbar ist wie mit «Verbreiter von Possen».

Das Beiwerk der Herausgeber vertieft das Ironiespiel mit der besonderen «Wahrheit» des Textes. Es enthält neben einer Karte und Sprachproben Utopias vor allem einen Briefwechsel, der den im Werk inszenierten durch einen epistolaren Dialog rahmt. Darin verbürgen sich die Freunde für Mores Wahrheitsliebe, er wiederum bürgt als Augenzeuge für Raphael und dieser für die Existenz Utopias. So fragt More/«Morus» (hier beginnt die Verwandlung des Autors in eine Kunstfigur seiner Erzählung) den Egidius als Zeugen jenes denkwürdigen Gesprächs, welche Position der Insel Raphael denn damals genannt habe. Dieser bedauert postwendend, die Ortsangabe sei leider im Hustenanfall eines Anwesenden untergegangen.

Solche Spässe wusste die Humanistenfamilie zu schätzen. Die Unliterarischen, die Faden, die kein Salz mögen, und all jene, die eine Satire so fürchten wie der Teufel das Weihwasser, sind nicht die Leser, die More sich wünscht, wie er einleitend betont.

Die tugendhaften Heiden der Neuen Welt sind bessere Christen als die Pseudochristen der Alten.
Doch die Ironie des Buches reicht tiefer. Sie liegt wesentlich darin, dass der Autor seine Persona «Morus» im Dialog nicht zum Wortführer, sondern zum Gegenredner macht, der sich durch seine diplomatische Kompromissbereitschaft von der utopischen Unbedingtheit Raphaels absetzt. Eine derartige Rollenverteilung ist nicht zuletzt ein Mittel taktischer Zweideutigkeit, denn sie stellt dem Leser die Identifikation mit den politisch brisanten Einrichtungen Utopias frei: Abschaffung von Privateigentum, von Luxus und Standeshierarchie, Arbeitspflicht für alle, Entgrenzung der Familie zu Wohngemeinschaften, Eugenik und Euthanasie.

Wenn «Morus» auf das grosse Schlussplädoyer Raphaels nur zu antworten weiss, eine generelle Besitzlosigkeit halte er für absurd, weil sie aller Pracht und Würde, die doch «nach allgemeiner Ansicht» die wahre Zierde eines Staates seien, den Garaus mache, so erscheint die Formel «ut publica est opinio» als die subtilste Ironie des Textes. Gerade im Dementi nähern sich hier die gegnerischen Standpunkte einander an.

Schafe als Wölfe

Raphaels Angriff auf den europäischen Status quo schreitet von der sarkastischen Pointierung fort zur flammenden Anklage. Dazwischen liegt die affektfrei und ohne Einwürfe der Zuhörer vorgetragene Präsentation des Idealstaates, also das sprechende, hochgradig paradoxe Bild einer alternativen Welt. Am Anfang verfremden sich unter dem Blick des auswärtigen Betrachters die englischen Schafe, für deren Aufzucht Äcker brachgelegt und Gemeindeweiden privatisiert werden, zu reissenden Wölfen. Derselbe Beobachter erfährt in Utopia, dass Gold dort nur für das Nachtgeschirr Verwendung findet, dass das Kriegshandwerk nicht als heroisch, sondern als viehisch gilt und dass der Tod, nach Ernst Bloch die grösste Gegenutopie, erfolgreich akklimatisiert wurde.

Ziel der Staatsverfassung ist das gesicherte Glück aller, im Sinn eines humanistisch vertieften, geistigen Epikuräertums. Die Appellstruktur des Textes gipfelt in zwei zusammengehörigen Paradoxa: Die tugendhaften Heiden der Neuen Welt sind bessere Christen als die Pseudochristen der Alten, die Christi Lehre handhaben «wie einen bleiernen Massstab», der sich nach Belieben verbiegen lässt; und: Die europäischen Gemeinwesen sind nichts anderes als «eine Verschwörung der Reichen» zur Ausbeutung der Gemeinschaft – eine These, die durch die Jahrhunderte bis zum heutigen Tag nachklingt.

Ein Gattungsmodell

Mit seiner «Utopia» stellt More den kommenden Sozialplanern und Phantasten ein fast unendlich ausbaufähiges Gattungsmodell zur Verfügung. Die Nachfolger bereichern etwa die Hinführung auf das Thema um eine spannende Abenteuerreise, oder sie rücken ein Lehrgespräch zwischen Entdecker und einheimischem Mentor ins Zentrum. Mit dem Schrumpfen der weissen Flecken auf dem Globus wird später die geografische Distanz durch den Zeitsprung in eine ideale Zukunft ersetzt (beginnend mit Louis-Sébastien Merciers 1771 erschienenem Roman «Das Jahr 2440»). Der historisch begründete Verdacht, dass die geschlossene Gesellschaft Utopias kein Glückstraum, sondern ein Albtraum sein könnte, hat am Ende eine Konjunktur dystopischer Romane inspiriert, für die kein Ende absehbar ist.

Es ist dies nicht die einzige Ironie, die die Geschichte für Sir Thomas More bereithielt. Die in seinem Buch heiss diskutierte, von Raphael emphatisch verneinte Frage, ob ein Philosoph Berater und Mitverantwortlicher der grossen Politik sein könne, beantwortete er selbst positiv, indem er sich in die Dienste Heinrichs VIII. begab und darin zum Amt des Lordkanzlers aufstieg. Mit Heinrichs Abfall von Rom war das Ende seiner Kompromissbereitschaft erreicht. Er zog mit bewundernswerter Grösse das Schafott der Vergewaltigung des eigenen Gewissens vor und bestätigte so auf tragische Weise den gewaltigen Abstand zwischen der neuen und der alten Insel.



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