Von Hard Power über Soft Power zu No Power
Die Weltordnung, die den liberalen Demokratien Sicherheit und Wohlstand brachte, verdankt sich wesentlich den Vereinigten Staaten von Amerika und ihrer Vormachtstellung. Ihre Rolle als Garant dieser Weltordnung spielen die USA indes zusehends zögerlicher. Symptome der Erosion zeigen sich.
Eine Epoche geht zu Ende. Aus dem Zweiten Weltkrieg sind die Vereinigten Staaten von Amerika als eindeutige Vormacht hervorgegangen. Zusammen mit anderen Siegermächten schufen sie eine liberale Weltordnung, welche die letzten siebzig Jahre prägte. Sie wachten darüber, dass vereinbarte zwischenstaatliche Regeln in den internationalen Beziehungen einigermassen eingehalten wurden. Doch heute wollen die USA diese Rolle nicht mehr voll wahrnehmen. Deutliche Risse tun sich in der liberalen Ordnung auf. Und keine andere Macht ist in Sicht, die einspringen könnte.
Weltmacht wider Willen
Im Grunde sind die USA eine Weltmacht wider Willen. Als demokratischer und föderalistischer Staat sind sie stark nach innen gewandt. In seiner «farewell address» warnte George Washington seine Landsleute davor, sich in europäische Machtspiele verwickeln zu lassen. Die Amerikaner beachteten seinen Rat. Vom europäischen Konzert der Mächte hielten sie sich fern. Es brauchte die zwei Weltkriege, um sie von ihrer Neutralitätspolitik abzubringen. Als sie aber ins Weltgeschehen eingriffen, erkannten sie, dass «hard power», dass militärische Stärke das Rückgrat der Macht bildet – nicht nur im Krieg, auch im Frieden. Roosevelt meinte: «Peace must be kept by force.» Und Ronald Reagan strebte die Abrüstung über einen beispiellosen Rüstungswettlauf an.
Den Eintritt in den Grossen Krieg erleichterten sich die Amerikaner mit «positive thinking». Es sollte ein letzter grosser Einsatz werden, um die Kriege ein für alle Mal zu beenden. Danach würde eine neue Diplomatie den Rückfall in den Krieg verunmöglichen. Mit Enthusiasmus setze sich Wilson für ein System kollektiver Sicherheit ein. Doch der Völkerbund erwies sich als Illusion. Französische Revancheabsichten infizierten das Konzept von Anfang an mit einem letalen Virus. Und in Amerika drangen die isolationistischen Strömungen wieder an die Oberfläche, so dass die USA dem Völkerbund gar nie beitraten. Andere wie Deutschland, die Türkei oder die Sowjetunion wurden nicht zugelassen. Im Völkerbund sass von Anfang der Spaltpilz.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wagten die USA das Experiment mit einer kollektiven Sicherheitsorganisation erneut. Aber dieses Mal nahmen sie das Heft fester in die Hand. Sie wollten die liberale Weltordnung nach ihren eigenen Vorstellungen errichten. Die wichtigsten Organisationen siedelten sie bei sich selbst an, die Uno in New York, den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank in Washington. Roosevelt und seine Nachfolger hielten nicht viel von kollektiver Sicherheit. Sie erachteten das Uno-System eher als Begleitmusik zur Verstärkung amerikanischer Interessen. Wollte ein Generalsekretär dies nicht verstehen, bekam er es zu spüren, Boutros Boutros-Ghali etwa. Spurte eine Organisation nicht richtig, drehte Washington den Geldhahn zu oder trat, siehe Unesco, vorübergehend aus.
In der westlichen Welt sah man die amerikanische Dominanz nicht ungern. Die amerikanischen Interessen deckten sich weitgehend mit den eigenen. Das Signum des Zeitalters war die Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Block. Zur Abwehr der Bedrohung bedurften Westeuropa und die befreundeten Nationen im Fernen Osten des militärischen Schutzes der Supermacht. Diese gewährte ihn mit der Stationierung von Truppen nahe den Konfliktzonen grosszügig. Selbst die Sowjetunion beugte sich der amerikanischen Vorherrschaft bis zu einem gewissen Grad. Natürlich bejahte sie die liberale Weltordnung nicht, aber sie befolgte weitgehend deren Spielregeln. Dabei kam der Uno eine wichtige Rolle zu. In dieser Organisation sass man sich gegenüber und stritt sich, aber man wickelte auch gemeinsam die Dekolonisierung ab und führte die neuen Staaten in die bestehende Ordnung ein.
Mit dem Ende des Kalten Kriegs schien die grosse Zeit der liberalen Weltordnung anzubrechen. Die USA waren nun unbestritten die vorherrschende Macht. Auf dem ganzen Globus sollten die Demokratien aufblühen wie Blumen nach der Schneeschmelze. In der neuen Situation benötigten die USA weniger militärisches Drohpotenzial als vielmehr überzeugende Argumente, um ihre Vorstellungen durchzusetzen. Der Harvard-Dozent Joseph Nye lieferte 1990 das Stichwort dazu. Er sprach von «soft power». – Was ist Soft Power? Es ist ein Machtkonzept. In den internationalen Beziehungen gibt es drei Formen von Machtausübung: durch Waffen, durch Geld, durch Worte.
Soft Power bedeutet Machtausübung durch Worte, allenfalls noch durch Wirtschaftshilfe oder Sanktionen, jedoch keineswegs durch Waffen. Im Grunde entspricht dies der klassischen Definition der Diplomatie. Auch diese stösst dort an ihre Grenzen, wo militärische Mittel zum Einsatz kommen. Joseph Nyes Konzept von Macht und Einfluss enthielt somit kaum etwas Neues. Aber es wurde in den USA und vor allem in Europa dankbar aufgenommen. Die Europäer erkannten hierin eine theoretische Rechtfertigung für das, was sie ohnehin vorhatten: die Verteidigungsbudgets zu reduzieren und die zivile Friedensförderung aufzubauen, um Demokratie und Menschenrechte in der Welt zu fördern. Nye sprach jedoch von Soft Power als einer Ergänzung zu Hard Power. Das übersah man in Europa geflissentlich.
Im Zeichen von Soft Power glaubten viele Europäer, Machtkonflikte mit neuen Mitteln domestizieren zu können. Statt Panzer und Granaten sollten Verfassungsexperten, Beobachter, Vermittler und andere zivile Spezialisten es richten. Doch man unterlag, wie schon der erste Test zeigte, einer Täuschung. Im Jugoslawienkonflikt kam man damit nicht weit. Ein Beispiel: Gewiss war es richtig, die neuen Republiken in Verfassungsfragen zu beraten. Aber damit war es nicht getan. Es ist relativ einfach, eine gute Verfassung auszuarbeiten. Aber es ist schwierig, eine politische Kultur zu ändern. Dies jedoch ist unumgänglich. Wenn die Verfassungswirklichkeit nicht einigermassen mit den Verfassungsnormen übereinstimmt, ergibt auch die beste Verfassung keinen Sinn.
Als die EU und die Uno einsahen, dass sie mit ihrem Ansatz den kriegerischen Konflikt in Bosnien und Herzegowina nicht lösen konnten, erzwangen sie nicht mit militärischer Macht ein Ende der ethnisch motivierten Kämpfe. Sie mussten die USA bitten, die Führung zu übernehmen. Diese diktierten dann in Dayton einen Frieden manu militari. Der Kosovokonflikt lief nach ähnlichem Muster ab. Soft Power ohne Hard Power im Hintergrund erwies sich als Schönwetterprogramm.
Auf dem Rückzug
Ohne amerikanischen Beistand konnte man die liberale Weltordnung nicht hinlänglich schützen. Die USA waren, wie Präsident Clinton es nannte, die «indispensable nation». In mehreren Krisenherden griff Clinton militärisch ein. Die amerikanische Bevölkerung trug die Interventionen mit, auch wenn ihre nationalen Interessen oft weniger betroffen waren als die Europas. Dass die Militäroperationen, insbesondere die Bombardierung Serbiens, auch Fragen der völkerrechtlichen Zulässigkeit aufwarfen, stand auf einem anderen Blatt. Im Hochgefühl des globalen Triumphs wollten nur wenige mit Nachhaken als Spielverderber auftreten.
George W. Bush setzte die Interventionspolitik seines Vorgängers fort, verstärkt mit neokonservativer Armatur. Mit grosser Hybris erklärte er die Welt als sturmreif für die Demokratie. Unter Amerikas Führung wollte eine Koalition der Willigen mit dem Einmarsch in Bagdad nicht nur ein grausames Regime stürzen, sondern die Demokratie herbeibomben. Die «neocons» dachten mit einem solchen Exempel eine Kettenreaktion im arabischen Raum auszulösen; ein autoritäres Regime nach dem andern sollte wie Dominosteine fallen. Doch vieles kam anders, nicht zuletzt unter dem Einfluss von «9/11» und dem nachfolgenden «war on terror». Die Kriege im Irak und in Afghanistan zogen sich hin, die Zustimmung in der Bevölkerung begann zu bröckeln, immer mehr Amerikaner stellten sich zwei Fragen: Warum sollten ausgerechnet US-Truppen Krisenherde beruhigen, die die amerikanische Sicherheit nicht oder nur marginal tangierten? Und warum sollten die USA die hohen Risiken und teuren Kosten eines militärischen Einsatzes tragen, während sich die Europäer vorwiegend mit – billigeren und weniger gefährlichen – Massnahmen aus dem Repertoire der Soft Power begnügten? Isolationistische Motive keimten wieder auf.
Präsident Obama, der als Abgeordneter gegen den Irakkrieg gestimmt hatte, schien zuerst von der internationalen Mission der USA erfüllt zu sein. Zu Beginn seiner Präsidentschaft hielt er in Kairo eine glänzende Rede über den Wert der Demokratie. Damit wollte er einen Neubeginn in den Beziehungen zur muslimischen Welt einleiten. Es blieb indes bei der Rede. Ausser einigen Gadgets aus dem Bereich der «public diplomacy» folgten keine Taten. Die Araber waren enttäuscht. So erging es auch andern. Obama sprach wie ein Verteidiger der liberalen Weltordnung, handelte aber eher wie ein auf die nationalen Interessen bedachter Präsident. Zwischen Wort und Tat klaffte zusehends eine Lücke.
Dies wurde vollends evident, als er dem syrischen Machthaber Asad harte Massnahmen androhte, falls dieser chemische Waffen im Kampf gegen die Aufständischen einsetzen sollte. Doch er schreckte davor zurück, obschon sich die Indizien verdichteten, dass Asad gerade dies getan hatte. Die rote Linie, die Obama dem syrischen Machthaber gezogen hatte, wurde zu seiner eigenen. Für jedermann ersichtlich hat er einen irreparablen Gesichtsverlust erlitten. Wer im Nahen Osten, wer im Fernen Osten, wer in der Ukraine möchte noch viel auf Obamas Beistandsbeteuerungen geben?
Die USA nehmen die globale Führung höchstens noch beschränkt wahr. Man mag dafür Verständnis haben. Aber es bleibt ein Faktum. Die liberale Weltordnung ist heute an verschiedenen Fronten ernsthaft gefährdet. Mehrere Symptome signalisieren eine Verschlechterung im System der Weltwirtschaft. Seit Jahren kommen die multilateralen Verhandlungen innerhalb der Welthandelsorganisation nicht vom Fleck. Stattdessen füllt ein Geflecht von bilateralen und regionalen Vereinbarungen das Vakuum aus. Wie in den Klimaverhandlungen ist man auch in Handelsfragen nicht mehr in der Lage, einen gemeinsamen globalen Nenner zu finden. Zudem gründeten jüngst die Brics-Staaten aus – nicht ganz unverständlicher – Verbitterung über die westliche Dominanz in den Bretton-Woods-Institutionen alternative Institutionen zu Währungsfonds und Weltbank. Das ist ein einmaliger Vorgang. Noch nie wurden Organisationen aus der Uno-Familie durch Alternativforen konkurrenziert.
Die grössten Gefahren
Die grössten Gefahren indes brauen sich im Politischen zusammen. Die klaren staatlichen Strukturen mit ihren geregelten Zuständigkeiten verschwinden vielerorts im Nebel. In der Ostukraine kämpfen schattenhafte Formationen ohne identifizierbares Visier. Im islamischen Raum nimmt die Anzahl von «failed states» erschreckend zu. Dunkle Flecken, wo niemand mehr die Staatsmacht ausübt, wo es keine internationalen Ansprechpartner mehr gibt, durchsetzen die Landkarte. Im Nahen Osten schicken sich islamistische Kampfgruppen wie der Islamische Staat (IS) an, die aus der Kolonialzeit übernommenen staatlichen Abgrenzungen aufzulösen. Sollten sie Erfolg haben, würde nicht nur die bestehende Ordnung über den Haufen geworfen; die Errichtung eines Kalifats, die Verschmelzung von weltlicher und religiöser Macht würde das, was 1648 auf dem Westfälischen Frieden begann, ausradieren und die Staatenordnung in die Zeit der Religionskriege zurückkatapultieren. Das europäische Zeitalter wäre definitiv zu Ende, auch in seiner amerikanischen Verlängerung.
Noch ist es nicht so weit. Zum Glück zeichnen sich die unerfreulichen Perspektiven erst in fernen Fluchtlinien ab. Aber sie verdeutlichen eines: Die liberale Weltordnung kann gerade heute nicht auf Machtprojektionen verzichten, wenn sie weiterhin einen universellen Anspruch erheben will. Doch wer soll, wer kann diese Führung gewähren? Sollte die Antwort lauten: niemand, dann muss man sich wohl mit dem Gedanken abfinden, dass die liberale Weltordnung ihre Virulenz eingebüsst hat und einem Fleckenteppich von unterschiedlichen Wertvorstellungen weichen wird.
Paul
Widmer ist Dozent für internationale Beziehungen an der Universität St.
Gallen und Autor. Zuletzt erschienen: «Diplomatie. Ein Handbuch» sowie,
in Neuauflage, «Schweizer Aussenpolitik und Diplomatie», beide 2014 bei
NZZ-Libro.
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