Sonntag, 13. September 2015

Das neue Deutschland


Zwei lange Beiträge vom selben Autor in wenigen Tagen - nein, das ist keine persönliche Sympathiekundgebung, sondern allein der Sache geschuldet. Wenn sich Hr. Münkler demnächst schriftlich zu Genderfragen äußern sollte, werde ich ihm auch das honorieren, wenn es auch von der Sache her nicht wirklich dringlich ist.
JE

aus Tagesspiegel.de, 13. 9. 2015, 15.19 Uhr

Macht der Moral


Von Herfried Münkler

Spricht man in diesen Tagen mit Vertretern der ausländischen Presse in Berlin, dann ist vor allem von dem widersprüchlichen und verwirrenden Bild die Rede, das Deutschland in ihrer Sicht während der letzten Monate geboten habe.

Auf der einen Seite ist da das strenge, ja geradezu hartherzige Deutschland bei den Verhandlungen über ein weiteres Rettungspaket für Griechenland und auf der anderen Seite ein Deutschland, das als einziges EU-Land auf die katastrophale Situation der Flüchtlinge in Ungarn und Mazedonien reagiert und sie in einem Akt buchstäblich grenzenloser Großherzigkeit ins Land gelassen hat.

Diese Verwunderung ist nicht aufs Regierungshandeln beschränkt: einerseits eine Gesellschaft, in der die Redewendung von den „faulen Griechen“, die jetzt „den Gürtel enger schnallen müssen“, durchaus mit beifälliger Zustimmung quittiert worden ist, und andererseits eine Gesellschaft, die Flüchtlinge empfängt, als handele es sich um eine nationale Sportequipe, die gerade einen großen Titel errungen hat. Man werde, so die ausländischen Journalisten, aus Deutschland nicht schlau.

Die Verwirrung über Deutschland ist vor allem eine Krise der Klischees.

Selbstverständlich sagt dieses Erstaunen auch etwas über die Beobachter und nicht nur über Deutschland aus, denn gerade bei der Griechenlandrettung hat sich die Bundesregierung durchaus solidarisch gezeigt. Im Unterschied zu Frankreich und Italien wäre sie vom Zusammenbruch der griechischen Banken nur am Rande getroffen worden. Viel weniger als die französische und die italienische gründete sich die deutsche Solidarität auf eigene Interessen. Deswegen konnte sie auch den Grexit ins Spiel bringen.

Aber deswegen handelte es sich auch sehr viel mehr um Solidarität als um ökonomisches Kalkül. Und ansonsten hat die Bundesrepublik schon das gesamte Jahr über mehr Flüchtlinge aufgenommen als alle anderen europäischen Länder zusammen. Die Kontrastbeschreibung Deutschlands, die als so verwirrend und widersprüchlich bezeichnet wird, zeigt vor allem die Klischees, die im Deutschlandbild der Nachbarn immer noch virulent sind. Die Verwirrung über Deutschland ist vor allem eine Krise der Klischees.

Und doch ging es den Menschen, die in München, Frankfurt und Dortmund zu den Bahnhöfen eilten, um die ankommenden Flüchtlinge willkommen zu heißen, nicht wesentlich darum, das Deutschlandbild des Auslands zurechtzurücken. Vielmehr waren sie Akteure in einem innerdeutschen Kampf um das dominante Bild des Landes. Nicht brennende Asylbewerberheime, sondern Willkommensplakate, nicht Pegida-Demonstranten, sondern aufgeschlossene und weltoffene Menschen sollten für Deutschland stehen – und das haben die Begrüßungsdemonstranten tatsächlich geschafft.

Wenn ein englischer Wissenschaftler danach von einer Hippiekultur in Deutschland sprach, dann hat er von den politischen Kämpfen, die hier um die Deutungshegemonie ausgefochten werden, nichts begriffen. Es ging jetzt vor allem darum, dem rechtsterroristischen Untergrund, der gezielt und systematisch Asylantenheime in Brand gesteckt hatte, nicht die Macht der Bilder zu überlassen. Gegen die menschenverachtenden Zeichen der Abweisung haben sie die Symbole des Willkommens gesetzt. Ihnen dürfte durchaus klar gewesen sein, dass mit einem freundlichen Empfang die Integration der Flüchtlinge in die deutsche Gesellschaft noch lange nicht erfolgt ist. Die „Mühen der Ebene“, um mit Bertolt Brecht zu sprechen, stehen den Deutschen noch bevor, und die werden langwierig und mit Enttäuschungen gespickt sein: Enttäuschungen für die Ankömmlinge, denen Deutschland wie das Gelobte Land vorgekommen sein mag, aber auch Enttäuschungen für die Aufnahmegesellschaft, weil sich die Flüchtlinge keineswegs so umstandslos anpassen und integrieren werden, wie sich das mancher vorgestellt haben dürfte.

Die Bundesregierung hat beim Flüchtlingsproblem einen Führungsanspruch bekommen, den sie gar nicht angestrebt hat

Die Bilder des Willkommens werden dann als Zeichen der Schadenfreude gegen Deutschland gewandt werden. Alle, die jetzt durch diese Bilder beschämt worden sind, werden sich dann obenauf fühlen und ihre jetzige Beschämung mit Häme zurückzahlen. Insofern ist Deutschland auch eine Selbstverpflichtung eingegangen: die, sein Bestes zu geben, um die Integration der Flüchtlinge hinzubekommen.

Dies hat Deutschland auch politisch verwundbar gemacht. Repräsentiert durch die Bahnhofsdemonstranten, hat das Land ein Versprechen abgelegt, das kaum einzuhalten sein dürfte. Das hat bei manchem zu einer skeptischen Distanz gegenüber den Euphorikern geführt, und vermutlich hatte das auch besagter Engländer im Sinn, als er von der Hippiekultur in Deutschland sprach: Aus einer kaum zu meisternden Herausforderung wird ein Freudentanz gemacht; wo ernste Sorgen durchaus angebracht sind, wird leichtsinnige Freude inszeniert.

Ob diese Begrüßung ein erster Schritt bei der Traumatabearbeitung der Angekommenen sein könnte, mag dahingestellt bleiben. Sie verschafft freilich der deutschen Regierung politische Spielräume, die sie vorher nicht gehabt hat: zum einen gegenüber den anderen Regierungen der EU, sich doch noch in Richtung verbindlicher Aufnahmeregeln zu bewegen. Zum anderen im Hinblick auf die Flüchtlinge aus dem Westbalkan, die jetzt in großer Zahl und beschleunigtem Tempo wieder in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden können.

Die Demonstranten haben der Regierung einen riesigen Kredit verschafft

Das haben die Willkommensdemonstranten vermutlich nicht beabsichtigt, aber es gehört auch zu den Folgen dieser Szenen: dass die Bundesregierung bei der Bearbeitung des Flüchtlingsproblems einen Führungsanspruch bekommen hat, den sie eigentlich gar nicht angestrebt hat. Die Demonstranten haben der Regierung einen riesigen Kredit verschafft, aber das verpflichtet die Regierung auch dazu, mit diesem Kredit zu wirtschaften. Man wird es ihr verübeln, wenn sie ihn verspielt.

Der Ansehensgewinn Deutschlands hat nämlich noch einen weiteren Einflussgewinn der Bundesregierung in Europa zur Folge. Dazu hat die Kanzlerin mit der Entscheidung, das Registrierungsverfahren nach dem Dublin-Abkommen auszusetzen und die Flüchtlinge ohne weitere Formalitäten einreisen zu lassen, entscheidend beigetragen. Die säuerlichen Reaktionen einiger europäischer Regierungen darauf zeigt, dass ihnen die Folgen dessen für die Verteilung der politischen Gewichte in Europa schnell klar geworden sind.

Das wirtschaftlich und fiskalisch ohnehin übermächtige Deutschland ist damit auch zur europäischen Vormacht in humanitären Fragen geworden, und das heißt, dass sie zum einflussreichsten Interpreten der europäischen Werte geworden ist. Das war die politische Schwachstelle der deutschen Politik, wie sich das während der Griechenlandkrise gezeigt hat. Die Bundesrepublik hatte zwar große ökonomische Macht, aber kaum moralischen Kredit. Den hat sie jetzt.

Freilich muss die Führungsrolle in der EU, die Deutschland nach der Ukraine- und der Griechenlandkrise nun auch in der Flüchtlingskrise zugefallen ist, auch ausgefüllt werden. Die Reaktion vom letzten Wochenende, bei der Deutschland das Problem zeitweilig löst, indem es dessen Hauptlast selbst übernimmt, lässt sich nicht beliebig wiederholen und ist nur als Notmaßnahme in einer besonderen Notsituation anzusehen. Und auch eine Quotenregelung innerhalb der EU kann nur ein Zwischenschritt sein, wenn, womit zu rechnen ist, die Migrationsbewegung aus dem Nahen Osten und Afrika weiter anhält. Die Euphorie wird sich bei der Arbeit an diesen Problemen ebenfalls schon bald als ein bloßer Zwischenschritt erweisen – allerdings als ein wichtiger, der die Lage grundlegend verändert hat.


Nota. - Stelln Sie sich das bloß mal vor: Sie könnten eines Tages sagen, ich bin stolz, ein Deutscher zu sein, und es ist so harmlos, als würde  - sagen wir: ein Uruguayer so reden!
JE

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