Samstag, 20. Juni 2015

Wie Japan zur Weltmacht wurde.

aus beta.nzz.ch, 11.6.2015, 05:30 Uhr                                           Japanische Baumschützen schiessen in Tsingtau auf deutsche Flieger

Erster Weltkrieg in Ostasien
Der Aufstieg Japans
Im Gedenken an den Ersten Weltkrieg geht gern vergessen, dass dieser auch die Machtordnung in Ostasien umkrempelte. Der grosse Gewinner war am Ende das mit der Entente verbündete Japan.

von Hoo Nam Seelmann 

Hermann Hesse schrieb am 24. August 1914 in sein Tagebuch: «Japans Ultimatum ist mit gebührender Verachtung beantwortet, jetzt fallen also diese Seeräuber im Osten über uns her. Damit führen die Engländer vollends offen den Feind europäischer Kultur gegen deren Hoffnung. Schade für England, anständig gesinnte Engländer müssen sich jetzt schämen, (. . .) In Belgien und Lothringen neue Siege, es geht grosszügig vorwärts!» Diese Zeilen wirken in mehrfacher Hinsicht heute verstörend, umso mehr, als sie aus der Feder eines bekannten europäischen Autors stammen, der 1946 den Literaturnobelpreis zugesprochen bekam. Seine Werke geniessen auch in Ostasien hohe Wertschätzung.

Hesses Gedanken sind mehr als nur eine private Ansicht über das damalige Weltgeschehen. Sie enthüllen den Epochengeist Europas, der den Krieg heraufbeschwor. Da sind einmal die Kriegsbegeisterung und der Patriotismus, die sich im August 1914 Bahn brachen. Zum anderen ist darin unübersehbar der imperialistische Habitus, der sich zu einer Weltanschauung gefestigt hatte. Europa stand damals auf dem Höhepunkt der globalen Dominanz. Die herablassende Haltung gegenüber nichtwestlichen Kulturen gehörte zum gängigen Repertoire. Dass Japan in den Augen des Europäers Hesse nicht satisfaktionsfähig war, versteht sich von selbst. Hesse scheint noch nicht zu realisieren, dass eine «Urkatastrophe» in Gang gekommen ist.

40 Länder beteiligt

Auf welches Ereignis spielt Hesse aber an? Obgleich Ostasien als «Peripherie» mit dem Krieg im Zentrum eng verbunden war, spielt es in der europäischen Erinnerungskultur kaum eine Rolle. Unbestritten war der Erste Weltkrieg ein globales Ereignis, an dem sich 40 Länder beteiligten. Sie standen zudem wegen der weltweiten kolonialen Verflechtung in komplizierten Beziehungen zueinander. Ostasien bildete hier keine Ausnahme. Japan hat am 10. August 1914 an Deutschland ein Ultimatum gestellt, sofort die deutsche Kolonie Kiautschou im Nordosten Chinas zu räumen. Deutschland hatte mit verspäteten kolonialen Ambitionen dieses Gebiet 1897 von China für 99 Jahre «gepachtet» und war dabei, es für den eigenen wirtschaftlichen und militärischen Bedarf umzubauen.

Als der Gouverneur Alfred Meyer-Waldeck nicht auf das Ultimatum reagierte, erklärte Japan 13 Tage später Deutschland den Krieg. Österreich-Ungarn, das sich geweigert hatte, den dort weilenden Kreuzer SMS «Kaiserin Elisabeth» aus Tsingtao abzuziehen, widerfuhr dasselbe. England, das schon lange eine enge Beziehung zu Japan pflegte, machte gemeinsame Sache, um Deutschland zu schwächen. Schon am 7. November kapitulierte Meyer-Waldeck, als er vom Meer und vom Land her völlig umzingelt war. Er verfügte nur über 4900 Mann – Japan hatte 50 000 Soldaten aufgeboten.

Dass der Krieg sich über Europa hinaus ausdehnen würde, zeigte sich bald. Denn Grossbritannien liess bereits am 5. August 1914 die Gültigkeit der Kongoakte aus dem Jahr 1885 aufheben. Darin hatten die westlichen Kolonialmächte vereinbart, im Falle des Krieges diesen nicht auf die Kolonien auszudehnen. Aber in den Zeiten des Imperialismus dienten internationale Verträge ohnehin meist nur als Instrument, um die Gegner in Sicherheit zu wiegen oder die eigene Absicht zu verschleiern. So beschloss London, sofort den Angriff auf die deutschen Kolonien auszudehnen, und fand in Japan einen willigen und hungrigen Partner.

Japan sah in der Eroberung von Kiautschou eine Art späte Genugtuung für eine Schmach aus dem Jahr 1885. Damals musste Japan nach dem Sieg im sino-japanischen Krieg die Shangdong-Halbinsel wegen der sogenannten Triple Intervention wieder an China zurückgeben. Deutschland, Frankreich und Russland hatten erfolgreich gegen die Einverleibung der Halbinsel durch Japan interveniert. Die europäischen Mächte, die selber offen territoriale Ambitionen in China verfolgten, gönnten dem asiatischen Emporkömmling die Kriegsbeute nicht. Japan wagte nicht, dagegen aufzubegehren, und gab klein bei. Nun wendete sich das Blatt. Mit der Eroberung von Kiautschou demonstrierte Japan, dem auch inzwischen die Südmandschurische Eisenbahn gehörte, seinen imperialistischen Anspruch auf China.

Nach dem schnellen Sieg über Deutschland versuchte Japan Fakten zu schaffen. Bereits im Januar 1915 übergab die japanische Regierung dem chinesischen Präsidenten Yuan Shikai die berüchtigten «21 Forderungen», die das Ziel hatten, langfristig die wirtschaftliche und politische Kontrolle über China zu sichern. Geschickt nutzte Japan den Krieg in Europa aus, um auch neben den Gebieten in China weitere deutsche Kolonialgebiete auf den Pazifikinseln an sich zu reissen.

Dass Japan nun gegen Deutschland anzutreten wagte, zeigt das gewachsene Selbstbewusstsein des ostasiatischen Landes. Wesentlich dazu beigetragen hatte der Sieg über Russland 1905 im russisch-japanischen Krieg. Es war die Meiji-Restauration (1868), die eine umfassende Umstrukturierung im Land einleitete. Japan hatte sich, um der kolonialen Unterwerfung durch den Westen zu entgehen, radikalen Reformen verschrieben und den Staat nach westlichem Vorbild grundlegend umgebaut. Als verhängnisvoll sollte sich jedoch erweisen, dass es auch westliche imperialistische Ideologien übernahm. Durch den systematischen Aufbau des Militärs stieg es bald zu einem ernsten Konkurrenten des Westens auf. Da Kolonien zum Statussymbol eines mächtigen Staates gehörten, unterwarf Japan nach und nach Okinawa, Taiwan und Korea. Wie weit Japan in der vom Westen dominierten Welt gekommen war, zeigt der Umstand, dass es am Ende des Ersten Weltkrieges auf der Seite der Sieger sass und als Mitunterzeichner des Versailler Vertrags etliche Gebiete zugesprochen bekam.

China schickte Arbeitskräfte

Welch seltsame Wendungen die komplizierten Beziehungen zwischen den Staaten nahmen, zeigt die Entscheidung Chinas, das zunehmend Aggressionen Japans ausgesetzt war. Denn auch China erklärte Deutschland den Krieg, und zwar am 14. August 1917. Japan und China, die Erzfeinde, standen beide auf der Seite der Alliierten. Was China dabei erhoffte, war die Unterstützung der Alliierten gegen Japan, das darum seinerseits mit allen Mitteln versuchte, Chinas Eintritt in den Krieg zu verhindern. In China selber herrschten zu dieser Zeit unklare Machtverhältnisse. Denn die alte Qing-Dynastie war am Ende, und Sun Yat-sen hatte 1912 die Republik ausgerufen. Aber diese hatte sich noch nicht konsolidiert und war, von Unruhen im Innern erschüttert, als Staat nur bedingt funktionsfähig. Zu einem militärischen Eingreifen war das Land darum kaum in der Lage.

Da jedoch in den europäischen Ländern kriegsbedingt Mangel an Arbeitskräften herrschte, schlossen im Mai 1916 Frankreich und Grossbritannien mit China ein Abkommen. So kam das sogenannte «Arbeiter als Soldaten»-Programm zustande. Annähernd 140 000 junge Chinesen kamen nach Europa ins Kriegsgebiet. Hauptsächlich wurden sie im belgischen Flandern und in Nordfrankreich eingesetzt. Sie hoben Schützengräben aus, arbeiteten im Eisenbahn- und Strassenbau, in der Landwirtschaft, in der Rüstungsindustrie, den Schiffswerften und Kohleminen. Mit anderen aus den Kolonien eingezogenen Arbeitskräften erhielten sie die Kriegswirtschaft aufrecht.

Die chinesischen Arbeiter waren meist in Arbeitslagern interniert und, obgleich Zivilisten, der Militärgerichtsbarkeit unterstellt. Sechs Tage in der Woche und täglich zehn Stunden arbeiteten sie für einen geringen Lohn. Kurz vor dem Ende des Krieges lebten in 17 britischen Arbeitslagern in Nordfrankreich zirka 96 000 Chinesen. Der Kulturschock war für die Chinesen enorm, so dass viele von ihnen daran zerbrachen und schwer erkrankten. Der Rassismus war überall und alltäglich. Kaum Dolmetscher und Helfer waren da, um die Not der Chinesen zu lindern, so dass es immer wieder zu Aufständen in den Lagern kam. Noch im März 1919 arbeiteten in Belgien und Frankreich rund 80 000 Chinesen, die gefallene Soldaten bargen, begruben und auch beim Wiederaufbau halfen. In den Jahren zwischen 1916 und 1919 starben mehr als 3000 Chinesen. Viele kamen erst nach Kriegsende um: bei der Minenräumung oder durch die Spanische Grippe. Nach und nach kehrten die Überlebenden zurück in die Heimat. 1921 lebten noch einige Tausende Chinesen in Paris und gründeten das erste Chinesenviertel Europas. Im nordfranzösischen Noyelles-sur-Mer gibt es einen Friedhof, auf dem 838 Chinesen begraben liegen. Er ist die grösste chinesische Begräbnisstätte in Europa aus der Zeit des Ersten Weltkrieges.

Der Erste Weltkrieg veränderte nicht nur das Machtgefüge Europas, sondern hinterliess in anderen Weltteilen ebenso deutliche Spuren. Die alten europäischen Monarchien mussten von der politischen Bühne abtreten. Die USA gewannen durch den Eintritt in den Krieg politisches Gewicht. Trotz diesen tiefgreifenden Umwälzungen blieb jedoch eines unverändert: das Festhalten der westlichen Staaten an den Kolonien und Protektoraten. Allerdings entfachte der Erste Weltkrieg Unabhängigkeitsbewegungen, und es kam zu antikolonialen Aufständen in vielen Kolonien. Denn überall war der Nationalismus entflammt und der Griff der Kolonialstaaten kriegsbedingt geschwächt.

Ein weiterer Faktor war, dass die westlichen Staaten während des Krieges in den Kolonien des Feindes die antikolonialen Kräfte unterstützt hatten, um den Gegner zu schwächen. Eine wichtige Rolle spielte zudem der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der im Januar 1918 sein «Vierzehn-Punkte-Programm» verkündete. Darin forderte er unter anderem das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Abrüstung und die Gründung des Völkerbundes. Dass er mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker die Befreiung der Kolonien im Sinne hatte, ist eher zu bezweifeln. Dennoch hatte seine Forderung grosse Auswirkung auf die Menschen, die unterjocht und rechtlos in den Kolonien lebten. Indes: Kein einziges Land war bereit, seine Kolonien in die Freiheit zu entlassen.

Nur Deutschland verlor als «Schuldiger» des Krieges alle Kolonialgebiete. China erhielt trotz dem Einsatz für die Alliierten die erhoffte Unterstützung nicht, denn Kiautschou wurde Japan zugeschlagen. Aus Enttäuschung darüber kam es 1919 in China zu grossen antiwestlichen Protesten. Auch in Korea, das 1910 zu einer Kolonie Japans geworden war, erhob sich das Volk am 1. März 1919 gegen die japanische Kolonialherrschaft und forderte die Unabhängigkeit, aber der friedliche Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. Der grosse Gewinner des Ersten Weltkrieges im Fernen Osten war Japan, das sich in seiner aggressiven imperialistischen Politik bestätigt fühlte. Denn es wurde mit einem grossen Gebietsgewinn belohnt und stieg zur dominierenden Macht in Ostasien auf. Nun konnte es den Feldzug gegen China beginnen, der erst 1945 endete und Millionen von Toten forderte.



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