aus nzz.ch, Titelholzschnitt der Ausgabe von 1516
Gesellschaftskritik im Gewand der Ironie
Im Jahr 1517 ist ein philosophischer Dialog erschienen, der Geschichte geschrieben und eine literarische Gattung begründet hat: die «Utopia» des englischen Humanisten und Staatsmannes Thomas More.
Die
Neue Welt, die Kolumbus 1492 entdeckte, wurde von Europa aus nicht nur
als zu kultivierende Wildnis und auszubeutende Kolonie angesehen,
sondern auch als eine Art wiedergefundenes Paradies; anders gesagt: als
Alternative zur eigenen Mangelhaftigkeit. Die Andere Welt ist
möglicherweise eine bessere. Noch Montaigne, der Naivität unverdächtig,
preist knapp hundert Jahre später in seinem Essay über die «Kannibalen»
das naturnahe Leben der Indianer als Abglanz des Goldenen Zeitalters.
Selbst dass sie gelegentlich ihre toten Feinde verzehren, erhebt sie
über die Europäer, die ihre Dissidenten bei lebendigem Leibe schmoren.
Ferne Insel mit Fernwirkung
Etwas
anders steht es in einem schon 1516 erschienenen Buch von
unvergleichlicher Fernwirkung. Dort erfährt man aus dem Mund eines
Forschungsreisenden, der sich als Gefährte Vespuccis ausgibt und soeben
auf der Südhalbkugel ein unbekanntes Inselreich entdeckt haben will, die
wunderbarsten Erlebnisse einer Weltreise seien nicht irgendwelche
sagenhaften Ungeheuer, sondern heilsam und weise eingerichtete
Staatswesen.
Das
Buch, das sich in elegantem Latein an eine gesamteuropäische gebildete
Leserschaft wendet, trägt den vollen Titel «Ein wahrhaft goldenes,
ebenso nutzbringendes wie unterhaltsames Büchlein über die beste
Staatsverfassung und über die neue Insel Utopia, aus der Feder des
hochberühmten Thomas Morus». Herausgegeben hat es der Humanist Petrus
Egidius, mit dem sich der Jurist und Diplomat Sir Thomas More als
Vertreter einer Londoner Handelsdelegation in Antwerpen angefreundet
hatte.
Seine Fiktion dient als Erprobungsraum neuer Ideen: Witz und Ernst sind hier keine Gegensätze.
Von
dieser biografischen Situation aus führt der Text von Europa nach
Utopia und von der Realität in die Fiktion. Nach der Frühmesse im
Liebfrauendom macht Egidius More mit dem Entdeckungsreisenden Raphael
Hythlodeus bekannt, von dem es vieldeutig heisst, er sei welterfahren
wie Odysseus und Platon. Um ihn nach seinen Erlebnissen zu befragen,
zieht sich More mit ihm auf die Rasenbank hinter Mores Herberge zurück.
Den
ersten, dialogisch-satirischen Teil, in dem der Weitgereiste als
Krankheitsherd des europäischen Systems Machtgier und wirtschaftlichen
Eigennutz ausmacht, beendet der Gang zum Mittagessen; nachmittags führt
Raphael Hythlodeus dann sein positives Gegenbeispiel, den Inselstaat
Utopia, systematisch vor Augen. Nach seinem leidenschaftlichen
Schlussappell vertagt man die Aussprache auf ein andermal und begibt
sich wiederum zu Tisch: ein listig-offenes Ende, wie man es auch von
Mores Freund Erasmus kennt, als Auftrag an den Leser, seinen Standort im Disput selbst zu finden.
Im
Spannungsfeld zeitgenössischer Machtansprüche ist der Humanist zum
ironischen Grenzgang
zwischen appellativem Realismus und fiktionalem
Spiel verurteilt. Doch seine Fiktion dient als Erprobungsraum neuer
Ideen: Witz und Ernst sind hier keine Gegensätze. Während Platons «Staat»
als hypothetische Konstruktion entworfen war, ist Utopia in genialer
Zweideutigkeit ausser- und innerweltlich situiert. Es bleibt ideales
Phantasieland der Antipoden Europas und erscheint doch in der Ära
Vespuccis für kühne Entdeckernaturen erreichbar.
Aus Sicht der Antipoden
Der
Moment humanistischer Besinnung, während Europa in die Neuzeit
aufbricht, gibt diesem Bild eines à la Platon auf Gerechtigkeit
gegründeten Staates eine politische Dringlichkeit, wie sie die
utopischen Phantasien der Antike nach dem Zerfall der Polis nicht mehr
erlangen konnten. Die «neue Insel» ist eine konsequent spiegelverkehrte
Version von Mores Heimatinsel England. Raphael ist in beiden Welten
bewandert, bleibt aber hier wie dort ein Fremder. Er sieht Europa mit
den Augen Utopias, Utopia als Europäer – und rät seinen Landsleuten,
sich so lange mit den Augen ihrer Antipoden zu betrachten, bis ihnen die
Schuppen von den Augen fallen.
Durch
die Ironie seiner griechischen Wortspiele geht More sicher, dass seine
Erzählung nicht als Reiseabenteuer, sondern als Lehrfabel verstanden
wird: «Utopia» bezeichnet bekanntlich einen Nichtort, der Hauptfluss der
Insel heisst Anyder, Wasserlos, und der gewählte Herrscher Ademus,
Ohne-Volk. Hythlodeus schliesslich trägt einen teuflisch zweideutigen
Namen, der mit «Possenfeind» ebenso übersetzbar ist wie mit «Verbreiter
von Possen».
Das
Beiwerk der Herausgeber vertieft das Ironiespiel mit der besonderen
«Wahrheit» des Textes. Es enthält neben einer Karte und Sprachproben
Utopias vor allem einen Briefwechsel, der den im Werk inszenierten durch
einen epistolaren Dialog rahmt. Darin verbürgen sich die Freunde für
Mores Wahrheitsliebe, er wiederum bürgt als Augenzeuge für Raphael und
dieser für die Existenz Utopias. So fragt More/«Morus» (hier beginnt die
Verwandlung des Autors in eine Kunstfigur seiner Erzählung) den Egidius
als Zeugen jenes denkwürdigen Gesprächs, welche Position der Insel
Raphael denn damals genannt habe. Dieser bedauert postwendend, die
Ortsangabe sei leider im Hustenanfall eines Anwesenden untergegangen.
Solche Spässe wusste die Humanistenfamilie
zu schätzen. Die Unliterarischen, die Faden, die kein Salz mögen, und
all jene, die eine Satire so fürchten wie der Teufel das Weihwasser,
sind nicht die Leser, die More sich wünscht, wie er einleitend betont.
Die tugendhaften Heiden der Neuen Welt sind bessere Christen als die Pseudochristen der Alten.
Doch
die Ironie des Buches reicht tiefer. Sie liegt wesentlich darin, dass
der Autor seine Persona «Morus» im Dialog nicht zum Wortführer, sondern
zum Gegenredner macht, der sich durch seine diplomatische
Kompromissbereitschaft von der utopischen Unbedingtheit Raphaels
absetzt. Eine derartige Rollenverteilung ist nicht zuletzt ein Mittel
taktischer Zweideutigkeit, denn sie stellt dem Leser die Identifikation
mit den politisch brisanten Einrichtungen Utopias frei: Abschaffung von
Privateigentum, von Luxus und Standeshierarchie, Arbeitspflicht für alle, Entgrenzung der Familie zu Wohngemeinschaften, Eugenik und Euthanasie.
Wenn
«Morus» auf das grosse Schlussplädoyer Raphaels nur zu antworten weiss,
eine generelle Besitzlosigkeit halte er für absurd, weil sie aller
Pracht und Würde, die doch «nach allgemeiner Ansicht» die wahre Zierde
eines Staates seien, den Garaus mache, so erscheint die Formel «ut
publica est opinio» als die subtilste Ironie des Textes. Gerade im
Dementi nähern sich hier die gegnerischen Standpunkte einander an.
Schafe als Wölfe
Raphaels
Angriff auf den europäischen Status quo schreitet von der sarkastischen
Pointierung fort zur flammenden Anklage. Dazwischen liegt die
affektfrei und ohne Einwürfe der Zuhörer vorgetragene Präsentation des
Idealstaates, also das sprechende, hochgradig paradoxe Bild einer
alternativen Welt. Am Anfang verfremden sich unter dem Blick des
auswärtigen Betrachters die englischen Schafe, für deren Aufzucht Äcker
brachgelegt und Gemeindeweiden privatisiert werden, zu reissenden
Wölfen. Derselbe Beobachter erfährt in Utopia, dass Gold dort nur für
das Nachtgeschirr Verwendung findet, dass das Kriegshandwerk nicht als
heroisch, sondern als viehisch gilt und dass der Tod, nach Ernst Bloch die grösste Gegenutopie, erfolgreich akklimatisiert wurde.
Ziel
der Staatsverfassung ist das gesicherte Glück aller, im Sinn eines
humanistisch vertieften, geistigen Epikuräertums. Die Appellstruktur des
Textes gipfelt in zwei zusammengehörigen Paradoxa: Die tugendhaften
Heiden der Neuen Welt sind bessere Christen als die Pseudochristen der
Alten, die Christi Lehre handhaben «wie einen bleiernen Massstab», der
sich nach Belieben verbiegen lässt; und: Die europäischen Gemeinwesen
sind nichts anderes als «eine Verschwörung der Reichen» zur Ausbeutung
der Gemeinschaft – eine These, die durch die Jahrhunderte bis zum
heutigen Tag nachklingt.
Ein Gattungsmodell
Mit
seiner «Utopia» stellt More den kommenden Sozialplanern und Phantasten
ein fast unendlich ausbaufähiges Gattungsmodell zur Verfügung. Die
Nachfolger bereichern etwa die Hinführung auf das Thema um eine
spannende Abenteuerreise, oder sie rücken ein Lehrgespräch zwischen
Entdecker und einheimischem Mentor ins Zentrum. Mit dem Schrumpfen der
weissen Flecken auf dem Globus wird später die geografische Distanz
durch den Zeitsprung in eine ideale Zukunft ersetzt (beginnend mit
Louis-Sébastien Merciers 1771 erschienenem Roman «Das Jahr 2440»). Der
historisch begründete Verdacht, dass die geschlossene Gesellschaft
Utopias kein Glückstraum, sondern ein Albtraum sein könnte, hat am Ende
eine Konjunktur dystopischer Romane inspiriert, für die kein Ende absehbar ist.
Es
ist dies nicht die einzige Ironie, die die Geschichte für Sir Thomas
More bereithielt. Die in seinem Buch heiss diskutierte, von Raphael
emphatisch verneinte Frage, ob ein Philosoph Berater und
Mitverantwortlicher der grossen Politik sein könne, beantwortete er
selbst positiv, indem er sich in die Dienste Heinrichs VIII. begab und
darin zum Amt des Lordkanzlers aufstieg. Mit Heinrichs Abfall von Rom
war das Ende seiner Kompromissbereitschaft erreicht. Er zog mit
bewundernswerter Grösse das Schafott der Vergewaltigung des eigenen
Gewissens vor und bestätigte so auf tragische Weise den gewaltigen
Abstand zwischen der neuen und der alten Insel.
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