Samstag, 5. September 2015

Eine neue Geschichte des römische Reichs.

Kaiserstadt Trier
aus nzz.ch, 2.9.2015, 05:30 Uhr

Wie Rom die eigene Expansion überlebte – und doch unterging 
Der britische Althistoriker Greg Woolf hat ein Panorama der Geschichte des Römischen Reiches skizziert, das auf alte Fragen neue Antworten zu geben versucht.

von Stefan Rebenich

Was für ein Parforceritt! Auf knapp vierhundert Seiten präsentiert Greg Woolf, Althistoriker an der schottischen Eliteuniversität St. Andrews, die Geschichte des Römischen Weltreiches von den ersten Anfängen in der Republik bis in die Spätantike. Anschaulich beschreibt der Autor die Dynamik – und Brutalität – der Expansion in der Republik, die durch persönliche Machtgier und ein effizientes Bündnissystem vorangetrieben wurde. Überzeugend charakterisiert er die strukturellen Defizite der von den römischen Feldherren errichteten Hegemonie, die unfähig war, «auf einer grösseren Ebene zu funktionieren als der, die ein einzelner Mann mit einem Heer bescheidener Grösse und einem überdimensionalen Ego überschauen konnte». Erst der augusteische Prinzipat sicherte das Imperium für die nächsten Jahrhunderte, nicht durch revolutionäre Veränderungen, sondern durch vorsichtige Konsolidierung.

Alte Fragen, neue Antworten

Woolf interessieren nicht die Ursachen des Niedergangs, er fragt nach den Gründen, warum das Reich trotz manifesten Schwächen und schweren Krisen so lange existierte. Damit stellt er sich selbstbewusst in eine Reihe mit den Grossen seines Faches: Der deutsche Ordinarius Theodor Mommsen sah Ende des 19. Jahrhunderts die Ursache für das Gedeihen des Imperium Romanum in dem universalen Frieden, den die kommunale Organisation der Städte und die kulturelle Integration der Provinzen sicherten. Mitte der 1920er Jahre unterstrich der russische Althistoriker Michael Iwanowitsch Rostovtzeff, der vor den Bolschewisten in den Westen geflohen war, die soziale und politische Bedeutung des urbanen Bürgertums, dem das Reich Prosperität und Stabilität verdankte.


Die Fragen bleiben gleich: Wie ist das Römische Reich gewachsen? Wodurch war es imstande, Niederlagen zu überstehen? Warum war Rom erfolgreich, wo seine Feinde versagten? Aber die Antworten ändern sich. Der Althistoriker aus St. Andrews weist monokausale Erklärungen zurück und nutzt sozial- und kulturwissenschaftliche Theorieangebote. Woolf ist dem neu erwachten Interesse an Imperien in Vergangenheit und Gegenwart verpflichtet, und Konzepte der postkolonialen Globalgeschichte sind präsent. Vor allem vertraut er auf den Vergleich mit vormodernen Herrschaftskonfigurationen. Die Gleichsetzung des Imperium Romanum mit dem British Empire oder den Vereinigten Staaten lehnt er ab; stattdessen verweist er auf parallele oder divergente Entwicklungen im achämenidischen und sassanidischen Persien, in dem Maurya-Reich in Indien und im frühen China.

Der Kaiser als «Schlussstein»

Woolf zählt Rom zur exklusiven Gruppe derjenigen Staaten, die «ihre eigene Expansion überlebten und in der Lage waren, neue Institutionen, Ideologien und Sitten und Gebräuche zu schaffen». Der Erfolg des Römischen Reiches beruht in seiner Sicht auf dem komplexen Wechselspiel unterschiedlicher Kräfte, deren Einfluss und Bedeutung in der longue durée variierte.

Woolf akzentuiert die Bedeutung der aristokratischen Elite für die imperiale Herrschaft, der Sklaverei für die Wirtschaft, der Familie für die soziale Sicherheit, der Stadt für die politische Stabilität und der lateinischen Kultur für eine gemeinsame Identität. Der Religion will er hingegen keine zentrale Bedeutung zuweisen; sie sei «reaktiv und in sich verschlossen» gewesen. Wichtiger waren eine offensive Bürgerrechtspolitik und ein differenziertes Bündnissystem, das die Elite der Unterworfenen in das Reich integrierte. Der römische Kaiser wiederum war wichtig als Entscheidungsträger und Symbolfigur, aber seine Rolle will Woolf nicht überbewerten: Der Monarch erscheint als «Schlussstein des Gewölbes», als einer, der weniger gestaltete als moderierte, eher Konflikte schlichtete als Initiativen ergriff.

Ähnlich wie Rostovtzeff argumentiert der britische Historiker, dass die Krise des Reiches seit dem dritten Jahrhundert n. Chr. mit dem Niedergang traditioneller urbaner Strukturen einherging, der den Einfluss der vermögenden Klassen schwächte. Der spätantike Staat versuchte mit Reformen gegenzusteuern, die allerdings das Auseinanderbrechen des Imperiums im Gefolge von barbarischen Invasionen und innenpolitischen Turbulenzen nicht verhindern konnten.

Wissenschaftlicher Dissens wird notiert. Von der Idee, schon den Römern die Schuld an Entwaldung und Bodenerosion zuzuweisen, hält Woolf nichts: Die römischen Eroberungen führten zwar zu einer Intensivierung der Produktion, nicht aber zu einer tiefgreifenden Veränderung der Umwelt. Der Versuch, die Desintegration des spätrömischen Reiches als Transformation zu beschreiben, überzeugt ihn nicht; er spricht von einem «Zusammenbruch» und dekretiert: «Die Menschen der Antike haben das so gesehen, und wir sollten es auch tun.» Aber Woolf verliert sich nirgends in gelehrten Debatten, sondern erzählt in bester angelsächsischer Tradition Geschichte. Das englische Original hat der erfahrene Übersetzer Andreas Wittenburg kongenial übertragen.

Greg Woolf entwirft ein grossartiges Panorama, das seinen Lesern allerdings einiges an Aufmerksamkeit und Kenntnissen abverlangt. Denn sein Buch gibt «keine vollständige Geschichte Roms», sondern stellt am Beispiel des Imperium Romanum die paradigmatische Geschichte eines Weltreiches dar. Immer wieder werden thematisch ausgerichtete Abschnitte eingeschoben, so zum Steuersystem und zur Verwaltungsorganisation, zur Provinzialbürokratie und Bürgerrechtspolitik, zum Kaiserkult und Christentum. Für die althistorischen Laien findet sich zu Beginn ein konziser Abriss der römischen Geschichte von 753 v. Chr. bis in das siebte Jahrhundert n. Chr., und vor jedem Kapitel stehen Zeittafeln, die dem Leser helfen sollen, sich in der Chronologie zurechtzufinden. Wer sich auf das anspruchsvolle Buch einlässt, wird nach der Lektüre sicher zu dem Ergebnis gelangen, dass «Zukunft und Nachleben des Römischen Reiches eine aufregende Angelegenheit» sind.


Nota. - Das Geheimnis für die Lange Dauer des Römischen Reichs ist der Handels- und Wirtschaftsraum Mittelmeer. Der römische Staat war gewissermaßen die Marktpolizei vom Atlas bis in den Libanon - mit Glacis und Razzienflächen an den Rändern. An der zuverlässigen Seeherrschaft Roms und der Eindämmung der Piraterie war einem jeden Anrainergemeinwesen gelegen, und wer einmal von den Römern erobert war, hatte für die nächsten Jahrhunderte seine Ruh. Keiner hatte ein wirkliches Interesse am Ende der römische Herrschaft, und in Palästina haben haben nicht die Römer die jüdische Religion drangsaliert, sondern der Monotheismus mochte keine andern Götter dulden. - Ansonsten gab es Aufstände an den Peripherien, denen am mittelmeerischen Markt am wenigstens gelegen war. 

So dass eigentlich nicht der lange Bestand des Reichs Rätsel aufgibt, sondern wohl doch seine Entstehung. Warum Rom und nicht Carthago? - Tja, Carthago war unterlegen, aber einer von beiden musste es sein: Es war in Aller Interesse.

Ja, und dann der schleichende Niedergang - im Innern, das Abbröckeln der Ränder war nur das Echo. Der Handel auf dem Mittelmeer ist zurückgegangen? Aber statt einer Antwort wirft das neue Fragen auf...

Immerhin hat das Ostreich das Westreich um mehrere Jahrhunderte überlebt. Das ist eigentlich bemerkenswerter - und dass es dann schließlich doch verfiel.
JE

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