aus nzz.ch, 10.12.2016, 05:30 Uhr Berlin 1870, Schlesischer Bahnhof
Berlins Hinterland
Schlesier bauen die deutsche Hauptstadt
In der Geschichte Berlins spielt Schlesien eine bedeutende Rolle. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die engen Beziehungen zerstört.
Neulich erzählte ein älterer Herr, ein aus Schlesien stammender Berliner, von seiner Vision: Er habe davon geträumt, morgens am Berliner Hauptbahnhof in einen ICE zu steigen, zwei Stunden später in Breslau anzukommen, über den Marktplatz, den Rynek, und über den angrenzenden Salzmarkt zu schlendern, sich dort eine Ausstellung im Oppenheim-Haus über die Beziehungen zwischen Breslau und Berlin anzuschauen, gut zu essen und zu trinken, abends elegant in zwei Stunden mit dem ICE nach Berlin zurückzugleiten, um diesmal am Ostbahnhof, dem früheren Schlesischen Bahnhof, auszusteigen.
Dass die Realität anders aussieht – die Zugstrecke zwischen Berlin und Breslau wurde vor über einem Jahr eingestellt –, versuchen verschiedene Initiativen während des Breslauer Kulturhauptstadtjahrs auszugleichen, indem sie an die nach 1945 radikal abgebrochenen historischen Beziehungen zwischen Berlin und Breslau anknüpfen möchten: So gab es in diesem Sommer zumindest an den Wochenenden eine Zugverbindung zwischen den beiden Städten, den «Kulturzug», der zwar fünf Stunden lang gemächlich durch die Landschaft tuckerte, dafür aber mit Lesungen, musikalischen Darbietungen, Performances und einer sehr gut bestückten mobilen Bibliothek aufwartete.
Berlins Hinterland
Wer dann am Breslauer Hauptbahnhof ausstieg, konnte im Digital-Pavillon Luneta, einer Art igluförmigem Riesenskype, schauen, ob es in Berlin-Friedrichstrasse gerade regnete oder nicht, und dann vielleicht im Oppenheim-Haus am Plac Solny, dem Salzring, die Besitzerin Frau Violetta Wojnowski treffen, die ihr zukünftiges, privat finanziertes Kulturhaus auch als Brücke zwischen Berlin und Breslau gestalten will. Es ist ihr eine Herzensangelegenheit, an das historisch gewachsene Verhältnis zwischen den beiden Städten anzuknüpfen, an eine Zeit, in der es hiess, dass jeder zweite Berliner ein Schlesier oder, zugespitzt gesagt, ein Breslauer sei.
Wann dieser Satz geprägt wurde, woher der Baumeister des Brandenburger Tores kommt, woher die charakteristischen Granitplatten auf den breiten Berliner Trottoirs stammen, ob das Schlesische Tor in Kreuzberg etwas mit Schlesien zu tun hat: All diese Fragen zu beantworten, wird vielen Berlinern heutzutage nicht leichtfallen. Dabei war bis 1945 Schlesien etwa zweihundert Jahre lang das wichtigste Hinterland Berlins.
Auch den nach dem Zweiten Weltkrieg aus Schlesien Vertriebenen gelang es in Berlin etwas besser als anderswo in Deutschland, ein neues Heimatgefühl zu entwickeln, weil hier seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine Art schlesischer Infrastruktur existierte, so etliche schlesische Fleischer und Bäcker, dass es damals bald einmal hiess, jeder gute Berliner Fleischer bzw. Bäcker komme aus Schlesien. Über zweihundert Strassennamen zeugen noch heute von der früheren Bedeutung Schlesiens für Berlin.
Mit der Eroberung dieser österreichisch geprägten Provinz durch Friedrich II. in den drei Schlesischen Kriegen zwischen 1740 und 1763 wurde Schlesien zu einem Bestandteil des norddeutsch-protestantischen Königreichs Preussen umgepolt, zu einer straff verwalteten Musterprovinz, die Berlin entscheidend mitbeeinflusste. Seit dem 19. Jahrhundert entdeckten die preussischen Könige die liebliche Landschaft des Riesengebirgsvorlandes und bauten sich Schlösser, Gärten und Herrenhäuser im Hirschberger Tal. Um 1900 wurde es für die Berliner immer selbstverständlicher, sommers wie winters ins Riesengebirge zu reisen.
C. D. Friedrich, Riesengebirge
Mit dem Aufstand der schlesischen Weber im Jahr 1844 drang neues soziales Gedankengut von Schlesien nach Berlin. Nachdem Berlin 1871 Hauptstadt des deutschen Kaiserreichs geworden war, wurde Schlesien mit seinen fünf Millionen Einwohnern eines der wichtigsten Einzugsgebiete der Metropole. Die Provinz Schlesien mit ihrer Hauptstadt Breslau stellte im Zuge der Industrialisierung nicht nur die meisten Arbeitskräfte für Berlin zur Verfügung, sie war auch eine bedeutende Bezugsquelle für Baumaterialien und Waren aller Art, die für die aufstrebende Hauptstadt benötigt wurden.
Basalt und Granit für den Eisenbahn- und Strassenbau sowie Sandstein und Marmor für viele Denkmäler und Monumentalbauten der Hauptstadt stammten ebenso aus Schlesien wie Ziegel, Zink, Porzellan, Kanalisationsrohre und Textilien. Auf diesen Stoffhandel bezieht sich die Allegorie der Oder, die als eine der vier weiblichen Figuren am Rand des Neptunbrunnens von Reinhold Begas auf dem Berliner Alexanderplatz sitzt, die Figur nämlich mit dem Ziegenfell, das auf den berühmten Breslauer Wollmarkt verweist.
Schlesische Arbeitsmigranten
Als Pionier der industriellen Revolution in Preussen gilt August Borsig, der 1823 von Breslau nach Berlin kam. Seine Eisengiesserei und Maschinenbau-Anstalt wurde schnell erfolgreich und berühmt. In Berlin liess der «Eisenbahnkönig» genannte Firmenchef die musterhaften Werkswohnungen in Borsigwalde erbauen. Von grosser Bedeutung für das aufstrebende Berlin waren auch der Bau von eisernen Brücken und sonstigen Eisenkonstruktionen wie etwa für das Hochbahnviadukt. Noch heute sind an den Stahlkonstruktionen des S-Bahnhofs Friedrichstrasse und auf eisernen Gullydeckeln die Firmenstempel aus Schlesien zu lesen.
Die Viertel um den früheren Schlesischen Bahnhof, heute Ostbahnhof, und um das Schlesische Tor in Kreuzberg herum wurden um 1900 oft von Arbeitssuchenden aus Schlesien bewohnt. Viele Mädchen und junge Frauen kamen als Dienstmädchen nach Berlin, etlichen gelang die Etablierung nicht, und sie rutschten in die Prostitution ab. So wurden die schlesischen Viertel immer stärker von Proletarisierung, Prostitution und Kriminalität geprägt. Basierend auf dem sozialreformerischen Gedankengut des Breslauers Ferdinand Lassalle waren es aber auch immer wieder Schlesier, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzten.
Lassalle
Die Breslauerin Lina Morgenstern rief erstmalig Suppenküchen für Bedürftige ins Leben und ging als «Suppen-Lina» ins Berliner Gedächtnis ein. Auch der aus Breslau stammende Maler Hans Baluschek porträtierte immer wieder anklagend das soziale Elend Berlins, wenn er geisterhafte Fabrikkulissen, niedergedrückte wie auch aufbegehrende Arbeiter, die Einsamkeit des aus der proletarischen Gemeinschaft herausgefallenen Einzelnen und die Triebkräfte der industriellen Revolution in Form von fauchenden Lokomotiven malte.
In diesem Zusammenhang ist auch das literarische Schaffen des in Berlin wirkenden Schlesiers Gerhart Hauptmann erwähnenswert, der mit «Bahnwärter Thiel» eine Erzählung schuf, die an der Bahnstrecke Berlin–Breslau spielt und den Protagonisten in das Spannungsfeld zwischen preussischer Pflichterfüllung und industrieller Revolution versetzt. Und sein erstmalig in schlesischem Dialekt verfasstes Sozialdrama «Die Weber» führte, da es an den Standesschranken rüttelte, bei der Premiere am Deutschen Theater in Berlin zu einem Skandal. Kaiser Wilhelm II. kündigte empört seine Loge, was dem Erfolg des Stückes aber keinen Abbruch tat: Es wurde etwa zweihundert Mal aufgeführt.
Schinkels Vorgänger
Aber nicht nur industrie- und sozialgeschichtlich wurde Berlin von Schlesien stark geprägt, sondern mindestens ebenso sehr von Architekten, Künstlern und Schriftstellern. Das Brandenburger Tor, das ja fast gar kein Gebäude mehr darstellt, eher eine Mischung aus Nationalsymbol und Berlin-Logo, wurde vom schlesischen Baumeister Carl Gotthard Langhans errichtet. Dieser hatte sich auf etlichen Reisen nach Italien, Österreich, England und Frankreich von den Architekturströmungen des Klassizismus und der Neugotik inspirieren lassen.
Nachdem er seine innovativen Bauideen zunächst in Schlesien, vor allem auch in Breslau umgesetzt hatte, kam er aus der – fortschrittlicheren – Provinz ins Zentrum, um dann erstmalig in Berlin, wo noch der Stil des Barock vorherrschte, klassizistisch zu bauen. Schinkel, dessen Berühmtheit Langhans' Namen später verdunkelte, ist ohne diesen nicht zu denken. Auch das erste neugotische Gebäude in Berlin, der Turmhelm der Marienkirche, stammt von Langhans, der als wichtige Schaltstelle zwischen den Epochen die Berliner Architekturgeschichte entscheidend prägte.
Turmhelm Marienkirche
Ein anderer grosser Schlesier, der wie kaum ein Zweiter mit Berlin verbunden ist, hat das Spannungsfeld zwischen preussischer Geschichte und Industrialisierung mit seinem bildnerischen Werk geradezu kreiert: der Breslauer Adolph Menzel, dessen berühmte Gemälde «Das Flötenkonzert Friedrichs des Grossen» und «Das Eisenwalzwerk» in jedem deutschen Geschichtsbuch abgebildet sind. Menzel malte die ersten realistischen Industrie- und Arbeiterbilder in Deutschland. Vorbild des «Eisenwalzwerks» war ein Werk im oberschlesischen Königshütte. Er schuf durch seine Gemälde ein nahezu mythisches Bild Friedrichs II., das den Blick aller späteren Generationen auf den preussischen König sehr stark beeinflusste.
Dass die Urväter der Altberliner Posse und des Berliner Humors Schlesier und nicht Ur-Berliner waren, ist durchaus bemerkenswert: Der heute zu Unrecht vergessene, aus Breslau stammende David Kalisch prägte massgeblich die Altberliner Posse und feierte mit seinem Stück «Hundertausend Taler» enorme Triumphe. Seine Possen wirken vor allem durch Wortspielereien und Sprachwitze, die aus dem Wörtlichnehmen der Sprache resultieren, auch heute noch sehr lebendig.
Die aus Halb- und Unbildung entstandenen Wortneuschöpfungen erzeugen witzige Verschiebungen, wenn etwa ein nach oben strebendes Dienstmädchen am französischen Wort für Singspiel, Vaudeville, scheitert: «FRIEDERIKE: O denken Sie sich, wenn ich auftrete in den Gesangspossen, in den Wodu, Wasdu, Wiedu – FLÖRICKE: Wodewills! FRIEDERIKE: Woduwillst? Richtig!» David Kalisch war auch Mitbegründer der satirisch-politischen Wochenzeitschrift «Kladderadatsch», als deren Hauptherausgeber der aus Breslau stammende Ernst Dohm firmierte.
Ebenso wie etwas später der bekannte Kritiker Alfred Kerr entstammten Dohm und Kalisch dem assimilierten Breslauer Kaufmannsmilieu. All diese Schlesier, die zum Teil jüdische Wurzeln hatten, importierten einen geistreichen und sprachspielerischen Witz nach Berlin, der den etwas derben Berliner Humor enorm bereicherte.
Das Bankhaus Oppenheim
Diesem Milieu des aufstrebenden jüdischen Bürgertums in Breslau ist auch Heymann Oppenheim zuzurechnen, der 1790 aus der oberschlesischen Provinz nach Breslau kam, es hier zu Wohlstand und Anerkennung brachte, um dann 1810 das schöne, fünfstöckige, zentrale Haus am Salzring erwerben zu können. Hier führte er erfolgreich das Bankhaus Oppenheim, bis die dritte Generation Oppenheim nach Berlin zog, dort jedoch aufgrund der zu starken Konkurrenz das Bankhaus nicht zu etablieren vermochten.
Breslau, Salzmarkt Nordseite, Oppenheim-Haus (grün)
In dem Breslauer Gebäude spiegeln sich der Aufstieg und die Assimilation des jüdischen Bürgertums ebenso wie auch die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts in nuce, so die Enteignung und Deportation jüdischer Bewohner, die Vertreibung der Deutschen nach 1945 und die verordnete Amnesie der neuen polnischen Bewohner während des Kalten Krieges. Es war eine Amnesie, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Denn so selbstverständlich benachbart Schlesien für Berlin bis 1945 war, so gründlich ist es danach vergessen worden. Der Berliner Kunsthistoriker Helmut Börsch-Supan sieht in Schlesien eine Region, die Berlin im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wie keine zweite bereichert hat. «Vielleicht», so hofft er, «gibt es später einmal eine Inspiration für Berlin durch das polnische Schlesien.»
Diese Zeit scheint jetzt angebrochen zu sein. Nach den zeitlich begrenzten Aktivitäten der Kulturhauptstadt wird das Oppenheim-Haus in Breslau versuchen, Berliner Kunst und Literatur dauerhaft nach Breslau zu holen, aber auch von der schlesischen Hauptstadt nach Berlin hineinzustrahlen. Es nennt sich «Op enheim», verschluckt also das eine «p», um sich als «open Heim» zu öffnen – der Kunst, der Literatur, der Wissenschaft, der Musik, der Geschichte, der Gastronomie und der Grenzüberschreitung. Die Anknüpfung an die alten historischen Beziehungen wird wohl kein Traum bleiben müssen. Nur die Errichtung einer ICE-Strecke zwischen den beiden Städten steht weiterhin in den Sternen.
Breslau, Altes Rathaus
Nota. - Ich bin einer der letzen überlebenden echten Berliner. Der echte Berliner ist wohl mit Spreewasser getauft, aber seine Großeltern, mindestens von einer Seite her, kamen aus Schlesien. Denn der echte Berliner entstand überhaupt erst mit der Industrialisierung und der Explosion von Berlin zur Großstadt. Der echte ist der proletarische Berliner, die Alteingesessenen von bürgerlicher Herkunft sind nachträglich Zugereiste eigner Art, selbst die Hugennotten sind authentischer. Man hört es noch heute an dem unterschiedlichen Berlinern ist Ost und West: Im Osten ist der schlesische Beitrag - z. B. i statt ü - bis heute hörbar; wenn auch weitgehend dem Sächsischen assimiliert...
JE
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