aus beta.nzz.ch, 21.6.2015, 05:30
Streit um das Alte Testament
Christentum ohne Wurzel?
An den anstössigen Thesen eines protestantischen Theologen hat sich eine Debatte entzündet: Soll das Alte Testament weiterhin zu den Texten gehören, die für den christlichen Glauben verbindlich sind?
von Jan-Heiner Tück
In der Theologen-Zunft ist ein heftiger Streit entbrannt. Schauplatz ist die Evangelisch-Theologische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Der dort lehrende systematische Theologe Notger Slenczka hat im «Marburger Jahrbuch für Theologie» bereits 2013 einen Aufsatz mit dem Titel «Die Kirche und das Alte Testament» veröffentlicht, in dem er die provokante Empfehlung aussprach, das Alte Testament aus dem Kanon der Heiligen Schriften herauszunehmen und auf das Niveau sogenannter apokrypher Schriften herabzustufen. Dieses Votum, das angesichts der Wertschätzung des «Ersten Testaments» (Erich Zenger) in einer durch die Shoah sensibilisierten Theologie befremdet, ist zunächst weithin unbeachtet geblieben. Erst als der Präsident des Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Friedhelm Pieper, eine empörte Stellungnahme lancierte und Slenczka unverblümt Antijudaismus vorwarf, kam eine Debatte ins Rollen, an der sich namhafte Religionsdeuter wie Jan Assmann , Micha Brumlik und Friedrich Wilhelm Graf beteiligten. Aus der Berliner Fakultät meldeten sich fünf Kollegen mit einer distanzierenden Stellungnahme, darunter Christoph Markschies, ehemaliger Präsident der Humboldt-Universität und einer der bekanntesten Theologen im deutschen Sprachraum. Er hat die Thesen in die Nähe einer «Nazi-Theologie» gerückt und eine Podiumsdiskussion mit Slenczka mit dem Hinweis abgelehnt, über die Zugehörigkeit des Alten Testaments zum Kanon müsse man heute ebenso wenig mehr streiten wie über die Frage, ob die Erde eine Scheibe sei.
Zwei Argumente
Diese Reaktion ist scharf und mag partiell auf das Konto fakultätsinterner Querelen gehen. Sie übergeht allerdings, dass Slenczkas Überlegungen Argumente geltend machen, mit denen es sich kritisch auseinanderzusetzen lohnt. Eines der Argumente nimmt auf die veränderte Diskussionslage der Theologie nach Auschwitz Bezug und weist darauf hin, dass das Textkorpus des Alten Testaments zunächst und vor allem dem Judentum gehöre – und dass die christliche Kirche mit der Beanspruchung der alttestamentlichen Schriften Gefahr laufe, das Judentum zu enteignen. Ein zweites Argument bezieht sich auf die historisch-kritische Methode, welche die Bücher des Alten Testaments in ihrem jeweiligen geschichtlichen Kontext zu lesen gelehrt hat. Eine allegorische Lesart, die darin überall Spuren zu erkennen glaube, die auf Jesus Christus verwiesen, sei im Horizont der Moderne nicht mehr möglich. Faktisch habe die Bibelwissenschaft die christliche Lesart des Alten Testaments aufgegeben. Angesichts dieser Argumente scheint die Schlussfolgerung einer «Entkanonisierung» jener Schriften beinahe unausweichlich. Wenn man diese ruinöse Konsequenz vermeiden will, muss man die leitenden Annahmen Slenczkas kritisch prüfen, statt ihn einfach an den Pranger zu stellen.
Slenczkas Vorschlag ist anstössig, wenn man bedenkt, dass die nazifreundlichen deutschen Christen auf ihrer Sportpalastkundgebung 1933 die Abschaffung des Alten Testaments beschlossen. Die theologische Brisanz zeigt sich, wenn man an Markion von Sinope erinnert, der im 2. Jahrhundert erstmals das Alte Testament aus dem Kanon der heiligen Schriften entfernt hat. Auch wenn die Quellenlage schwierig ist, da dessen Lehren nur im Spiegel der Kritiker überliefert sind, lässt sich mit Gewissheit sagen, dass Markion die paulinische Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium zu einem strikten Gegensatz verschärft hat. Der Schöpfergott des Alten Testaments, der die Welt mit seinem Gesetz regiere, sei dunkel und unberechenbar, er strafe und zürne. Von diesem Schöpfergott müsse das Evangelium des guten Erlösergottes freigehalten werden. Diese dualistische Gotteslehre wurde ebenso abgelehnt wie die Amputation des christlichen Kanons. Im Jahre 144 n. Chr. wurde Markion aus der Gemeinde von Rom ausgeschlossen und gründete eine Gegenkirche, die bis ins 5. Jahrhundert hinein Anhänger hatte.
Sein intellektueller Einfluss war so gross, dass sich Kirchenväter wie Irenäus von Lyon, Tertullian und Origenes kritisch mit seinem Werk befassten. Sie betonten, dass der eine Gott der Urheber beider Testamente sei und der heilsgeschichtliche Zusammenhang zwischen Altem und Neuem Bund nicht zerschnitten werden dürfe. Mit dieser Klarstellung haben die Kirchenväter das Erbe Israels und dessen bleibende Bedeutung für das Christentum verteidigt. Allerdings haben nicht wenige von ihnen die Kirche als «neues Israel» verstanden und einer theologischen Enterbung des Judentums Vorschub geleistet, von der sich heutige Theologie, wenn sie den Zeitindex «Auschwitz» ernst nimmt, distanzieren muss.
Markion und Harnack
Eine gewisse Rehabilitierung Markions hat der Berliner DogmenhistorikerAdolf von Harnack vorgenommen, der dem «Erzketzer» der Alten Kirche eine gründliche Monografie widmete, in der sich die These findet: «Das Alte Testament im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die grosse Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.» Harnack ging davon aus, dass sich die Idee des Christentums in der Geschichte nach und nach ausgebildet habe und das Judentum rückblickend als religionshistorische Vorstufe bewertet werden könne. Für die formative Phase der Kirche gesteht er dem Alten Testament durchaus Bedeutung zu.
Bei Luther hingegen rücke die paulinische Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium ins Zentrum. Durch seine Kritik an der allegorischen Schriftauslegung und seine Bevorzugung des wörtlichen Sinns habe der Reformator das Band zwischen Altem und Neuem Testament gelockert, allerdings sei Luther, der Liebhaber der Psalmen, zu sehr der kirchlichen Tradition verhaftet geblieben, um das Alte Testament aus dem Kanon auszuschliessen. Mit der historischen Kritik des 19. Jahrhunderts wäre nach Harnack allerdings der Schritt fällig gewesen, sich davon zu trennen.
Das Votum für die «Entkanonisierung» des Alten Testaments hat theologische Folgen. In seinen berühmten Vorlesungen über das Wesen des Christentums zeichnet Harnack ein Bild von Jesus, das den jüdischen Wurzelgrund weithin abblendet. Der Nazarener erscheint als Überwinder der pharisäischen «Gesetzesfrömmigkeit», als Kritiker des äusserlichen Tempelkults und als Verkünder einer einfachen menschenfreundlichen Moral. Durch die Anrede «Abba – lieber Vater» habe Jesus ein neues Gottesverhältnis gestiftet und durch die Idee der universalen Liebe die Religion allen Menschen geöffnet. Jesus erscheint als Katalysator einer allgemeinen Menschheitsreligion, die über die partikulare Reichweite des Judentums hinausgehe.
Notger Slenczkas Thesen können als Fortschreibung derjenigen Harnacks gelesen werden, auch wenn sie diesen nicht überall folgen. Slenczka weist zunächst darauf hin, dass Harnack im Bereich der evangelischen Theologie faktisch recht bekommen habe. Sowohl in der exegetischen Arbeit als auch im jüdisch-christlichen Dialog werde vermieden, das Alte Testament als Verkündigung Jesu Christi zu lesen. Im Gottesdienst und in den Kirchenliedern begegne ein selektiver Umgang mit alttestamentlichen Texten. Diese Depotenzierung des Alten Testaments werde allerdings nicht ehrlich zugegeben.
Vor einem Wiederaufflackern der markionitischen Versuchung hatte 1998 bereits Joseph Ratzinger gewarnt: «Wenn das Alte Testament nicht von Christus spricht, dann ist es keine Bibel für den Christen. Harnack hatte daraus bereits die Schlussfolgerung gezogen, dass es nun endlich an der Zeit sei, den Schritt Markions zu vollziehen und das Christentum vom Alten Testament zu trennen. Das würde indes die christliche Identität auflösen, die eben auf der Einheit der Testamente ruht. Es würde zugleich die innere Verwandtschaft auflösen, die uns mit Israel verbindet, und alsbald die Konsequenzen wieder hervorbringen, die Markion formuliert hatte: Der Gott Israels würde als ein fremder Gott erscheinen, der sicher nicht der Gott der Christen ist.»
Die kardinale Mahnung aus Rom muss den evangelischen Theologen in Berlin heute nicht kümmern. Dennoch basiert sein Enteignungsargument auf einer problematischen Annahme, auf die der katholische Alttestamentler Ludger Schwienhorst-Schönberger soeben in der Zeitschrift «Communio» aufmerksam gemacht hat. Slenczka bemühe ein Erklärungsmodell, welches das Judentum als Mutter-, das Christentum aber als Tochterreligion begreife. Dieses Modell sei in der neueren Forschung weithin aufgegeben worden. Heute begreife man das Alte Testament als das Textkorpus des einen Gottesvolkes. In der Auslegungsgemeinschaft dieses Gottesvolkes sei es mit dem Auftreten Jesu zu einem Interpretationskonflikt gekommen. Die eine Partei habe die Schrift auf Jesus, den Messias, hin gelesen, wie in den Evangelien und den paulinischen Briefen dokumentiert. Die andere Partei habe diese christologische Lesart abgelehnt, aus ihr sei das rabbinische Judentum hervorgegangen. – Beide Lesarten sind nebeneinander und teilweise gegeneinander ausgebildet worden, sie sind in einem literaturwissenschaftlichen Sinn legitim und können einander heute auch in theologischer Hinsicht wechselseitig bereichern. Gleichwohl kann im jüdisch-christlichen Dialog die Wahrheitsfrage nicht auf Dauer ausgeklammert bleiben.
Falsche Überbietungslogik
Überdies ist die Entgegensetzung von Gesetz und Evangelium, wie sie bei Markion und seit Luther in unterschiedlichen Variationen in der reformatorischen Theologie begegnet, von der neueren Exegese abgemildert, wenn nicht gar entkräftet worden. Die Tora steht nicht im Gegensatz zur Gnade, vielmehr wird sie selbst als Ausdruck der Gnade Gottes verstanden. Schliesslich wirft Slenczkas Vorstoss die Frage nach Reichweite und Grenzen der historisch-kritischen Methode auf. Ohne Zweifel vermag diese einen Text in seinem Kontext präzise zu erschliessen, ihr Instrumentarium bleibt aber stumpf, wenn es um die christologische Bedeutung des Alten Testaments geht. Dabei ist die Zurückhaltung gegenüber Lesarten, welche Tora, Psalmen und Propheten im Licht Jesu Christi deuten, verständlich angesichts der antijudaistischen Überbietungslogik, die sich in vielen vormodernen Schriftkommentaren findet. Aber ist diese Überbietungslogik zwingend? Und muss man die Reichtümer der patristischen und mittelalterlichen Exegese für die Gegenwart verloren geben, weil diese nicht den Standards der historischen Kritik entspricht?
Schwienhorst-Schönberger macht zu Recht geltend, dass eine christologische Interpretation des Alten Testaments Sinnpotenziale erschliesst, die in diesem selbst angelegt sind. Insofern sei eine solche Auslegung historisch und intellektuell redlich, zumal sie vom Neuen Testament selbst vertreten werde. Das Projekt einer Rehabilitierung der altkirchlichen Bibel-Hermeneutik hätte daher die Frage zu klären, wie die Verbindung zwischen alttestamentlicher Verheissung und neutestamentlicher Erfüllung theologisch fruchtbar gemacht werden kann, ohne in antijudaistisches Fahrwasser zu geraten. Immerhin ist die Präsenz des Alten Testaments in den liturgischen Leseordnungen der katholischen Kirche durch das Zweite Vatikanische Konzil erheblich gestärkt worden. Die Erzählungen von Schöpfung und Fall, die Geschichte der Patriarchen, von Mose und dem Exodus aus Ägypten, die Tradition der Propheten, selbst das Ringen Hiobs haben dadurch Raum erhalten. Diese Lesungen werden aber auf das Evangelium Jesu Christi bezogen, dessen Gestalt und Botschaft ohne den Hintergrund der Bundesgeschichte Israels blass, ja unverständlich bliebe.
Würde man das Alte Testament aus dem Kanon streichen, liefe das nicht nur auf eine «Entjudaisierung», sondern auch auf eine Entwurzelung des Christentums hinaus. Eine solche Amputation aber kann niemand wollen.
Prof. Dr. Jan-Heiner Tück lehrt am Institut für Systematische Theologie der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien.
Nota. - Was macht die moralische Überlegenheit des Christentums über allen andern Religionen der Welt aus? Es ist der gewaltige Mythos von dem engherzigen und rachsüchtigen Gott eines auserwählten Volkes, der sich bekehrt und zu einem Anderen geworden; der selber Mensch geworden ist, um die Sünden Aller, nicht nur der Israeliten, auf sich zu nehmen und durch seinen Opfertod zu tilgen, und der dadurch unser Aller Gott wurde.
Glauben kann man das nur, weil es absurd ist, aber das macht offenbar bis heute seine Kraft aus. - Dem Außen- stehenden, der es nicht glaubt, selbst wenn es absurd ist, muss es so vorkommen, dass Gottes Worte und Gottes Taten vor seiner Bekehrung nicht dasselbe Gewicht haben können, wie die nach seiner Bekehrung. Aber in den Streit der Theologen einmischen wird er sich sinnvoller Weise nicht.
JE
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