Dienstag, 8. September 2015
Formelfetischisten: Rechnen oder denken?
aus nzz.ch, 8. 9. 2015
Kritik an der Ökonomie
Die Mathematisierung weckt falsche Erwartungen
Die Ökonomie ist im Zuge der Finanzkrise zu einem Prügelknaben der Öffentlichkeit geworden. Ganz unschuldig an dieser Entwicklung ist die Disziplin nicht.
von Thomas Fuster, Münster
Zu den Opfern der jüngsten Finanzkrise gehören nicht nur zahlreiche Anleger, Sparer oder südeuropäische Schuldenstaaten. Auch die Wirtschaftswissenschaften sehen sich seit Jahren verstärkter Kritik ausgesetzt. Vorgeworfen wird den Hochschulökonomen nicht nur, dass sie von der Heftigkeit der wirtschaftlichen Verwerfungen zumeist ebenso stark überrascht wurden wie die meisten Durchschnittsbürger. Das angebliche Unvermögen, die sich auftürmenden Gefahren zu erkennen, wird auch als Beleg für ein weltfremdes und daher dringend zu reformierendes Curriculum an den Wirtschaftsuniversitäten interpretiert.
Mit solcher Kritik sieht sich auch der Verein für Socialpolitik, die wohl wichtigste Vereinigung von Ökonomen im deutschsprachigen Raum, an ihrer derzeit stattfindenden Jahrestagung in Münster konfrontiert. Zwar ist die ökonomische Ausbildung in den vergangenen Jahren deutlich pluralistischer und interdisziplinärer geworden. Noch immer erscheint Ökonomie aber in vielen Lehrbüchern und Lehrveranstaltungen als angewandte Mathematik.
Der Fokus auf mathematische Modelle, die oft auf ziemlich realitätsfremden Annahmen basieren, spiegelt nicht nur eine in der Zunft weitverbreitete Skepsis gegenüber der Sprache als einem angeblich zu wenig exakten Instrument der wissenschaftlichen Debatte. Mit den hochkomplexen Formeln wird auch eine Genauigkeit, ja eine Beherrschbarkeit der Wirtschaft suggeriert, welche die Ökonomie als Sozialwissenschaft niemals einzulösen vermag. Die Enttäuschung des öffentlichen Publikums ist da stets programmiert. Man wünscht der Disziplin denn auch wieder etwas mehr Vertrauen ins sprachlich hergeleitete Argument, mehr biologisches statt mechanisches Selbstverständnis und weniger Formalismus und Mathematikgläubigkeit. Damit ginge auch jene Demut gegenüber der Komplexität menschlichen Verhaltens einher, wie sie jedem Ökonomen gut anstände.
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