Freitag, 11. September 2015

Homo vagans, II.

aus nzz.ch, 5.9.2015

Über Migration und Migranten
Ein Blick in die Geschichte menschlicher Wanderungsbewegungen
Die Menschheit ist durch Migration zu dem geworden, was sie heute ist. Das sollte in der gegenwärtigen «Flüchtlingsdebatte» nicht vergessen gehen.

von Herfried Münkler

Über die längste Zeit ihrer Geschichte ist die Menschheit migriert. Wenn das Ursprungsgebiet des Menschen irgendwo in Ostafrika zu suchen ist, so waren es weitreichende Migrationsbewegungen, die zur Besiedlung des gesamten Globus geführt haben. Diese Besiedlung hat sich über Jahrtausende hingezogen, und auf ihren Wanderungen haben die Migranten ihr Aussehen, ihren Charakter und ihre Lebensweise verändert: Immer wieder aufs Neue hat sich der Mensch, «das nicht festgestellte Tier», wie Nietzsche ihn genannt hat, den jeweiligen klimatischen und ökologischen Gegebenheiten angepasst, in die er eingewandert war und in denen er sich nun behaupten musste. Das Menschengeschlecht ist durch Migration zu dem geworden, was es heute ist.

Der Traum vom Gleichgewicht

In der jüngeren Geschichte ist verschiedentlich die Vorstellung aufgekommen, nunmehr sei die Zeit der Migration zu Ende und das Leben der Menschen sei stationär geworden. Deswegen, so wurde geschlussfolgert, sei es an der Zeit, eine neue, als endgültig angesehene politische und gesellschaftliche Ordnung zu entwerfen, die auf einer Reihe von Gleichgewichtsannahmen begründet wurde. Im 18. Jahrhundert war das verstärkt der Fall: Fast alle normativen Ordnungsvorstellungen der Aufklärer beruhten auf der Annahme eines Gleichgewichts, und dabei sahen sie dessen Infragestellung durch nachhaltige Migrationsbewegungen nicht vor. Die aktuelle Debatte über Flüchtlinge und Asylbewerber zeigt, in welchem Masse wir auch heute im Bann solcher Gleichgewichtsvorstellungen stehen und wie schwer es uns fällt, dynamische Veränderung durch Migration zu denken.

Aber schon einige Jahrzehnte nach dem Höhepunkt des homöostatischen Systemdenkens entstanden die Migrationsströme des 19. Jahrhunderts, als mehr als fünfzig Millionen Europäer den alten Kontinent verliessen und nach Amerika auswanderten. Perioden der Stagnation und solche dynamischer Migration haben einander also immer wieder abgewechselt. So wurde nach dem Ersten Weltkrieg in Europa die Migration mit politischen Mitteln eingedämmt, etwa durch die Einführung des Reisepasses, mit dem der Staat die Kontrolle über seine Grenzen erlangte. Im Zweiten Weltkrieg und noch danach wurden gewaltige Bevölkerungsverschiebungen und Flüchtlingsströme in Gang gesetzt, mit denen die Zusammensetzung der Bevölkerung den jeweiligen Herrschaftsvorstellungen angepasst werden sollte. Daran anschliessend gab es in Europa über vier Jahrzehnte relativ wenig Migration. Das war eine Folge der Systemgrenze, die sich als Eiserner Vorhang mitten durch Europa zog. Dementsprechend traf die Fluchtbewegung der 1990er Jahre aus dem Balkan Westeuropa wie ein Schock.

Schockierend sind die neuen Flüchtlingsströme nicht zuletzt darum, weil sie die Vorstellung von der Steuerbarkeit der Migration zerstört haben. Wo Kriege oder Naturkatastrophen solche Ströme auslösen, erweist sich die Idee ihrer Lenkbarkeit und Kontrolle schnell als Illusion. Aber so schnell will und kann man die Vorstellung der Steuerung nicht aufgeben: Man will nicht, weil fast alle Zukunftsvorstellungen der wohlhabenden Gesellschaften daran hängen – und man kann nicht, weil die Funktionsmechanismen der Gesellschaften eher inflexibel sind und auf einen grösseren Ansturm von Migranten nur schwer umgestellt werden können.

Je komplexer und normativ anspruchsvoller eine Gesellschaft ist, desto verwundbarer ist sie durch migrantische Veränderungen. Mit statistischen Extrapolationen bis weit ins nächste Jahrzehnt erwartungssicher gemacht, nimmt sie den Zustrom von Migranten als Gefahr und nicht als Chance wahr. Die von den Flüchtlingen hervorgerufene Angst ist bis in die Mitte unserer Gesellschaften vorgedrungen, die so gut wie nicht stressresistent ist. Man kann es auch einfacher formulieren: Es sind satte, zumeist überalterte Gesellschaften, die sich einer als bedrohlich empfundenen Herausforderung stellen müssen, aber nicht stellen wollen.

Sesshafte und Nomaden

Um das nachvollziehen zu können, lohnt sich ein nochmaliger Blick in die Geschichte menschlicher Wanderungsbewegungen. Über Jahrzehntausende waren unsere Vorfahren Jäger und Sammler, was heisst, dass sie, wenn sie nicht im Regenwald, sondern in Steppen- und Präriegebieten lebten, den jahreszeitlichen Wanderungen der grossen Herden folgten und dort in Konkurrenz mit Raubtieren ihre Nahrung suchten. Das änderte sich erst mit der neolithischen Revolution vor 10 000 bis 12 000 Jahren, also der Erfindung von Ackerbau und Viehzucht, in deren Folge grössere Menschengruppen sesshaft wurden.



Mit der Entstehung bäuerlicher Wirtschaftsweisen entstand ein neues Verhältnis zum Nomadismus: Aus einer zuvor selbst praktizierten Lebensform wurde er zu einer Bedrohung. Er wurde als räuberisch und zerstörend wahrgenommen, und dementsprechend waren die Bauern bestrebt, die wandernden Herden und Horden von ihren Feldern und Bewässerungssystemen fernzuhalten. Sie verteidigten ihr Territorium, aber um das zu können, bedurften sie der herrschaftlichen Organisation. So entstanden die Frühformen von Staatlichkeit, und in den Bauernkulturen entwickelte sich eine notorische Aversion gegen alles Fremde.

Orte der Zivilisierung

Freilich, je effektiver die Bauern produzierten und je besser sie gegen die räuberischen Nomaden geschützt wurden, desto grösser wurden die Städte, die inmitten der Dörfer entstanden, und diese Städte wurden – durch Zustrom von Fremden – zu Stätten der Veränderung und Innovation. Zugleich erwiesen sie sich als Orte der «Zivilisierung» des Fremden: Aus nomadischen Räubern wurden Kaufleute und Händler, die einen kontinuierlichen Beitrag zum Anwachsen von Wohlstand und Reichtum leisteten. Ist das bäuerliche Land auf Dauer und Beharrung ausgerichtet, so ist die Stadt ein Zentrum der Bewegung und Veränderung, sie wird zum Impulsgeber einer langsamen und schrittweisen «Modernisierung» des bäuerlichen Wirtschaftens. Vom Hochmittelalter bis zum Beginn der Industrialisierung glich die Stadt-Land-Beziehung einem homöostatischen System, das nur durch Kriege und Naturkatastrophen aus dem Gleichgewicht geriet. Veränderung und Beharrung hielten einander die Waage. Zumindest den Romantisierungen, die dieses System überlagerten, unterliegen wir bis heute.

Was in dieser Wahrnehmung freilich in den Hintergrund gedrängt worden ist, ist die innovative Rolle des Fremden, das wie ein Generator des Neuen gegen Ermüdungsprozesse und lähmende Selbstzufriedenheit wirkt. Es sind vor allem die Fremden, die sozioökonomische Erstarrung verhindern – sei es, weil sie Neues mit sich bringen, sei es, weil sie hungrig sind und fleissiger arbeiten als die meisten, die sich seit langem im Bestehenden eingerichtet haben. Viele kommen, weil sie sich ein besseres Leben erhoffen, aber um dieses zu erreichen, müssen sie mehr und besser arbeiten als die Alteingesessenen. Für die am unteren Rand der Gesellschaft Stehenden sind diese Fremden eine Bedrohung, für die Gesellschaft als Ganzes sind sie dagegen eine Revitalisierung. Der aggressive Widerstand gegen die Fremden kommt deswegen zumeist aus dem unteren Segment der Gesellschaft, vor allem aber kommt er von denen, die kurzfristig denken, weil sie selbst von der Hand in den Mund leben. Dagegen sind die, die langfristiger denken und um die Bedeutung des Innovativen wissen, sehr viel offener gegenüber dem Fremden.

Ängste sind nicht nützlich

Lassen sich diese Beobachtungen für den Umgang mit den gegenwärtigen Herausforderungen durch die Flüchtlinge aus dem Vorderen Orient und dem subsaharischen Afrika fruchtbar machen? In Grenzen jedenfalls kann man das annehmen, etwa beim Blick auf staatliche Sozialleistungen, die in modernen Gesellschaften eine ähnliche Funktion haben wie Grund und Boden in der alten bäuerlichen Gesellschaft. Solche Leistungen sind einerseits die Voraussetzung dafür, dass die Neuankömmlinge, die auf lange Zeit bleiben werden, die Kraft und Initiative entwickeln, die sie zu einer Bereicherung und Erneuerung unserer Gesellschaft machen und in ihnen das Empfinden nähren, dass sie der aufnehmenden Gesellschaft etwas zurückgeben sollten.

Aber diese Leistungen dürfen wiederum nicht so beschaffen sein, dass man sich darin auf Dauer einrichten kann, dass sie, wenn auch auf niedrigem Niveau, «satt machen» und dazu führen, dass die positiven Effekte der Neuankömmlinge durch deren unverzügliche Verwandlung in Angehörige des unteren Gesellschaftssegments verspielt werden. Umgekehrt dürfen die Fremden der Aufnahmegesellschaft nicht dauerhaft in grosser Distanz gegenüberstehen, sondern müssen deren Rahmenordnung als die ihre annehmen.

Es wäre klug, wenn wir in der Flüchtlingsdebatte mehr auf die Effekte von Massnahmen achten würden, um die positiven Seiten zu vermehren und die negativen zu begrenzen, als diffusen Ängsten zu folgen, die das Problem nur vergrössern. Vorerst jedenfalls müssen unsere Gesellschaften sich auf eine anhaltende Migration einstellen und Strategien entwickeln, um daraus das Beste zu machen. Ein Blick in die Geschichte kann dabei helfen.

Herfried Münkler ist Professor für Theorie der Politik am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Ende September erscheint (bei Rowohlt Berlin) sein Buch «Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert».


Nota. - Das kommt ja auch nicht alle Tage vor, dass ich einem von anderswo her übernommenen Beitrag gar nichts hinzuzufügen habe, jedenfalls nichts kritisch unabdingbares. Das ist das beste, was man über einen Text sagen kann: Das lässt sich weiter ausführen.
JE



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