Dienstag, 22. September 2015

Lob der Zwietracht.


Unter der Überschrift Lob der Zwietracht referiert André Kieserling in der FAZ vom 17.09.2015 einen erst unlängst veröffentlichten Aufsatz des 1998 verstorbenen Systemtheoretikers Niklas Luhmann.

...Die übliche Bewertung, die im Streit nur die Störung sieht, führt Luhmann darauf zurück, dass wir dabei bevorzugt an Anwesende oder Nahestehende denken. Nicht nur Familienfeste, auch komplette Familien können durch offenen Konflikt ruiniert werden. Für kleine und undifferenzierte Gruppen ist es daher eine sinnvolle Maxime, taktvoll und diplomatisch zu kommunizieren. Aber auch für eine konfliktscheue Gesellschaftsmoral zeigt der Soziologe durchaus Verständnis. Sie sei solange angemessen, wie die Gesellschaft auch ihrerseits in der Art einer Großfamilie organisiert ist. In Stammesgesellschaften schätze man die Nachgiebigkeit aber auch deshalb, weil es hier noch keine Richter gibt, die den Konflikt durch verbindliche Entscheidung beenden können. ...

Für die moderne und differenzierte Gesellschaft ist das kein Modell, und zwar deshalb nicht, weil ihre Differenzierung immer auch die Interessen und Perspektiven der davon betroffenen Gruppen und Teilsysteme erfasst - und damit die friedlichen und kampflosen Einigungsmöglichkeiten unter ihnen abbaut. Nicht nur Schichtungsstrukturen, auch die modernen Formen der Arbeitsteilung zwischen Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Religion, Familienleben und Schulerziehung gelten daher als Konfliktquellen ersten Ranges. ...

Nach Luhmann kommt es hier vor allem darauf an, dass die Gesellschaft einerseits und die Kontakte unter Anwesenden und Nahestehenden andererseits auch voneinander getrennt werden. Hemmungen der Streitlust, die Anwesende auferlegen, können umgangen werden, wenn der Gegner abwesend ist oder gar persönlich unbekannt bleibt. So sind Wahrheitskonflikte unter Wissenschaftlern relativ einfach zu führen, weil ihr Medium ohnehin der Buchdruck ist. Begegnen die Streitenden sich dann auf irgendeinem Podium, sieht man an der gegenseitigen Schonung, die sie dort für angebracht halten, wie viel der Streit dem Umstand verdankt, dass er unter Abwesenden begonnen wurde. ...

Eine besonders effektive Form, Gegnerschaften zu pflegen, ohne Anwesende oder Nahestehende zu betrüben, sieht Luhmann in der Konkurrenz. Denn die Konkurrenten suchen ja gute und möglichst harmonische Beziehungen nicht zueinander, sondern zu dritten Personen, die sie für sich zu gewinnen suchen: zu den Kunden, zu den Wählern, zu den Arbeitgebern, die sie einstellen sollen. Diese Umleitung über einen Dritten erlaubt es zugleich, das Kampfergebnis als verdient anzusehen. Man hat nicht einfach im vermeinten Recht des Stärkeren über den Gegner triumphiert, sondern man hat sich als Fremdversteher, als Virtuose der Einfühlung in Publikumswünsche, als überlegener Wohltäter an Dritten bewährt. Vor allem aber müssen die Konkurrenten, da ihr Interessengegensatz von Dritten entschieden wird, keine Beziehungen zueinander suchen, und selbst wo solche Beziehungen aus anderen Gründen bestehen und andauern sollen, werden sie dadurch entlastet, dass die Zumutung, den Wettstreit verloren zu haben, von Dritten verantwortet wird. 

Niklas Luhmann, Ebenen der Systembildung - Ebenendifferenzierung, in: Bettina Heintz/Hartmann Tyrell (Hrsg.), Interaktion - Organisation - Gesellschaft revisited. Anwendungen, Erweiterungen, Alternativen, Stuttgart 2015.


Nota. - Ein Loblied auf die bürgerliche Gesellschaft. Insofern sie nämlich Gesellschaft ist und nicht vorgibt, eine dem Höheren verpflichtete Gemeinschaft zu sein: Kampf aller gegen alle, aber so verfasst, dass, was im Privaten Laster wäre, in der Öffentlichkeit als Wohltat erscheint. 

Der springende Punkt: die Scheidung von privat und öffentlich. Sie ist eine Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft oder der Gesellschaft in specie: Es gibt einen Raum, wo sie alle miteinander zu tun kriegen  –  das ist am äußersten Ende die Wissenschaft  – , und einen Raum, wo jeder jedem andern aus dem Weg gehen kann  –  das sind auf der Gegenseite die eignen vier Wände und die Tür, die man hinter sich zumachen kann.

Die kapitalistische Gesellschaft ist darum noch nicht ganz bürgerliche Gesellschaft: Die Klassenspaltung, die ein öffentliches Verhältnis ist, reicht bis tief in die privatesten Verhältnisse hinein. 
JE


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