Elmer Bischoff, 1957
aus nzz.ch, 4. 1. 2018
von Volker Reinhardt
... In
der politischen Diskussion Europas taucht der Begriff «Europa» erstmals
um 1450 häufiger und gewichtiger auf, und zwar aus gegebenem Anlass. Zu
dieser Zeit rückte das Osmanische Imperium unaufhaltsam gegen die
Restbestände des Byzantinischen Reichs vor, um dessen Hauptstadt
Konstantinopel im Mai 1453 schliesslich zu erobern. Die Hilfegesuche des
letzten oströmischen Kaisers hatten trotz der dramatischen Eskalation
kaum ein Echo gefunden – «Europa» war trotz allen Appellen und
Beschwörungen der Gelehrtenwelt eben keine Einheit.
Die
griechische Kirche war von der römischen seit fast vierhundert Jahren
durch ein Schisma getrennt, und so machte der Papst seine Unterstützung
von der Unterwerfung unter die «Einheit» seiner kirchlichen Hoheit
abhängig. Als diese schliesslich notgedrungen vollzogen wurde, war es zu
spät. Doch auch das übrige Europa war weder vorher noch nachher
politisch oder religiös «einheitlich» – die Union im Glauben, Fühlen und
Denken, die Romantiker wie der deutsche Dichter Novalis um 1800 als
«Europa oder die Christenheit» beschworen, existierte nur in ihrer
nostalgisch erhitzten Phantasie.
Das
ganze Mittelalter hindurch wimmelt es nur so vor religiösen und
philosophischen Gegenbewegungen, die aus der Perspektive der
Möchtegern-Monopol-Instanz Rom als «Ketzereien» eingestuft wurden. Zur
Zeit der ersten Europa-Visionen, etwa aus der Feder des wortmächtigen
Humanisten Enea Silvio Piccolomini, der später als Pius II. (1458–1464)
den Papstthron bestieg, waren die böhmischen Hussiten mit ihrer
Forderung nach dem Laienkelch im Abendmahl der innere Hauptstörfaktor
und deshalb selbstverständlich aus der angeblichen Wertegemeinschaft
«Europa» ausgeschlossen. «Europa» war also wenig mehr als ein diffuser
Kampfbegriff gegen die Anderen, gegen innere und äussere «Ungläubige».
Christus kam nur bis Eboli
Sich
selbst verstand Piccolomini primär als Italiener und damit als
Vertreter der Nation, die den Barbaren der übrigen europäischen Länder
die Schätze der Zivilisation brachte und dafür nichts als Undank erntete
– zum Beispiel von den trunksüchtigen und instinktgeleiteten Deutschen.
Das historische Europa, das Europa ohne Anführungsstriche, wuchs und
entwickelte sich nicht im Zeichen der «Einheit», sondern der Konkurrenz,
der Rivalität, des Ringens um den Vorrang an Ehre, Kultur und Geltung.
Dieser
Wettstreit wurde auf allen Ebenen, nicht zuletzt im Bereich der
Religion, ausgetragen. Dies macht auch das Schwärmen vom «christlichen
Abendland» hinfällig, ganz abgesehen davon, dass für die grosse Mehrheit
der Menschen auf dem Land der Übergang von der heidnischen zur
christlichen Religion kein Einschnitt, sondern ein gleitender Wandel war
– Christus kam bekanntlich nur bis Eboli. Und wie formulierte Michel de
Montaigne, Zeuge der ab 1562 sein Frankreich verwüstenden
Religionskriege, so treffend: Kein Hader ist so erbarmungslos wie der
christliche.
Der
daraus resultierenden Konkurrenzsituation zweier Konfessionen, des
majoritären Katholizismus und des minoritären Calvinismus, machte König
Ludwig XIV. 1685 zugunsten der katholischen Monopol-Staatskirche ein
Ende – wofür diese in der Revolution ab 1789 durch ersatzlose Enteignung
ihrer Güter die späte Quittung erhielt. Um dieselbe Zeit entwarf der
deutsche Geschichtstheologe Johann Gottfried Herder ein gegen die
Nivellierungstendenzen der Aufklärung gerichtetes visionäres Tableau,
das den Lauf der Geschichte aus der schier überquellenden Fülle der
Vielheit, aus dem Mit- und Gegeneinander von Zivilisationen und
Kulturen, bestimmt sieht, die sich alle wechselseitig beeinflussen – und
doch sich selbst eifersüchtig als beste aller möglichen Welten
betrachten.
Die
vermeintliche «Einheitlichkeit» des Westens ist pure Fiktion: Zwischen
den calvinistischen Eliten der republikanischen Niederlande und der
französischen Monarchie, die vor 1789 keinen zentralisierten
Nationalstaat, sondern einen fast unüberschaubaren Flickenteppich
regionaler und ständischer Privilegien bildet, sticht nicht Homogenität,
sondern Alterität hervor. Sie verbindet sich mit einer Konkurrenz der
Werte und Ansprüche. Für den grossen Aufklärer Voltaire waren deshalb
die «Ketzer» die Fortschrittsbringer und wahren Helden der Geschichte ...
Dass
die umfassende Konkurrenz, die Europa geformt hat, heute friedlich und
nicht mehr als Kampf um politische und militärische Hegemonie
ausgetragen wird, ist eine grosse Errungenschaft des 20. Jahrhunderts.
Ob es für diese Friedensgarantie die EU braucht, ist Anschauungssache.
Dessen ungeachtet ist im Namen der Geschichte zu wünschen, dass das
lebendige Prinzip Europas, das der Vielheit, nicht dem Bürokratentraum
der totalen Gleichförmigkeit zum Opfer fällt. Das nach der Einschätzung
der heutigen Medien «grösste Genie der Menschheitsgeschichte», der
Maler-Naturforscher Leonardo da Vinci, war ein absoluter Aussenseiter in
seiner Zeit: des höheren Lateins nicht mächtig, von humanistischen
Edelfedern deshalb verachtet und überdies kein Christ. Gerade damit
steht Leonardo für das wahre Europa – das Europa der kulturellen
Gegenläufigkeiten und der produktiven Subversivität.
Volker Reinhardt ist
Professor für allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der
Universität Freiburg i. Ü. 2017 ist bei C. H. Beck sein Buch «Pontifex.
Die Geschichte der Päpste» erschienen.
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