Mori Ogai, José Rizal, W. E. B. Dubois
Völkerbefreiung aus dem Geist der Germanophilie
Fast gleichzeitig studierten um 1900 drei Männer aus fernen Ländern im Wissenschaftsmekka Berlin. Sie wurden später zu Nationaldichtern. Ein wenig bekanntes Kapitel der Kolonialgeschichte.
von Hans Christoph Buch
Sich vom Eurozentrismus zu distanzieren, gehört heute zum guten Ton, aber die Agenda des Jahres 2014 zeigt, wie selektiv unser kulturelles Gedächtnis funktioniert. Zwar wurde bis zum Überdruss an erinnert, doch die Schlacht von Dien Bien Phu 1954, die Frankreichs Präsenz in Asien beendete, fiel ebenso unter den Tisch wie die 1884 von Bismarck einberufene Kongo-Konferenz, als Europas Grossmächte Afrika wie eine Schokoladentorte aufteilten – die Sprach- und Siedlungsräume zerstückelnden Grenzen haben nach wie vor Bestand. Dass die damals Kolonisierten von der Peripherie ins Zentrum des Interesses rückten und heute ein wichtiges Wort mitzureden haben in Kunst und Literatur, spricht sich allmählich herum, aber dass Berlin in der Kaiserzeit zum Katalysator wurde für den Aufbruch der Dritten Welt, ist nur wenigen Eingeweihten bekannt.
Hierfür drei Beispiele: Auf halbem Weg vom Hauptbahnhof zum Bahnhof Friedrichstrasse fährt die S-Bahn an einer Hausfassade der Gründerzeit vorbei, auf der in fernöstlicher Kalligrafie ein Name prangt, mit dem die meisten Berliner nichts anfangen können.
Mori Ogai war ein japanischer Arzt und Schriftsteller, der von 1884 bis 1888 in Deutschland studierte, unter anderem bei Robert Koch an der Charité, und die moderne Medizin in Japan einführte. Es war die Zeit der Meiji-Reform, in der Japan sich dem Westen öffnete und das jeweils Beste aus Europa übernahm, beispielsweise Scotland Yard aus London und die medizinische Forschung aus Berlin, weshalb japanische Ärzte noch bis vor kurzem Deutsch lernten. Mori Ogai übersetzte beide Teile des «Faust» und schrieb in Deutschland spielende Novellen wie «Das Ballettmädchen» und «Wellenschaum», auf deren Spuren japanische Touristen Berlin oder den Starnberger See aufsuchen. Der aus einer Samurai-Familie stammende Dichter wurde Obermediziner des Heeres, und als die DDR diplomatische Beziehungen zu Tokio aufnahm, richtete die Humboldt-Universität an Ogais einstigem Wohnort, Luisenstrasse 39, eine kleine, aber sehenswerte Gedenkstätte ein.
Beissende Anklage
Nicht weit von da, in der Jägerstrasse 71, erinnert eine Bronzetafel an den Nationaldichter und Freiheitshelden der Philippinen, José Rizal , der zur selben Zeit in Berlin seinen auf Spanisch geschriebenen Roman «Noli me tangere» (Rühr mich nicht an) publizierte. Hinter dem lateinischen Titel verbarg sich eine beissende Anklage gegen koloniale Arroganz und katholische Doppelmoral, die bis heute Pflichtlektüre an philippinischen Oberschulen ist. Der 1861 geborene Autor hatte chinesische Vorfahren und hiess mit vollem Namen José Protacio Rizal Mercado y Alonso Realonda. In Madrid und Heidelberg, in dessen Nähe man ihm ein Denkmal errichtete, hatte er Medizin studiert und trat 1887, als er «Noli me tangere» schrieb, der Berliner Gesellschaft für Anthropologie und Urgeschichte bei. Nach Manila zurückgekehrt, wurde Rizal als angeblicher Agent Bismarcks, Protestant und Freimaurer vor Gericht gestellt und im Schnellverfahren zum Tode verurteilt, obwohl er nur begrenzte Autonomie, nicht die Unabhängigkeit von Spanien gefordert hatte. Die letzten Worte seines Romanhelden, «Ich sterbe, ohne das Morgenrot über meinem Vaterland leuchten zu sehen», haben auch für Rizal Gültigkeit, der kurz vor der Exekution an seinen deutschen Freund Blumentritt schrieb: «Wenn Du diesen Brief erhalten hast, bin ich schon todt.»
José Rizal.
Das ist mehr als eine Fussnote der Geschichte – es geht um wegweisende Dichter und Denker, die in ihren Herkunftsländern wie Heilige verehrt werden. Last, but not least – hier stimmt die englische Redensart – ist W. E. B. Dubois zu nennen, der mit einem Stipendium der Harvard University 1892 bis 1894 in Berlin studierte, nachdem er in Eisenach Deutsch gelernt und sich in Dora Marbach, die Tochter seines Hauswirts, verliebt hatte. William Edward Burghardt Du Bois stammte von französischen Hugenotten und haitianischen Sklaven ab, die als freie Farbige in die USA gekommen waren, und hatte dort mit einer Rede auf Bismarck und einer Examensarbeit über die Deutsche Reichsbahn Aufsehen erregt.
Berlin war damals ein Mekka der Wissenschaft, und der 24-Jährige belegte wie seine Vorgänger Kurse an Robert Kochs Hygiene-Institut. Natur- und Geisteswissenschaften waren noch nicht durch Berliner Mauern getrennt, und Dubois studierte Nationalökonomie bei dem «Kathedersozialisten» Gustav Schmoller, Soziologie bei Max Weber und Geschichte bei Heinrich von Treitschke, besuchte Theater, Opern und Konzerte. Obwohl Rassismus verbreitet war, wurde Dubois nach eigenem Bekunden nicht diskriminiert, im Gegenteil: Der dunkelhäutige Dandy, der sich einen wilhelminischen Schnurrbart wachsen liess und mit Korpsstudenten um die Wette soff, genoss die Narrenfreiheit eines Paradiesvogels. Er trug einen Zettel mit Namen und Adresse bei sich, damit Droschkenkutscher ihn, wenn er betrunken war, nach Hause karren konnten, und schwängerte eine Deutsche, die er nicht heiratete, um ihr die Rassendiskriminierung in den USA zu ersparen. «Entbehren sollst du, sollst entbehren», lautete fortan das aus «Faust» entlehnte Motto des germanophilen Schwarzen, der die Erste Panafrikanische Konferenz in London 1900 mit den Worten eröffnete: «The problem of the negro is the problem of the color line!»
Der schwer übersetzbare Begriff «color line» verweist sowohl auf die Rassenschranke wie auf die Grenze zwischen Nord- und Südstaaten. Er kehrt in Dubois' Hauptwerk von 1903 wieder, «The Souls of Black Folks», das wie eine biblische Verheissung den Kampf der Afroamerikaner für Gleichberechtigung und Respekt vorwegnahm und bis heute begleitet. Dubois' Thesen sind brennend aktuell. Das Buch, eine Mischung aus Erzählung und Essay, beginnt mit der Reflexion darüber, wie man sich fühlt, wenn die eigene Identität von anderen definiert und zum Problem erklärt wird – kurz: wie es ist, ein Problem zu sein. Der Titel spielt an auf Fausts Diktum «Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust», in einem Sinn, den Goethe nicht vorausahnen konnte: «Das seltsame Gefühl des gespaltenen Bewusstseins, sich selbst mit den Augen der anderen zu sehen, in einer Mischung aus Mitleid und Verachtung. Neger und Amerikaner: zwei Seelen, zwei Denkweisen, zwei konkurrierende Ideale in einem dunklen Körper, den nur seine Muskelkraft vor dem Zerreissen bewahrt.»
Richard Wagner als Pate
Nicht nur Goethe und Schiller, auch Herder und Nietzsche haben deutlich erkennbare Spuren im Text hinterlassen, und der von Dubois verehrte Richard Wagner stand Pate bei der Entdeckung der afroamerikanischen Musik, die wir heute als Blues bezeichnen, so dass es nicht übertrieben ist, von einer schwarzen Renaissance aus dem Geist deutscher Kultur zu sprechen. Dubois' Definition des Jazz war zukunftweisend in einer Zeit, als Louis Armstrong noch in der Wiege lag und Scott Joplin die ersten Ragtimes komponierte: «Die Musik der Neger besteht aus rhythmisch klagenden Melodien und traurigen Mollkadenzen, die, aller Karikatur zum Trotz, der schönste und originellste Ausdruck menschlichen Lebens und Strebens auf amerikanischem Boden sind.»
Max Weber war so beeindruckt von der Lektüre, dass er W. E. B. Dubois 1904 in Atlanta besuchte und sein Buch auf Deutsch herausbringen wollte. Es ist in seiner nachhaltigen Wirkung mit «Onkel Toms Hütte» vergleichbar. Dabei war Dubois alles andere als ein quietistischer Onkel Tom: 1909 gründete er Amerikas älteste Bürgerrechtsbewegung, die noch heute aktive NAACP (National Association for the Advancement of Colored People). 1919 organisierte er den Weltkongress afrikanischer Völker in Paris, schrieb vielbeachtete Bücher und wurde 1959 mit dem Lenin-Friedenspreis geehrt, nachdem er vor der Hexenjagd des Senators McCarthy nach Ghana geflohen war, wo Präsident Nkrumah ihn als Ehrengast empfing. W. E. B. Dubois starb 1963 in Accra, am Vorabend von Martin Luther Kings historischer Rede in Washington («I have a dream»), die dieser ohne sein Vorbild nicht hätte halten können.
Hans Christoph Buch lebt in Berlin. Sein Roman «Apokalypse Afrika – Schiffbruch mit Zuschauern» und der Essay «Boat People – Literatur als Geisterschiff» erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt.
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