aus nzz.ch, 17.12.2014, 05:30 Uhr
Europa verabschiedet sich vom Ende der Geschichte
Mit dem Ende des Kalten Krieges 1989/90 begann in den Augen vieler Europäer ein neues, besseres Zeitalter; eine Zukunft schien heraufzuziehen, die sich fundamental von der Vergangenheit unterscheiden würde. In Europa entstand offenbar eine neue politische Ordnung, die die Irrungen und Wirrungen der Vergangenheit – Konflikte und Kriege – ein für alle Male hinter sich liess. Europäische Geschichte als «Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit» (Hegel) schien endlich, nach den totalitären Abwegen des 20. Jahrhunderts, zu sich selbst zu finden.
von Ulrich Speck
In dieser neuen Welt gab es keine Feinde mehr. Konflikte waren nichts anderes als Missverständnisse, die man durch Kommunikation beheben konnte. Die neuen Aufgaben der Politik waren transnational und liessen die Enge der Staatenwelt hinter sich: Ökologie, Klima, Gerechtigkeit. Der Weltstaat, von dem Kant geträumt hatte, als Verwirklichung einer Weltgesellschaft und einer globalen Rechtsordnung, schien in greifbare Nähe zu rücken.
Balkankriege und islamistischer Terror als Rückzugsgefechte Ewiggestriger
Die Bürgerkriege auf dem Balkan drohten zwar dieses Narrativ vom «Ende der Geschichte» (Francis Fukuyama) zu unterlaufen. Doch im globalen Fortschrittsdiskurs waren dies Rückzugsgefechte von Ewiggestrigen, die die Segnungen einer globalisierten, ganz auf das ökonomische Wohlbefinden ausgerichteten neuen Epoche noch nicht begriffen hatten. Und auch vom islamistischen Terrorismus liess man sich nicht beirren, jedenfalls nicht in Europa. Terrorismus wurde überwiegend nicht als Angriff auf die liberaldemokratische Ordnung wahrgenommen, sondern als Reaktion auf Fehler Amerikas gedeutet. Deshalb applaudierte Europa, als Obama den Rückzug aus dem Irak ankündigte.
2014 als Jahr der bitteren Erkenntnisse
Doch der Rückzug Amerikas aus dem Irak, die Konzentration auf Diplomatie und Verhandlung, die Weigerung, weiterhin eine Führungsrolle in der Region einzunehmen, haben nicht zum Frieden geführt. 2014 war das Jahr, in dem sich die Europäer von ihrer bequemen Illusion verabschieden mussten, dass Gewalt in Europas Nachbarschaft im Wesentlichen eine Reaktion auf amerikanische Macht darstellt. Im Süden eroberten die barbarischen Horden des IS ein Territorium. Das «Trainingslager» für radikale Islamisten, vor dem die Befürworter des Afghanistankriegs immer gewarnt haben, ist entstanden, nicht fern am Hindukusch, sondern in direkter Nachbarschaft Europas.
Und im Osten demonstrierte Putins Russland, dass es postmoderne europäische Friedensliebe als Schwäche deutet, als Unfähigkeit, für Interessen und Werte einzustehen. Die europäische Interpretation, in solchen Aktionen manifestiere sich der Widerstand gegen ein aggressives Amerika, ist zwar immer noch zu hören. Doch ein Amerika, das sich seit Jahren in der Tendenz zurückzieht, weil es die Verantwortung für globale Ordnung nicht mehr so recht tragen will, taugt immer weniger zum Sündenbock. Die Europäer sehen sich gezwungen, sich selbst mit Phänomenen wie radikalem Islam und russischer Aggression auseinanderzusetzen.
Mehr noch, je näher die Gewalt an Europa heranrückt, umso mehr kommen sie selbst unter Handlungszwang. Aus der Akteursperspektive aber sehen diese Dinge sehr anders aus. Die islamistische Gewalt in der Levante und der Ukraine-Konflikt sind längst nicht mehr vorrangig Probleme Amerikas, sondern Herausforderungen für Europa.
Geschichte hat Europa eingeholt
Die Pause von der Geschichte, die die Europäer über Jahrzehnte geniessen durften, ist im Jahr 2014 wohl endgültig zu Ende gegangen. Diplomatie, gutes Zureden, wirtschaftliche Anreize und Integrationsangebote bleiben weiterhin wesentliche Elemente europäischer Aussenpolitik.
Aber wenn mörderische Banden und Horden Zivilisten massakrieren, wenn ein mächtiges Land ein weniger mächtiges Nachbarland angreift, besetzt, destabilisiert, muss Europa erst einmal Gegenwehr leisten, auch wenn das schwierig und riskant ist. Die Geschichte hat Europa wieder eingeholt. Aussenpolitik dreht sich wieder um Staaten, Grenzen, Konflikte und militärische Gewalt. Europa hat seine Antwort darauf noch nicht gefunden.
Ulrich Speck ist Visiting Scholar bei Carnegie Europe in Brüssel.
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