Freitag, 9. Dezember 2016

Intelligenz stammt aus dem Ungewissen.

aus nzz.ch, 24.10.2007, 02:10 Uhr

Hat gesellschaftliches Lavieren zur Evolution besonderer kognitiver Fähigkeiten beigetragen?
Klug, klüger, am klügsten – Intelligenz bei Tieren
Dass Tiere zu besonderen Intelligenzleistungen fähig sind, zeigen immer mehr Fachpublikationen. Wie sich diese Fähigkeiten entwickelten, ist noch unklar. Womöglich förderte das gesellschaftliche Leben die Intelligenz.  

von Stephanie Kusma

Hochgebildete Musterschüler wie die 36 Jahre alte Gorilladame Koko oder der vor kurzem mit 31 Jahren gestorbene Graupapagei Alex erstaunen und erstaunten die Welt immer wieder mit ihren kommunikativen – und intellektuellen – Fähigkeiten.¹ Der Gorilla soll dabei aus einem Wortschatz von über 1000 Wörtern schöpfen. Der Papagei konnte zählen, Farben, Formen sowie Objekte benennen, hatte ein Konzept von «Null» und gebrauchte einfache Sätze wie «Ich will . . .». Auch von wild lebenden Tieren gibt es Beispiele für besondere Intelligenzleistungen – wobei sie ihre intellektuellen Kapazitäten allerdings eher praktischer einsetzen. Dass der Mensch nicht das einzige intelligente Lebewesen auf der Erde ist, zeigen denn auch immer neue Studien. Welche Faktoren genau zur Entwicklung von kognitiv besonders leistungsfähigen Gehirnen beigetragen haben, weiss man noch nicht. Verschiedene Ansätze werden hier zur Erklärung herbeigezogen.


Werkzeugmacher

Im Jahr 1960 beobachtete Jane Goodall im Gebiet des heutigen Gombe National Park in Tansania den Schimpansen David Greybeard bei einer ungewöhnlichen Tätigkeit: Er hatte, wie sie herausfand, mit einem Grashalm nach Termiten gefischt. Nicht lange danach zeigte sich, dass die Schimpansen solche einfachen Werkzeuge nicht nur benutzten, sondern sogar selbst herstellten, indem sie etwa Zweige von ihren Blättern befreiten. Vor diesen Beobachtungen war man davon ausgegangen, dass nur der Mensch hierzu imstande sei. Bis heute kennt man allein von den Menschenaffen Dutzende solcher Beispiele; es sind gar ganze Werkzeugkulturen bekannt. Auch Neukaledonische Krähen sind äusserst begabte «Handwerker», die aus Blättern und Dornen Werkzeuge fertigen, mit deren Hilfe sie verborgene Leckereien aus Ritzen oder Spalten ziehen. Und sogar im Meer wird mit Hilfsmitteln gearbeitet: Grosse Tümmler in der Shark Bay in Westaustralien benutzen Schwämme, um mit ihnen am Boden nach Nahrung zu stöbern.

Die meisten Hinweise auf ganz besondere kognitive Fähigkeiten hat man aber noch immer von Primaten. Dies dürfte zum Teil daran liegen, dass sich die meisten Untersuchungen auf Primaten konzentrierten, erklärt Klaus Zuberbühler von der University of St. Andrews in Schottland. Primaten seien auf diesem Gebiet aber auch besonders befähigt. Speziell die erwähnten Krähen und andere Rabenvögel haben sich in Untersuchungen in Labor und Freiland jedoch ebenfalls als «intellektuell» sehr begabt erwiesen. Und auch von Elefanten und Delphinen gibt es deutliche Hinweise auf besondere kognitive Fähigkeiten – so lassen Studien beispielsweise vermuten, dass Elefanten und Grosse Tümmler ihr Spiegelbild erkennen, was als grosse Intelligenzleistung gilt. Meist sind die kognitiven Leistungen von Tieren weniger spektakulär, dafür sind sie recht breit gestreut. Sie finden sich unter anderem bei Fischen, Vögeln und den verschiedensten Säugetieren. Man kennt laut Experten mittlerweile mehrere «Intelligenzspitzen»; zu diesen gehören neben den Primaten (mit dem Menschen als Superhirn) die Rabenvögeln und Papageien, Delphine und Elefanten.

Flüchtiges Futter

Verschiedenste Faktoren wurden oder werden als wichtig für die Entwicklung von Intelligenz propagiert. Dazu gehören eine lange Jugend oder die Spezialisierung auf besonders energiereiche Nahrung, die genügend Energie für die «Zusatzleistung» des Gehirns zur Verfügung stellt. Carel van Schaik von der Universität Zürich wiederum hält das soziale Lernen für den Knackpunkt bei der Entwicklung von Intelligenz. Es ermögliche Tieren, in viel kürzerer Zeit Wissen zu erwerben, als wenn sie alles alleine durch Versuch und Irrtum herausfinden müssten, erklärt der Forscher. Dies beschleunige die Entwicklung von Intelligenz, weil sich so jedes zusätzliche «Quentchen Intelligenz» maximal ausnützen lasse.

Zurzeit, erklärt man in Fachkreisen, seien allerdings vor allem zwei Thesen im Gespräch, die Hypothesen der sozialen und der ökologischen Intelligenz. Letztere beruht auf der Idee, dass besondere Umweltbedingungen oder auch Spezialisierungen dazu geführt haben, dass bestimmte Arten in ihrer Umwelt schwierigere Aufgaben zu lösen hatten als andere. Frisst ein Tier zum Beispiel Gras, dürfte dessen Nahrungssuche sich einfacher gestalten als diejenige eines Tieres, das sich hauptsächlich von Früchten ernährt. Früchte sind oft nur zu bestimmten Zeiten reif, die Bäume oder Sträucher, an denen sie zu finden sind, stehen verteilt über eine grosse Fläche – ein Fruchtfresser sollte sich also möglichst merken können, wo in seinem Gebiet welche «Obstbäume» stehen, in welchem Reifezustand deren Früchte sind und wie lange sie noch brauchen, bis sie essfertig sind. Tatsächlich sind einige Früchtefresser offenbar imstande, dies zu leisten – und noch viel mehr.

Wetter gut, Feigen reif

So folgerten Zuberbühler und seine Kollegen aus einer Studie, dass manche Primaten sich bei der Futtersuche auch nach dem Wetter der vorhergehenden Tage richten. Die Wissenschafter beobachteten 210 Tage lang eine Gruppe von Mantelmangaben, die zu den Meerkatzenartigen gehören. Dabei stellten sie fest, dass die Tiere Feigenbäume, von denen sie wussten, dass sie reifende Früchte trugen, nach einigen besonders heissen Tagen deutlich häufiger wieder aufsuchten als unter normalen «Wetterumständen». Offenbar sind die Tiere also in der Lage, den Einfluss des vergangenen Wetters auf den Zustand der Feigen abzuschätzen – und damit womöglich auch imstande, Ereignisse in der Zukunft zu antizipieren. Dass die Mangaben wissen, wo in ihrem Revier fruchtende Bäume zu finden sind, hatte das Team schon in einer früheren Studie gezeigt.

Aber nicht nur bei Primaten greift die Hypothese der ökologischen Intelligenz. Westliche Buschhäher etwa, die zu den als sehr intelligent geltenden Rabenvögeln gehören, legen Futterverstecke an. Diese müssen sie allerdings auch wiederfinden, was an sich schon schwierig ist. Sie waren aber, wie Nicola Clayton und Tony Dickinson von der University of Cambridge in England berichten, darüber hinaus in Experimenten auch imstande, die Haltbarkeit der versteckten Nahrung zu berücksichtigen. So sammelten sie auch länger haltbare, aber weniger geliebte Erdnüsse und nicht nur bevorzugte, aber leicht verderbliche Insekten. Zudem entnahmen sie die Vorräte auch in der richtigen Reihenfolge. Auch viele Fleischfresser zeichnen sich durch besondere kognitive Fähigkeiten aus – im Licht dieser These nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Karnivoren auf flüchtige, nicht überall zu findende Nahrung angewiesen sind, die ihrerseits intensiv versucht, sich dem Gefressenwerden zu entziehen.

Die zweite grosse Hypothese zur Entwicklung kognitiver Fähigkeiten ist die Hypothese der sozialen Intelligenz. Sie besagt, dass es das Lavieren in komplexen sozialen Gemeinschaften ist, das die Entwicklung der Intelligenz vorantreibt. Ein Diskussionspunkt ist unter anderem, ob so eine «allgemeine» oder eine ausschliesslich «soziale» Intelligenz entsteht. Zugrunde liege der These vom «sozialen Gehirn», dass das Leben in einer grösseren Gruppe zwar Vorteile wie einen besseren Schutz vor Feinden biete, sagt Zuberbühler, aber auch Nachteile habe. Man lebe schliesslich mit seinen stärksten Konkurrenten, etwa im Bereich Nahrung oder Geschlechtspartner, aufs Engste zusammen. Es sei daher von Vorteil, wenn man sich in seiner Gruppe auskenne und gegen soziale Probleme gewappnet sei, die sich aus dem Gemeinschaftsleben ergäben. Dabei seien geschlossene, individualisierte Gruppen gemeint, erklärt der Forscher, die sich aus jeweils mehreren männlichen und weiblichen Mitgliedern zusammensetzten und in der sich die einzelnen Individuen persönlich kennen – im Gegensatz etwa zu den riesigen, weitgehend anonymen Gnuherden Afrikas.

Tatsächlich hat man von vielen Tieren Hinweise darauf, dass sie sehr gut mit den Tücken – und Vorteilen – des Lebens in einer engen Gemeinschaft umgehen können. Verschiedenste Studien haben etwa gezeigt, dass viele Primaten genau wissen, wie die Mitglieder ihrer Gruppe in Rang und Verwandtschaftsgrad zueinander – und zu ihnen selbst – stehen. Und sie vermögen dieses Wissen offenbar auch zu nutzen. So schreien Schimpansen, die von einem ranghöheren Artgenossen bedroht werden, je nach Heftigkeit des Angriffs auf unterschiedliche Weise und geben so – im schlecht einsehbaren Tropenwald – auch Informationen über den Zusammenstoss weiter. Zuberbühler und seine Kollegin Katie Slocombe untersuchten nun, ob sich die Schreie des Opfers in Abhängigkeit von der Zuhörerschaft änderten – und wurden fündig, wie sie in einer gerade veröffentlichten Studie beschreiben.

Die Schimpansen zeigten eine Tendenz, in ihren Schreien bei heftigen Attacken die Stärke des Angriffs zu «übertreiben», wenn sie einen Zuhörer in der Nähe wussten, der einen höheren Rang bekleidete als der Angreifer. Tatsächlich gelang es den «Betrügern» so, in einigen der untersuchten Fällen Hilfe zu rekrutieren. Dies lässt laut den Forschern vermuten, dass die Tiere nicht nur über die Rangordnung in ihrer Gruppe Bescheid wussten, sondern dieses Wissen möglicherweise auch bewusst zum «Betrug» einsetzten. Auch bei den bereits erwähnten Westlichen Buschhähern gibt es Hinweise darauf, dass die Tiere sich in Artgenossen hineinversetzen und deren Verhalten antizipieren können. Werden sie nämlich in Experimenten von anderen Hähern beim Anlegen ihrer Futtervorräte beobachtet, suchen sie sich vom Beobachter möglichst schlecht einsehbare, etwa schlecht beleuchtete Orte für ihre Verstecke aus, wie Clayton und Nathan Emery von der University of Cambridge beobachtet haben. Oder sie räumen die Nahrung in unbeobachteten Momenten woanders hin – beides allerdings nur, falls sie selbst schon einmal das Futterversteck eines Artgenossen geplündert haben.

Soziale Intelligenz bei Hyänen

Als alleinige Erklärung für die Entwicklung von Intelligenz bietet sich aber auch die Hypothese vom «sozialen Gehirn» nicht an, wie Kay Holekamp von der Michigan State University in East Lansing, Michigan, betont. Sie studiert Tüpfelhyänen in Kenya. Diese lebten, so erklärt sie, in einem gesellschaftlichen System, das jenem der Meerkatzenartigen entspreche, zu denen unter anderen Paviane und Mangaben gehören. Wie bei diesen erkennen sich auch bei den Tüpfelhyänen die Gruppenmitglieder individuell, erinnern sich offenbar noch nach Jahren an sie, wissen um den Platz anderer in der Rangordnung und erkennen ihre Verwandtschaft. Bei der Jagd und der Verteidigung des Reviers arbeiten sie erfolgreich zusammen. Doch insgesamt seien sie in ihrem Verhalten viel weniger flexibel als die Affen, sagt die Wissenschafterin. Dies zeige, dass es weitere Faktoren geben müsse, die der Entwicklung von Intelligenz zugrunde lägen – eine Meinung, die andere Forscher teilen. So ist auch Andrew Whiten von der University of St. Andrews in Schottland, einer der Väter der These vom «Sozialen Gehirn», der Ansicht, dass sich diese und die Hypothese der ökologischen Intelligenz nicht ausschliessen. Der nächste, zugegebenermassen äusserst schwierige Schritt sollte nun sein, sagt Holekamp, die verschiedenen Faktoren zu identifizieren und in einer einzigen These zu vereinen. 


Nota. - Einfache und klare Strukturen, wo man weiß, woran man ist, fordern nicht zum Überlegen heraus. Sie sind dafür gut, dass man sich Fragen gar nicht erst stellen muss. Wo nichts ganz klar und nichts ganz sicher ist, muss man sich auf allerhand gefasst machen; so einfach ist das.
JE

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen