Mittwoch, 10. Januar 2018

Europa ist als Kampfbegriff gegen die Ungläubigen entstanden.


Elmer Bischoff, 1957
aus nzz.ch, 4. 1. 2018

von Volker Reinhardt

... In der politischen Diskussion Europas taucht der Begriff «Europa» erstmals um 1450 häufiger und gewichtiger auf, und zwar aus gegebenem Anlass. Zu dieser Zeit rückte das Osmanische Imperium unaufhaltsam gegen die Restbestände des Byzantinischen Reichs vor, um dessen Hauptstadt Konstantinopel im Mai 1453 schliesslich zu erobern. Die Hilfegesuche des letzten oströmischen Kaisers hatten trotz der dramatischen Eskalation kaum ein Echo gefunden – «Europa» war trotz allen Appellen und Beschwörungen der Gelehrtenwelt eben keine Einheit.

Die griechische Kirche war von der römischen seit fast vierhundert Jahren durch ein Schisma getrennt, und so machte der Papst seine Unterstützung von der Unterwerfung unter die «Einheit» seiner kirchlichen Hoheit abhängig. Als diese schliesslich notgedrungen vollzogen wurde, war es zu spät. Doch auch das übrige Europa war weder vorher noch nachher politisch oder religiös «einheitlich» – die Union im Glauben, Fühlen und Denken, die Romantiker wie der deutsche Dichter Novalis um 1800 als «Europa oder die Christenheit» beschworen, existierte nur in ihrer nostalgisch erhitzten Phantasie.

Das ganze Mittelalter hindurch wimmelt es nur so vor religiösen und philosophischen Gegenbewegungen, die aus der Perspektive der Möchtegern-Monopol-Instanz Rom als «Ketzereien» eingestuft wurden. Zur Zeit der ersten Europa-Visionen, etwa aus der Feder des wortmächtigen Humanisten Enea Silvio Piccolomini, der später als Pius II. (1458–1464) den Papstthron bestieg, waren die böhmischen Hussiten mit ihrer Forderung nach dem Laienkelch im Abendmahl der innere Hauptstörfaktor und deshalb selbstverständlich aus der angeblichen Wertegemeinschaft «Europa» ausgeschlossen. «Europa» war also wenig mehr als ein diffuser Kampfbegriff gegen die Anderen, gegen innere und äussere «Ungläubige».

Christus kam nur bis Eboli

Sich selbst verstand Piccolomini primär als Italiener und damit als Vertreter der Nation, die den Barbaren der übrigen europäischen Länder die Schätze der Zivilisation brachte und dafür nichts als Undank erntete – zum Beispiel von den trunksüchtigen und instinktgeleiteten Deutschen. Das historische Europa, das Europa ohne Anführungsstriche, wuchs und entwickelte sich nicht im Zeichen der «Einheit», sondern der Konkurrenz, der Rivalität, des Ringens um den Vorrang an Ehre, Kultur und Geltung.

Dieser Wettstreit wurde auf allen Ebenen, nicht zuletzt im Bereich der Religion, ausgetragen. Dies macht auch das Schwärmen vom «christlichen Abendland» hinfällig, ganz abgesehen davon, dass für die grosse Mehrheit der Menschen auf dem Land der Übergang von der heidnischen zur christlichen Religion kein Einschnitt, sondern ein gleitender Wandel war – Christus kam bekanntlich nur bis Eboli. Und wie formulierte Michel de Montaigne, Zeuge der ab 1562 sein Frankreich verwüstenden Religionskriege, so treffend: Kein Hader ist so erbarmungslos wie der christliche.

Der daraus resultierenden Konkurrenzsituation zweier Konfessionen, des majoritären Katholizismus und des minoritären Calvinismus, machte König Ludwig XIV. 1685 zugunsten der katholischen Monopol-Staatskirche ein Ende – wofür diese in der Revolution ab 1789 durch ersatzlose Enteignung ihrer Güter die späte Quittung erhielt. Um dieselbe Zeit entwarf der deutsche Geschichtstheologe Johann Gottfried Herder ein gegen die Nivellierungstendenzen der Aufklärung gerichtetes visionäres Tableau, das den Lauf der Geschichte aus der schier überquellenden Fülle der Vielheit, aus dem Mit- und Gegeneinander von Zivilisationen und Kulturen, bestimmt sieht, die sich alle wechselseitig beeinflussen – und doch sich selbst eifersüchtig als beste aller möglichen Welten betrachten.

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Die vermeintliche «Einheitlichkeit» des Westens ist pure Fiktion: Zwischen den calvinistischen Eliten der republikanischen Niederlande und der französischen Monarchie, die vor 1789 keinen zentralisierten Nationalstaat, sondern einen fast unüberschaubaren Flickenteppich regionaler und ständischer Privilegien bildet, sticht nicht Homogenität, sondern Alterität hervor. Sie verbindet sich mit einer Konkurrenz der Werte und Ansprüche. Für den grossen Aufklärer Voltaire waren deshalb die «Ketzer» die Fortschrittsbringer und wahren Helden der Geschichte ...

Dass die umfassende Konkurrenz, die Europa geformt hat, heute friedlich und nicht mehr als Kampf um politische und militärische Hegemonie ausgetragen wird, ist eine grosse Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Ob es für diese Friedensgarantie die EU braucht, ist Anschauungssache. Dessen ungeachtet ist im Namen der Geschichte zu wünschen, dass das lebendige Prinzip Europas, das der Vielheit, nicht dem Bürokratentraum der totalen Gleichförmigkeit zum Opfer fällt. Das nach der Einschätzung der heutigen Medien «grösste Genie der Menschheitsgeschichte», der Maler-Naturforscher Leonardo da Vinci, war ein absoluter Aussenseiter in seiner Zeit: des höheren Lateins nicht mächtig, von humanistischen Edelfedern deshalb verachtet und überdies kein Christ. Gerade damit steht Leonardo für das wahre Europa – das Europa der kulturellen Gegenläufigkeiten und der produktiven Subversivität.

Volker Reinhardt ist Professor für allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Freiburg i. Ü. 2017 ist bei C. H. Beck sein Buch «Pontifex. Die Geschichte der Päpste» erschienen.

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