Aus globaler Sicht hat Migration nicht zugenommen
Zwischen 2005 und 2010 war die Zahl der Migranten weltweit ähnlich hoch wie vor 15 Jahren – Auch Syrien-Konflikt ändert diesen Trend nicht
von Alois Pumhösel
Der Zerfall der Sowjetunion, das Ende des sowjetisch-afghanischen Kriegs und der Bürgerkrieg in Ruanda waren die Auslöser großer Migrationsströme zu Beginn der 1990er-Jahre. Später wurden sie von den Konflikten im Südsudan, der Masseneinwanderung von Menschen aus Simbabwe in Südafrika oder dem Zustrom von Arbeitern aus Indien, Nepal oder Bangladesch auf die Baustellen arabischer Staaten abgelöst.
Derartige Phänomene waren von 1990 bis 2010 Treiber der globalen Migration, nicht, wie man annehmen könnte, eine zunehmende Globalisierung. "Die globalen Migrationsbewegungen haben zwischen 1990 und 2010 keineswegs konstant zugenommen", erklärt Nikola Sander vom Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital in Wien. Mit ihrem Kollegen Guy Abel veröffentlichte sie im Fachjournal Science eine Studie, die, aufgeteilt in Fünfjahresintervalle, einem "Global Flow of People" nachgeht.
Zwischen 1990 und 1995 emigrierten demnach 41,5 Millionen Menschen. Im darauffolgenden Intervall waren es gut sieben Millionen weniger, bevor der Wert wieder anstieg und von 2005 bis 2010 erneut die 41,5 erreichte. Gemessen an der Gesamtbevölkerung der Erde sank der Anteil der Migranten pro Fünfjahresintervall damit von 0,75 auf 0,61 Prozent. Der gesamte Anteil der nicht im Geburtsland lebenden Menschen beträgt dagegen laut Uno etwa drei Prozent. Ein Fazit Sanders: "Mit der Globalisierung werden Migrationsbewegungen komplexer. Man verharrt nicht mehr so lange in einem Zielland." Der klassische Gastarbeiter, der nur einmal umzieht, ist selten geworden.
Communities ziehen andere an
"Es ist aber keineswegs so, dass sich mit diesem Krisenherd die Werte der globalen Migrationsbewegungen auf den Kopf stellen", sagt Sander. Nach Europa seien anfangs überwiegend eher gebildete Syrer gekommen, weil diese über die nötigen Ressourcen verfügten. Mittlerweile weite sich das angesichts der fehlenden Hoffnung auf ein Kriegsende auf weitere Bevölkerungsschichten aus. Ziel seien vor allem Länder mit bestehenden Communities.
Die traditionell großen Migrationsziele Nordamerika, Europa und Australien qualifizieren sich neben ihrer relativ stabilen politischen Situation und bereits vorhandener Diaspora natürlich auch mit wirtschaftlichen Faktoren. Auffällig sei, so Sander, dass keineswegs Menschen aus den ärmsten direkt in die reichsten Länder emigrieren. "Der globale Trend zeigt, dass Auswanderer die Einkommensleiter Stufe für Stufe hochsteigen." Menschen aus dem armen Indonesien gehen etwa nach Malaysia, ein typisches Transitionsland, wo sie mehr Wohlstand finden. Die Malaysier gehen dagegen ins reichere Singapur.
Laut Erhebungen, die sich auf Visa-Ausstellungen gründen, gibt es im OSZE-Raum drei große Gruppen von Migranten, erklärt Sander: Die eine resultiert aus der Freizügigkeit innerhalb der EU und kann keinem bestimmten Motiv zugeordnet werden. Ein zweiter großer Anteil besteht in Familienzusammenführungen. Ein deutlich geringerer Anteil basiert auf wirtschaftlichen Gründen, Jobwechsel oder Ausbildung. Flüchtlinge seien im Vergleich dazu eine kleine Gruppe.
"Auffällig ist aber, dass die Migration nach Europa relativ vielschichtig ist", erklärt Sander. Im Vergleich zu Australien oder Nordamerika, die eine stärkere Selektion betreiben, gibt es mehr Motive und mehr Herkunftsländer. Europas Einwanderungspolitik sei dagegen passiv. Auch in der Syrien-Krise werde nur reagiert und nicht mitgestaltet. Es gebe etwa keinen legalen Weg für gebildete Syrer, nach Europa einzureisen. "Auch die wenigen Rot-Weiß-Rot-Cards, die Österreich vergibt, gehen hauptsächlich an Sportler." Was fehlt? "Eine transparente Einwanderungspolitik."
Ferdinand Fellmann:
"Viel falsches Bewusstsein im Spiel"
Ja, wir haben es mit einer Völkerwanderung zu tun, meint der deutsche Philosophieprofessor Ferdinand Fellmann
STANDARD: Professor Fellmann, Sie haben zuletzt einen Aufsatz veröffentlicht, in dem Sie konstatieren, dass der Blick auf die Geschichte seit der postmodernen Wende vor allem aus der Perspektive der Betroffenen erfolge. Durch diese Subjektivierung der Geschichte sei etwas verlorengegangen. Was denn?
Fellmann: Verlorengegangen ist die Distanz, die wir brauchen, um unsere gegenwärtige Lage realistisch einzuschätzen. Diese Distanz gewinnt man, wenn man sich an Ideen oder Werte hält, welche Epochen voneinander unterscheiden. Sicherlich kann es ergreifend sein, sich in den Standpunkt der Betroffenen zu versetzen, aber da bleibt man im Menschlich-Allzumenschlichen. Damit gelangt man nicht zu einem wirklichen Verständnis der Alterität, die vergangene Epochen von der Gegenwart trennt. Geschichtliche Wirklichkeit wird zur Fiktion.
STANDARD: Sie heben hervor, dass die Subjektivierung der Geschichte mit dem Lebensgefühl des postmodernen Menschen einhergeht. Läuft es auf eine Dichotomisierung hinaus – Emotionalität vs. Vernunft, Relativismus vs. Eindeutigkeit, hedonistisch vs. nüchtern?
Fellmann: Dichotomien sind so schlecht nicht wie ihr Ruf. Emotion und Intelligenz gehören im normalen Leben zusammen. Wenn aber das Emotionale zu dominant wird, ist es hilfreich, daran zu erinnern, dass man mit Affektprogrammen allein das kulturelle Leben nicht gestalten kann. Die Folgen für das gegenwärtige Geschichtsbewusstsein sind, dass es dieses gar nicht mehr gibt. Es gibt nur noch Gegenwartsbewusstsein, das in die Vergangenheit projiziert wird. Zeitgeschichte, Zeitzeugen und Autobiografien bestimmen unsere Erinnerungskultur. Der Unterschied zwischen Geschichts- und Gegenwartsbewusstsein entspricht jenem zwischen Erinnerung und Gedächtnis.
Erinnerung setzt voraus, dass man selbst dabei war. Ich kann mich etwa daran erinnern, dass mir als Kind ein russischer Soldat Sonnenblumenkerne zu essen gegeben hat. Aber die erlebte Zeit entspricht nicht der geschichtlichen Zeit, die sich an den objektiven Daten orientiert. So der 8. Mai 1945, der Tag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht, nach dem nichts mehr so war wie vorher. Die politische Bedeutung des polnischen Einmarsches in Schlesien nach der Kapitulation habe ich erst viel später von den Historikern gelernt. Das macht das historische Gedächtnis aus, das noch wirksam bleibt, wenn sich niemand mehr an die Erlebnisse erinnern kann.
Erinnerung setzt voraus, dass man selbst dabei war. Ich kann mich etwa daran erinnern, dass mir als Kind ein russischer Soldat Sonnenblumenkerne zu essen gegeben hat. Aber die erlebte Zeit entspricht nicht der geschichtlichen Zeit, die sich an den objektiven Daten orientiert. So der 8. Mai 1945, der Tag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht, nach dem nichts mehr so war wie vorher. Die politische Bedeutung des polnischen Einmarsches in Schlesien nach der Kapitulation habe ich erst viel später von den Historikern gelernt. Das macht das historische Gedächtnis aus, das noch wirksam bleibt, wenn sich niemand mehr an die Erlebnisse erinnern kann.
STANDARD: Im Deutschlandfunk haben Sie zuletzt die These aufgestellt, bei der Flüchtlingsbewegung handle es sich tatsächlich um eine neue Völkerwanderung. Was genau meinen Sie damit?
Fellmann: Der Unterschied zwischen Flüchtlingsströmen und Völkerwanderung liegt nicht in der enormen Anzahl von Menschen, die nach Europa kommen, sondern in der Qualität der Bewegung. In Analogie zur Völkerwanderung in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten ist die gegenwärtige Wanderung dabei, die Gesellschaft nachhaltig zu verändern. Dass die Politiker das nicht anerkennen, hängt mit dem Mangel an historischem Bewusstsein zusammen. Unser Gegenwartsbewusstsein verzerrt unsere Wahrnehmung des Fremden. Wir verurteilen heftig fremdenfeindliche Ausschreitungen, und das mit Recht. Doch die meisten von uns wohnen und leben in Verhältnissen, in denen sie mit Ausländern nicht wirklich konfrontiert werden. Bei der Fremdeneuphorie der Intellektuellen ist viel falsches Bewusstsein im Spiel. Wir halten es für ein Zeichen der Toleranz, dass muslimische Mädchen in der Schule Kopftücher tragen dürfen, aber wenn unsere eigenen Töchter sich so anziehen müssten, bekämen wir es doch mit der Angst.
STANDARD: Wenn es nun diese neuzeitliche Völkerwanderung gibt, was bedeutet das für uns Europäer?
Fellmann: Meine Antwort lautet: Sein oder Nichtsein. Wir sprechen zwar von Integration, aber in Wahrheit bahnt sich eine Transformation unserer Kultur an, vor der wir panische Angst haben. "Angst essen Seele auf" gilt nun auch umgekehrt für uns. Wir werden mit Wertvorstellungen konfrontiert, die unserem Liberalismus widersprechen, etwa mit der konservativen Rolle der Frau in der Familie, um nur ein Beispiel zu nennen, das mit dem Islam zusammenhängt. Dem hat unser überzogener Individualismus und Subjektivismus wenig entgegenzusetzen. Die Säkularisierung und die Verwandlung von Gotteshäusern in Konsumtempel zeigen Parallelen zur Dekadenz der Oberschicht im Weströmischen Reich bei der ersten Völkerwanderung. Byzanz hingegen war durch seine gesellschaftlichen Strukturen resistenter. Ich will nicht so weit gehen, zu behaupten, dass unsere Gesellschaft dekadent ist, aber es gibt doch Alarmsignale. Abschied vom Prinzipiellen, grenzenlose Freiheit durch Selbstverwirklichung, Liebe als Beziehungskiste, das sind alles Symptome dafür, dass unsere Demokratie in ein spätkulturelles Stadium eingetreten ist. Spätkulturen aber sind kaum in der Lage, auf Dauer dem Druck standzuhalten, der von institutionell gestützten Lebensformen außereuropäischer Kulturen ausgeht.
STANDARD: Welche Folgen sind zu erwarten?
Fellmann: Um diese Frage zu beantworten, müsste ich Prophet sein. Der Prophet gilt bekanntlich im eigenen Lande nichts, und schon gar nichts, wenn er so alt und konservativ ist, wie ich es nun einmal bin. Aber die wirklich revolutionären Ideen stammen immer von den Alten, die über die bloße Erinnerung hinaus ein historisches Bewusstsein entwickelt haben. Aus dieser Position der Vernunft, die den Subjektivismus übersteigt, kann ich so viel voraussehen: Europa wird durch die Wanderung der Völker aus Afrika und aus dem Nahen Osten wie damals das Weströmische Reich durch die Germanen in seinem Selbstverständnis neu geordnet. Nur müssen unsere Eliten zunächst einmal die Lage erkennen und die Sache beim Namen nennen.
"Völkerwanderung" ist keineswegs nur eine Frage der Nomenklatur. Aus der richtigen Benennung ("Richtigstellung der Namen" ist ein Prinzip des Konfuzianismus, den ich sehr schätze) folgt die Bereitschaft, die eigenen Wertvorstellungen zu überdenken und an veränderte Lebensbedingungen anzupassen. Das muss nicht der Untergang des Abendlandes sein. Eher seine Wiederauferstehung aus den Ruinen unseres Lebensgefühls individueller Selbstverwirklichung, die in Wirklichkeit eine Flucht vor der Verantwortung gegenüber der geschichtlichen Wirklichkeit ist.
"Völkerwanderung" ist keineswegs nur eine Frage der Nomenklatur. Aus der richtigen Benennung ("Richtigstellung der Namen" ist ein Prinzip des Konfuzianismus, den ich sehr schätze) folgt die Bereitschaft, die eigenen Wertvorstellungen zu überdenken und an veränderte Lebensbedingungen anzupassen. Das muss nicht der Untergang des Abendlandes sein. Eher seine Wiederauferstehung aus den Ruinen unseres Lebensgefühls individueller Selbstverwirklichung, die in Wirklichkeit eine Flucht vor der Verantwortung gegenüber der geschichtlichen Wirklichkeit ist.
Ferdinand Fellmann, Jg. 1939, promovierte und habilitierte sich bei Hans Blumenberg. Von 1980 bis 1993 Professor für Philosophie an der WWU Münster, von 1993 bis 2005 an der TU Chemnitz. Das hier gekürzt publizierte Interview erschien zuerst auf L.I.S.A, dem Wissenschaftsportal der Gerda-Henkel-Stiftung (www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de), dessen Online-Direktor Georgios Chatzoudis ist.
Zu einer Völkerwanderung war es damals aber nicht gekommen, dazu hatten zu wenige überlebt. Wenn es nun aber stimmt, dass uns eine Zeit der Völkerwanderung bevorsteht, dann sind, wie in diesen Tagen, die Grenzen, und seien es die Außengrenzen Europa, eben nicht unverletzlich, und die heilige Kuh Nichteinmischung muss vom Eis: Der militärische Eingriff im Irak war richtig, und ein rechtzeitiger Eingriff in Syrien wäre richtig gewesen. – Oh, das wird ein Geschrei geben um das Völkerrecht! Aber erst hinterher, wenn sich nicht mehr übersehen lässt, dass es sich um eine Völkerwanderung gehandelt haben wird. Heute lesen wir noch, die Migratiosnsströme hätten aus globaler Sicht gar nicht zugenommen. (1618 wusste man in Prag und Wien auch noch nicht, dass der Westfälische Frieden erst 1648 geschlossen werden würde.)
JE
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