Dienstag, 30. September 2014

Der intrigante Liberale und der verfemte Trotzkist.

aus nzz.ch, 30.9.2014, 05:30 Uhr
Isaac Deutscher und Isaiah Berlin in einer Doppelbiografie
Intellektuelle Kollateralschäden im Kalten Krieg



Allenthalben hört man, der Westen und Russland befänden sich in einem neuen Kalten Krieg. Da tut man gut daran, sich zu erinnern, wie es eigentlich gewesen während des ersten Kalten Krieges. Der britische Schriftsteller und Historiker David Caute möchte in seinem Buch «Isaac und Isaiah» – das in Grossbritannien und den USA auf ein beträchtliches Echo gestossen ist – die intellektuell-moralischen Kollateralschäden dieser weltweiten Auseinandersetzung ins Gedächtnis rufen. Seine faszinierende Doppelbiografie eines liberalen und eines marxistischen Historikers enthüllt zwar nicht den ganz grossen Skandal, wie es der Untertitel – «Die geheime Bestrafung eines Häretikers im Kalten Krieg» – glauben macht. Sie vermittelt aber ein Gefühl für eine Epoche, die uns schon fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer sehr, sehr fremd geworden ist.

Parallelen im Lebenslauf

Der Biograf beginnt mit einem persönlichen Erlebnis: Als ganz junger Fellow am All Souls College in Oxford wurde David Caute 1963 von dem eminenten Ideenhistoriker Isaiah Berlin (1909 bis 1997) gefragt, was einen Wissenschafter ein für allemal diskreditiere. Berlin gab die Antwort gleich selbst: Unehrlichkeit und vor allem die bewusste Verfälschung von Tatsachen und Quellenmaterial. Berlin gab auch ganz offen zu, um wen es ging: um den jüdischen Historiker und Stalin-Biografen Isaac Deutscher (1907 bis 1967), seinerzeit ein prominenter Intellektueller in Grossbritannien, gegen Ende seines Lebens ein Idol der neuen Linken – und ein Mann, in dessen Lebenslauf sich gewisse Parallelen zu demjenigen Isaiah Berlins finden: Deutscher war vor den Nazis aus Polen geflohen, Berlins Familie vor den Bolschewiki aus Russland; beide wurden nicht nur zu einflussreichen Publizisten und BBC-Gästen, sondern zu aussergewöhnlichen Stilisten einer Sprache, die sie sich als Exilanten erst mühsam aneignen mussten – kosmopolitische intellektuelle Karrieren, die heute, bei allem Gerede über Globalisierung, so nicht mehr ohne weiteres denkbar sind.

Isaiah Berlin und Isaac Deutscher

Anders als Berlin, der nicht nur in Oxford, sondern auch in der englischen High Society reüssierte und sich ab 1957 «Sir» nennen durfte, hatte Deutscher keine feste Stellung an einer Universität inne. Er musste sein Geld im journalistischen Tagesgeschäft verdienen. Dass sich daran nichts änderte und Deutscher trotz gegenteiligen Versprechen nie an die neugegründete Universität Sussex berufen wurde, lag an keinem anderen als Berlin. Isaiah Berlin, so weist Caute anhand von Briefen nach, legte de facto ein Veto ein, als er dem Berufungsgremium vertraulich mitteilte, Deutscher sei der einzige Wissenschafter, dessen Präsenz an der gleichen Hochschuleinrichtung er moralisch nicht ertragen könne.

Isaac Deutscher erfuhr nie, wer seine Berufung sabotiert hatte. Anfang der siebziger Jahre jedoch enthüllte eine linksradikale Zeitschrift die Geschichte, allerdings ohne Beweise beibringen zu können. Psychologisch interessant – wenn auch letztlich nicht erklärlich – ist, warum Berlin daraufhin mehrmals an Deutschers Witwe schrieb, um sie seiner Unschuld zu versichern. Ideengeschichtlich interessant – und insgesamt ergiebiger – ist die Frage, warum Berlin es auf Deutscher als herausragendes Beispiel intellektueller Unredlichkeit abgesehen hatte. An Stalin-Apologeten, Geschichtsverfälschern und parteihörigen Intellektuellen mangelte es bekanntlich während des Kalten Krieges nicht. Zudem wollte Isaiah Berlin öffentlich gerade nicht als Kommunistenfresser gesehen werden. Am Anfang seiner wissenschaftlichen Laufbahn hatte er eine durchaus von Sympathie getragene Marx-Biografie geschrieben. Er unterstrich immer wieder, er teile nicht die Meinung der McCarthyisten, wonach ein Marxist keinen Lehrstuhl innehaben dürfe. Deutscher, so Berlin, verursache ihm nicht wegen seines Marxismus geradezu Übelkeit, sondern wegen seiner Klitterungen der sowjetischen Geschichte.

Liberale Denker wie Friedrich von Hayek und Karl Popper waren in Berlins Augen allerdings auch zu dogmatisch. Bekannt wurde er denn auch vor allem als ein Ideenhistoriker, der sich noch in die ärgsten Antiliberalen – beispielsweise den französischen Gegenaufklärer Joseph de Maistre – auf geradezu unheimliche Art einfühlen konnte. Den Feind von innen verstehen, ja gar im intellektuellen Kampf von ihm lernen – das war die Devise eines dezidiert Berlinschen (und in den Augen seiner Kritiker: allzu lauwarmen) Liberalismus. Isaiah Berlins zahlreiche Schüler und Bewunderer haben diesen Liberalismus inzwischen zu ganzen Theorien über Wertepluralismus, Toleranz und die Minimalanforderungen einer anständigen Gesellschaft weitergesponnen.

Warum also die Intoleranz hinterrücks ausgerechnet gegenüber Deutscher? Eitelkeit – im Wissenschaftsbetrieb bekanntlich nicht ganz selten – mag eine Rolle gespielt haben. Deutscher hatte Berlins Kritik am historischen Determinismus seinerseits einer heftigen Kritik unterzogen. Berlin meinte, der Historiker könne gar nicht ohne moralisches Urteil Geschichte schreiben und müsse stets den Einzelnen im Blick behalten statt unpersönlicher «Prozesse»; Deutscher, darin seinen Idolen Lenin und Trotzki treu, war strikt gegen jegliche «humanitäre Gefühlsduselei». Wobei die Ironie es will, dass eigentlich Isaac Deutscher es war, der mit seinen heute noch vielgelesenen Biografien Trotzkis und Stalins die Rolle der «grossen Männer» in der Geschichte unterstrich, während es bei Berlin gar nicht so sehr die Individuen als vielmehr die grossen, über weite Zeiträume wirkenden Ideen waren, die die Historie prägten.

Zeitgeschichtliche Dokumentation

Die Pointe bleibt bei «Isaac and Isaiah» insofern aus, als Caute selber zugeben muss, Deutschers Scheitern in Sussex sei wohl nicht die schwerwiegende Tragödie im Leben des marxistischen Historikers gewesen. Man hätte sich Deutscher, der ständig in populären Zeitungen und Magazinen – auch erzliberalen wie dem «Economist» – publizierte und auf vielen Podien umschwärmt wurde, schwerlich als glücklichen Menschen bei der universitären Gremienarbeit vorstellen können. Und wie Berlins Verteidiger zu Recht unterstrichen haben, war es ohnehin nicht plausibel, dass ein Mann, dem der Gulag keinen Eintrag im Index seiner Stalin-Biografie wert war, junge Engländer in den sechziger Jahren «Soviet Studies» hätte lehren sollen.

Interessant ist David Cautes Buch insofern weniger als moralisches Lehrstück über Liberale, die während des Kalten Krieges nicht nur die Nerven, sondern auch die liberalen Tugenden verloren – sondern als zeitgeschichtliche Dokumentation. Eine Welt, in der Marxisten lange geschichtsphilosophische Essays in Tageszeitungen publizieren und Liberale zur besten Sendezeit die Komplexitäten der russischen Intelligenzia des neunzehnten Jahrhunderts erhellen, ist uns fern gerückt. Zwar meinen auch wir noch, hinter jedem illiberalen Herrscher mit System müsse auch ein mehr oder weniger grosser illiberaler Denker stehen – kein Putin beispielsweise ohne den Geostrategen und Carl-Schmitt-Adepten Alexander Dugin. Aber vielleicht werden die entscheidenden Schlachten gar nicht mehr von Grossintellektuellen geschlagen, sondern von den anonymen Kommentatoren im Netz. Wenn man sich anschaut, wer was wo in Internet-Propaganda investiert, scheint dies zumindest auch die Meinung des Kreml zu sein.

David Caute: Isaac and Isaiah: The Covert Punishment of a Cold War Heretic. Yale University Press 2013. 352 S., $ 45.–.


Nota.

Vor Alexander Scholschenyzin war das Wort Gulag im West weitgehend unbekannt. Deutschers Stalin-Buch erschien 1949; der Archipel Gulag erschien 1973.
JE

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen