Sonntag, 21. September 2014

Eine Religion der Beliebigkeit.

aus nzz.ch, 20.9.2014, 05:30 Uhr


Gewalt und Unterdrückung im Islam
Eine Religion der Beliebigkeit


Martin Rhonheimers Essay «Töten im Namen Allahs» hat grosse und kontroverse Resonanz gefunden (www.nzz.ch/meinung/debatte/). Necla Kelek greift das Thema auf und plädiert dafür, dass Muslime mehr Verantwortung übernehmen sollten für das, was im Namen ihrer Religion geschieht.

Der Artikel «Töten im Namen Allahs» des katholischen Philosophen Martin Rhonheimer beschreibt auf schlüssige Weise die Argumentationslinien, wie sie sich aus dem Koran und den Hadithen herauslesen lassen. Er bringt es auf den Punkt. Ich gehe noch einen Schritt weiter und sage: Wer den Koran wörtlich nimmt, ihn ahistorisch liest und auslegt, öffnet die Büchse der Pandora.

Tatsächlich wird von den Terroristen des Islamischen Staats noch viel simpler argumentiert. Ihnen reichen die siebzehn Verse des Korans, in denen zu Mord, Totschlag, Körperverletzung und Krieg aufgerufen wird. Den Rest blenden sie aus. Natürlich kommt von islamischen Theologen postwendend der Einwand, dass Martin Rhonheimer und besonders die militanten Islamisten den Islam und den Koran falsch verstanden hätten – und sie fügen hinzu, das Christentum sei ja auch nicht immer friedlich gewesen. Die Unterstellung, der Islam sei eine Religion des Krieges, sei böswillig. Allerdings bezweifeln sie nicht die entsprechenden Koranstellen, sondern sie zitieren eine Reihe von anderen Suren und Versen, die belegen sollen, dass der Koran eine Friedensbotschaft einschliesse.

Ein Textbaukasten

Es gibt über zehn anerkannte «Lesarten» des Korans, d. h. Arten, wie der arabische Text vokalisiert wird. Es gibt aber weit mehr Arten, wie er verstanden werden kann. Tatsächlich ist der Islam aufgrund seiner Geschichte eine Religion der Beliebigkeit. Und das liegt an seinem Buch, dem Koran, und an der Herrschaft der Vorbeter, die seit tausend Jahren einen innerislamischen Diskurs verhindern. Wir wissen alle: Religionen sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben eine Geschichte. Auch der Koran hat seine historischen Quellen. Betrachten wir den Koran als ein Stück Literatur, dann müssen wir feststellen, dass er in seiner Struktur vollkommen inkohärent ist.

Die 114 Suren sind nicht chronologisch nach dem Zeitpunkt ihrer 23 Jahre währenden Offenbarung geordnet, auch nicht nach Themen oder Sinnzusammenhängen, sondern – Jahrzehnte später – nach ihrer Länge zusammengefügt worden. Die längste Sure, mit Ausnahme der allerersten, steht am Beginn, die kürzeste am Ende. Suren, die in Mekka entstanden, wurden durch spätere, in Medina hinzugefügte aufgehoben. Offenbar spielten politische Gründe eine Rolle. Es gibt eine Reihe einander widersprechender Aussagen. Islam-Gelehrte schätzen, dass zwischen 200 und 500 der über 6000 Verse des Korans «abrogiert», d. h. aufgehoben oder verworfen sind. Eine exakte Bestimmung ist schwierig, weil es eine grosse Zahl von Wiederholungen in den Suren gibt. So werden zum Beispiel die Aussagen über Hölle und Paradies in 88 Suren variiert. Oder relativiert wie in Sure 6, Vers 151, in der unter anderem zu lesen steht: «Und ihr sollt [. . .] niemanden töten, den [zu töten] Allah verboten hat, ausser wenn ihr dazu berechtigt seid.»

Wer will, kann sich aus diesem Textbaukasten seinen Islam und seine Legitimation basteln. Von dieser Möglichkeit machen die Muslime weltweit reichlich Gebrauch. Es gibt eine Vielzahl von Rechtsschulen, Sekten, Predigern, die jeweils ihre Weltsicht auf ihre Art aus der Schrift heraus begründen. Das Hauptanliegen der Strenggläubigen ist dabei, das eigene Verhalten auf die «Urschrift» zurückzuführen und damit ihre Herrschaft vor allem über die Frauen und Ungläubigen als gottgewollt darzustellen. Blutrache, Steinigung, Vielweiberei lassen sich mit Koranversen legitimieren. Das gesamte Rechtssystem der Scharia ist darauf gerichtet, die herrschende Gemeinschaft, die Umma, zu bewahren, und klammert das aus, was wir unter «Gesellschaft» – zum Beispiel Rechte des Individuums – verstehen.

In einer «Kriminalgeschichte des Islam» könnte man belegen, dass die islamische Religion von Mohammed bis heute immer die Legitimierung von patriarchalischer Herrschaft und Gewalt eingeschlossen hat. Wer heute, wie die Salafisten es tun, zurück zu den alten Verhältnissen im Mekka von damals will, begibt sich auf einen Weg, der zwangsläufig ins Verderben führt.

Der Islam führt das Wort «Unterwerfung» bereits im Namen und hat sich, weil er eine «späte» Religion ist, gegen andere Religionen durchsetzen und behaupten müssen. Nach der ersten Expansion und der Spaltung in Sunniten und Schiiten gab es um die erste Jahrtausendwende eine «goldene Zeit» in Damaskus und Bagdad, wo unter anderem islamische, griechische, persische Denkrichtungen in einen fruchtbaren Diskurs traten und die Vernunft Einzug auch in den Islam hielt. Aber im Gegensatz zur Geschichte der anderen Religionen wurde dieser Prozess im Islam beendet; und das «Tor der Erkenntnis» wurde geschlossen, das die theologische Schule der Mutaziliten geöffnet hatte, um mithilfe der Vernunft die Glaubenssätze des Korans zu verstehen und zu begründen. Die Vernunft wurde ins Abseits gestellt, die Vorbeter übernahmen das Schwert und halten es bis heute in den Händen.

Die Christen haben sich seit dem ersten Konzil in Nizäa im Jahr 325, also schon dreihundert Jahre vor Mohammeds Auftreten, organisiert und institutionell um ihr Glaubensbekenntnis gestritten und führen diesen Diskurs um ihren Glauben bis heute fort. Das war und ist von Rückschritten und Fehlurteilen begleitet, führt aber dazu, dass die christlichen Kirchen in der Lage sind, ihre Lehren den Gegebenheiten anzupassen. Die islamische Lehre hat sich solcher Erneuerung verweigert.

Mohammed war nicht nur Prophet, sondern auch Kriegsherr. Der Jihad, der «heilige Krieg», nicht die friedliche Mission war seither das Mittel, den Islam zu verbreiten. Die Menschen in Damaskus, Jerusalem, und Alexandria wurden nicht nur bekehrt, sondern auch überfallen und unterworfen. Der Islam ist eine Religion der Unterwerfung. Dies heisst aber nicht, dass die Mehrheit der Muslime keinen Frieden will oder ihren Glauben mit Gewalt verbreiten will. Die Gläubigen suchen in der Religion Frieden und Identität. Sich zu einer Religion zu bekennen, die den Anspruch erhebt, die «Umma» eine weltumspannende Gemeinschaft zu sein, bedeutet aber auch, Verantwortung für das zu übernehmen, was im Namen dieser Religion geschieht. Dazu gehört, bestimmte Dinge, die sich im Leben als historisch, überholt oder falsch erwiesen haben, zu erkennen und zu ändern. Und diejenigen zu ächten, die den Namen des Islam missbrauchen.

Diskurs und Zweifel

Der Islam hat es in seiner Geschichte versäumt, diesen theologischen Diskurs zu führen. Der Beitrag islamischer Denker zur Philosophiegeschichte der Menschheit ist auch deshalb in den letzten fünfhundert Jahren kümmerlich und lässt Sektiererei jeden Raum. Dass derzeit die Salafisten mit ihrer regressiven und tumben Ideologie bei Muslimen einigen Erfolg haben, hängt unter andrem damit zusammen, dass es im Islam keinen Standard an Wissen und Bildung in eigener Sache gibt, sondern «Taqlid», die fraglose Übernahme des Vorgegebenen, die Imitation des Ewiggleichen, vorherrscht.

Die friedliebenden Muslime werden den Fundamentalisten so lange argumentativ hilflos gegenüberstehen, solange sie nicht bereit sind, auch den Koran als historischen und zu hinterfragenden Text und den Zweifel als legitim zu betrachten. Die Islamwissenschaft muss einen historisch-kritischen Umgang mit den überlieferten Schriften betreiben, die Muslime müssen in einen Diskurs um ihren Glauben eintreten und sich und anderen beweisen, dass ihre Religion im säkularen Staat angekommen ist. – Es reicht aber das allein kaum, denn solange Angst und Furcht das Verhältnis zu Allah bestimmen, werden auch die Gläubigen nicht frei sein.
 
Dr. Necla Kelek, geboren in Istanbul, lebt als Sozialwissenschafterin und Publizistin in Berlin. 2012 sind die Bücher «Chaos der Kulturen. Die Debatte um Islam und Integration» sowie «Hurriya heisst Freiheit. Die arabische Revolte und die Frauen – eine Reise durch Ägypten, Tunesien und Marokko» (beide bei Kiepenheuer und Witsch) erschienen. – Die im Text erwähnten siebzehn Suren sind die folgenden: 2, 178; 2, 191; 2, 193; 2, 216; 2, 244; 4, 74; 4, 76; 4, 104; 5, 35; 8, 12; 8, 39; 9, 5; 9, 36; 9, 111; 9, 123; 47, 35; 49, 15.

Nota.

Vor allem irritiert den theologischen Laien die merkwürdige dogmatische Blässe der muslimischen Religion. Was ist der Kern dieses Glaubens, was zeichnet ihn vor allen andern Lehren aus und unterscheidet ihn?

Bei den Christen ist es die Dreieinigkeit, übrigens erst nach Jahrhunderten von Sektenkämpfen mühsam errungen. Aus ihr folgen die Menschwerdung, der Opfertod, das Erlösungsversprechen, die gemeinsame Gotteskindschaft. Sie haben die abendländische Kultur bis in die intimsten Winkel geprägt, und auch der Atheist kann bemerken, wenn sich Christen durch ihr Handeln in Gegensatz zu diesen Glaubensgrundsätzen begeben, und Erklärung verlangen. (Sonst wären spezifisch christliche Parteien ziemlich unerträglich gewesen.) Mit andern Worten - das christliche Dogma schützt die christlichen Kirchen nicht vor der öffentlichen Kritik.

Gibt es etwas Vergleichbares im Islam? Kann dort nicht jeder Gläubige das, was er aus dem heiligen Text herausgepickt hat, zum Schibboleth erheben und sich einen Vorzug gegen alle andern zuschreiben? Nicht einmal die Umma ist ja Öffentlichkeit - geschweige eine säkulare Gesellschaft.
JE



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