Mittwoch, 3. Januar 2018

Jugendgewalt ist seit Jahrzehnten rückläufig.

Deutschlands modernstes   Jugendgefängnis in Arnstadt
aus Süddeutsche.de,Blick in den Innenhof der Jugendstrafanstalt Arnstadt in Thüringen.



 
Studie zur Jugendkriminalität  
"Mehr Liebe, weniger Hiebe" 
 
  • Laut einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen ist die Jugendkriminalität in Deutschland von 2007 bis 2015 um die Hälfte zurückgegangen.
  • Auch die Brutalität bei Straftaten nimmt laut einer Studie aus Bayern ab.
  • Als Ursache für den Trend sehen die Forscher den Rückgang der Gewalt in Familien und geringere Arbeitslosigkeit.
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    Von Ronen Steinke

    Jede zweite Zelle stand leer, als der Hamburger Senat im Jahr 2015 durchzählen ließ. Nur noch jeder zweite der 3000 Hafträume war belegt im ältesten Jugendgefängnis der Republik, der Justizvollzugsanstalt Hahnöfersand, idyllisch gelegen auf einer Elbinsel. Seither versuchen Hamburgs Haushälter fieberhaft, die verbliebenen Häftlinge von dort weg zu verlegen. Sie wollen das Anwesen verkaufen und vielleicht ein Hotel daraus machen.

    In Jugendgefängnissen lässt sich derzeit Erstaunliches beobachten. Noch um die Jahrtausendwende waren die Anstalten landauf, landab heillos überfüllt. Fast alle Bundesländer mussten kräftig ausbauen. Inzwischen gehen, wie in Hamburg, vielerorts die Lichter aus. In Wuppertal-Ronsdorf steht das größte Jugendgefängnis Nordrhein-Westfalens, es ist noch keine sieben Jahre alt. Schon stehen Teile leer. Einige Flure, geschaffen für je dreißig Gefangene, bleiben in diesem Winter dunkel und unbeheizt. In Essen ist eine komplette Jugendarrestanstalt stillgelegt worden. Geschlossen wegen mangelnder Nachfrage.

    An der Arbeit der Polizei kann es nicht liegen. Die Aufklärungsquote bei Jugenddelikten steigt. Auch an den Richtern dürfte es kaum liegen. Seit 2013 gibt es einen neuen, zusätzlichen Haftgrund für junge Straftäter, den sogenannten Warnschussarrest, und auch beim Strafmaß geht der Trend wieder zu mehr Härte. Es scheint wirklich so zu sein: Die Kriminalität junger Menschen ist rückläufig hierzulande, sogar sehr deutlich. Zwischen 2007 und 2015 hat sich der Anteil der Tatverdächtigen pro 100 000 Jugendlichen um 50,4 Prozent reduziert, sprich: halbiert. "Auf Basis der Polizeilichen Kriminalstatistik ist damit ein historisch einzigartiger Rückgang der Jugendkriminalität zu konstatieren", schreiben die Verfasser einer neuen Langzeitstudie, die Kriminologen Dirk Baier, Christian Pfeiffer und Sören Kliem.


     
    Pfeiffer leitete lange das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen. Seine beiden Kollegen waren seine Schüler dort, heute leiten sie selbst Lehrstühle in Zürich und Braunschweig. Alle drei stehen nicht für kriminalpolitische Härte. Eher für Konzilianz und Resozialisierung. Über die Daten, die sie zusammentragen, lässt sich zunächst aber kaum streiten. Wenn sich mancherorts die Zellen wieder gefüllt haben in den vergangenen Monaten, dann eher mit Flüchtlingen; ein Sondereffekt, der nicht für die angestammten Jugendlichen gilt. 

    Ist die Entwicklung eine Art Friedensdividende für gewaltfreie Erziehung? 

    Oft heißt es: Es könne ja sein, dass die Zahlen zurückgingen. Dafür nehme aber die Brutalität zu. Früher habe man sich auch geprügelt, aber nicht nachgetreten. Deshalb ist zur Abrundung auch noch ein Blick auf eine Untersuchung des Landeskriminalamts Bayern interessant, die 2017 veröffentlicht wurde. Wie stark Gewalt ausgeübt werde, so deren Ergebnis, nimmt ebenfalls beständig ab.

    Woher also kommt der so klare, erfreuliche Trend? Das ist die eigentliche Frage an die drei Kriminologen, und als Antwort stellen sie eine These auf, über die sich diskutieren lässt. Sie stellen einen Zusammenhang her zu einem zweiten, ebenfalls erfreulichen Großtrend: dem allmählichen Rückgang der Gewalt in den Familien. Jugendliche in Deutschland bekommen im Elternhaus heute weniger Gewalt angetan als noch vor zwanzig Jahren. 1998 berichteten 57 Prozent der repräsentativ befragten Schüler, dass ihre Eltern sie gelegentlich schlügen. 2015 waren es noch 39 Prozent.

    Man könnte das als Erfolg einer neuen Politik betrachten, denn seitdem im Jahr 2000 das sogenannte Züchtigungsrecht der Eltern aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch gestrichen wurde, rückt die Polizei verstärkt aus, um etwa prügelnde Väter aus Wohnungen zu verweisen. Die drei Verfasser der Studie sehen stattdessen einen noch längerfristigen Trend wirken. Nämlich, "dass es in Deutschland vor allem seit den Siebzigerjahren einen starken Wandel der elterlichen Erziehungskultur in Richtung auf mehr Liebe und weniger Hiebe gegeben hat". Die These der Forscher: Nachdem Rute und Rohrstock durch die 68er geächtet wurden, ernte die Gesellschaft jetzt eine Art Friedensdividende. ...



    Nota. - Erst das Ei, dann die Henne? Was ist Ursache, was ist Folge? Weniger Jugendgewalt, weil weniger Prügel zuhaus? Oder sind es die zwei Seiten derselben Medaille? Sind beides Symptome einer einzigen soziokulturellen Entwicklung? Das würde sogar die paradoxe Umkehrung in der öffentlichen Wahrnehmung erklären: Weil Brutalität immer ungehöriger wird, wird sie auch immer lauter beklagt -? 
    JE


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