Mittwoch, 10. Juni 2015

Chinesische Zweifel am Wachstumsziel.

aus Der Standard, Wien, 10.6.2015

Studie: 
China 100 Jahre hinter Deutschland zurück
Chinas Wirtschaft wächst langsamer, laut einem neuen Bericht ist das Land in der Entwicklung noch weit zurück

von Johnny Erling

Schanghai – Ein neue chinesische Untersuchung stellt den raschen Aufstieg der Volksrepublik zur modernen Industriemacht infrage und sorgt für kontroverse Debatten in Peking. Wissenschafter vom Forschungszentrum für industrielle Modernisierung an der Akademie der Wissenschaften veröffentlichten Anfang der Woche den 500 Seiten starken "Modernisierungsbericht China". Sie fanden heraus, dass die tatsächliche Ausgangslage der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt, sich rasch modernisieren zu können, viel schwächer ist als angenommen – vor allem, wenn es darum geht, die Wende zu einem effizienten, nachhaltigen Wachstum schnell über die Bühne zu bringen.

Chinas Industrieentwicklung verlaufe extrem ungleichzeitig, urteilt der Bericht. Sie glänze auf Feldern wie der Bahnindustrie mit ihren Highspeed-Zügen, hinke aber auf anderen hinterher. Die Forscher legten ihrem weltweiten Vergleich das Jahr 2010 zugrunde.

Sie untersuchten die Industriemodernisierung anhand von drei Maßstäben: der Arbeitsproduktivität, dem Wachstumstempo in der Wertschöpfung und dem Anteil der industriellen Arbeitskräfte an der Gesamtbevölkerung. Forschungsleiter He Chuanqi nannte das Ergebnis: 2010 lag China 100 Jahre hinter dem Stand von England und Deutschland und 60 Jahre hinter Japan zurück.

Einschneidende Reformen gefordert

Das Einholen hochentwickelter Industriestaaten wird demnach eine langwierige Angelegenheit. Beim Vergleich anderer Daten befinde sich das Land im Mittelfeld, antworteten die Forscher auf Vorhaltungen. Doch Kennziffern wie der Anstieg der Arbeitsproduktivität, bei dem China nur auf ein Neuntel der USA kam, und der Wertschöpfung entscheiden nun einmal über den Erfolg des Umkehrkurses in der chinesischen Wirtschaftsweise hin zum qualitativen, innovativen und ökologisch nachhaltigen Wachstum.

Die Studie stuft China auf den Stand der ersten Phase moderner Industrialisierung ein. Pekings Führung verfolgt ehrgeizigere Ziele. Sie nimmt sich Deutschlands Industrieplan 4.0 als Vorbild für die Modernisierung. Experten sind sich einig: Um dahin zu kommen, müssten einschneidende und durchgreifende Reformen umgesetzt werden. Sonst bleibt das Land auf halbem Weg stehen.

Investitionsstopp

Nicht nur Forscher sorgen sich, ob Peking den Reformwillen aufbringt. "Wir brauchen keine Propagandalösungen und Kampagnen mit leeren Worten", kritisierte Jörg Wuttke, Präsident der Europäischen Handelskammer in China, den wieder spürbaren Reformstau. Nur im Finanzbereich tue sich wirklich etwas. Vertreter der europäischen Wirtschaft in China fühlten sich "vor unsicheren Zeiten". Laut einer Umfrage zum Geschäftsklima 2015, die Wuttke am Mittwoch in Peking vorstellte, sank bei den Kammermitgliedern die Zuversicht über Wachstum und Profitabilität ihrer Geschäfte auf einen Tiefstand seit 2011.

Auf den ersten Blick scheinen das die Zahlen nicht herzugeben. 58 Prozent aller Befragten sehen die Lage positiv. Doch so, wie das reale Wirtschaftswachstum in China von zweistelligen Zuwachsraten vor wenigen Jahren auf 7,4 Prozent 2014 abbröckelte und weiter fällt, gehe auch diese Optimismuskurve in den Keller. 2011 waren noch 79 Prozent positiv gestimmt, vergangenes Jahr 68 Prozent. 2015 sind es weitere zehn Prozentpunkte weniger.

Das hat Folgen. Fast jedes dritte EU-Unternehmen in China (31 Prozent) gab an, 2015 den Ausbau seiner Investitionen zu stoppen, sechs Prozent mehr als 2014. Mehr als jedes dritte Unternehmen will bei seinen Ausgaben sparen (39 Prozent), 15 Prozent mehr als 2014. Fast zwei Drittel darunter (61 Prozent) werden erstmals den Rotstift bei ihren Mitarbeitern ansetzen, ein Hiobsbotschaft für Peking.

Automobilhersteller expandieren

Die umfangreiche Befragung durch die EU-Kammer und Roland Berger, an der sich 541 von 1.487 Kammer-Unternehmen beteiligten, zeigt, wie schnell sich Chinas abschwächendes Wachstum, verschlechternde Standortbedingungen und steigende Arbeits- und Produktionskosten negativ auf Auslandsunternehmen, ihre Gewinnerwartungen, Margen oder Neuinvestitionen auswirken. Vor allem, weil höhere Löhne nicht von steigender Produktivität, besserem Marktzugang und den Abbau von regulatorischen Hürden begleitet werden.

Die Bürokratie wird trotz Aufrufen von Premier Li Keqiang nicht weniger. Unvorhersehbare Behördenregelungen nennen 57 Prozent der EU-Unternehmen an erster Stelle ihrer zehn größten Probleme, drei Prozentpunkte mehr als 2014. Ihre früher prominente Sorge des "Schutzes des geistigen Eigentums" fällt auf Platz sieben zurück. Erstmals zeigt die neue Studie, wie sich die Unternehmen nach Branchen polarisieren.

Nur eine einzige Gruppe fühlt sich noch richtig im Aufwind und glaubt, dass es auch so bleibt. 84 Prozent der Automobilhersteller wollen 2015 in China expandieren, dagegen nur noch 48 Prozent der Maschinenbauer. 77 Prozent der Autobranche erwartet weiteres Wachstum für sich über die kommenden zwei Jahre. Nur 36 Prozent der Maschinenbauer glauben das für sich auch.

Glas halbleer

Der Trend zum Pessimismus zeichnete sich schon im Vorjahr ab. Zum ersten Mal sagten fast die Hälfte der befragten Unternehmen, dass "Chinas goldenes Zeitalter für multinationale Gesellschaften und andere Auslandsfirmen vorbei ist". Es war eine Warnung an die Regierung, für mehr Marktöffnung zu sorgen, damit der Standort wieder Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit gewinnt, sagte Wuttke. Ein Jahr später fällt das Urteil noch schlechter aus: Große Firmen, die seit langem im Markt sind, sehen schärfer als die Neuankommenden schon die "Zeichen an der Wand". Vor wenigen Jahren hieß es bei Problemen, das Glas sei doch halb voll. Heute laute der Spruch: "Es ist halb leer."

China brauche dringlich wieder den Reformdrive, wie es ihn für seine Aufnahme 2001 in die Welthandelsorganisation (WTO) entfachte und davon zehn Jahre zehrte, sagte Wuttke. Er hoffe, dass Pekings Reformer die komplexen Verhandlungen um bilaterale Investitionsschutzabkommen mit den USA und mit der EU jetzt zum Anlass nehmen, um eine solche Offensive zur Marktliberalisierung erneut zu starten.

Unternehmen bleiben China treu

Vorsicht überwiege bei der EU-Wirtschaft, gerade wenn es um Investititionen in Forschung und Entwicklung (R&D) gehe. Mehr als zwei Drittel der EU-Unternehmen, die in ihrer Heimat eigene R&D-Forschung und Entwicklung betreiben, unterhalten kein solches Zentrum in China. Eines ihrer Probleme sind auch Chinas viel zu langsame Internetgeschwindigkeiten und die übertriebenen Zugangsbeschränkungen. 57 Prozent sprechen von negativen Auswirkungen auf ihr Geschäft.

Die Studie zeigt auch, dass die Unternehmen trotz aller Kritik dem Land nicht den Rücken kehren. "Der Markt ist zu wichtig und zu groß, um ihn zu verlassen", sagt Wuttke. Aber anders als vor wenigen Jahren sei er nicht mehr alternativlos, sondern nur "noch einer der Märkte". Die USA ziehen Investitionen wieder an, ebenso Europa und die Wachstumsregionen von Mexiko bis Indien.

Ein Ergebnis der Umfrage sollte Peking besonders zu denken geben: 55 Prozent der EU-Unternehmen, die über ungleiche und unfaire Behandlung klagten, sagten 2014, sie würden mehr in China investieren, wenn Peking mit Reformen ihren Marktzugang verbesserte. Für 2015 sagen das Gleiche 60 Prozent.



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