Freitag, 9. Oktober 2015
Ad Winkler: Wer ist hier konservativ?
Der Historiker Heinrich August Winkler übernimmt derzeit für die FAZ das Geschäft, ihrem Publikum zu erklären, was ein moderner Konservatismus ist. Das ist nicht so erfrischend, wie man es sich wünschen würde.
Historiker bin ich auch, wenigstens vom Studium her. Konservativ bin ich auch, nämlich vom Temperament. Aber ich bin nicht kleinkariert. Und darum habe ich, als es vernünftige Gründe dafür gab, gemeint, wir lebten in der Epoche der Weltrevolution. Die Epoche hat sich 1990 geändert, die vernünftigen Gründe sind entfallen. Jetzt bin ich unbeeinträchtigt konservativ, Historiker bin ich auch noch, und kleinkariert bin ich im Alter schon gar nicht mehr. Ich sage nicht, was gestern richtig war, kann heute nicht falsch sein; ich sage nicht, wenn es heute falsch ist, war es schon damals nicht richtig; ich sage, was damals richtig war, war damals nicht falsch, aber heute ist es das.
Der sachliche Irrtum betraf die Gegebenheit der Bedingungen, das, was richtig ist, zu tun. Er betraf nicht die Frage, was zu tun richtig wäre, denn das hat sich nicht geändert.
Konservativ hieß zu Zeiten Bismarcks, von den Vorrechten der verlumpten ostelbischen Junker retten, was zu retten war. Heute – ach, eigentlich schon damals nannte man das reaktionär.
Was konservativ bedeutet – das ist allerdings eine Frage für Historiker. Was immer dieser oder jener als den Sinn unserer Geschichte erkennen will, ist strittig und soll es, wenn irgend möglich, immer bleiben. Mit andern Worten, es ist problematisch. Aber die Geschichte selbst ist – auch – positiv. Sie hat über die Jahrtausende einen Haufen Reich-tümer angesammelt, über die wir, ob wir wollen oder nicht, verfügen – nämlich selbst, indem wir diesen oder jenen verwerfen. Konservativ ist nun einer, der das, was er nach kritischer Sichtung nicht aus wichtigem Grund aussortie-ren muss, nicht auf sich beruhen lässt, sondern als sein Erbe und seine Vorgabe annimmt.
Dass die Mühen und Anschaffungen unsere Vorgänger nichts wert gewesen sein könnten, kann nur glauben, wer wähnt, die Geschichte habe gerade auf ihn gewartet, damit er's mit ihr ganz von vorn anfange. Reformer, Weltver-besserer und Fortschrittler aller Couleur sind von dieser frivolen Hybris getrieben. Zum echten Revolutionär kann dagegen auch ein Konservativer werden; wenn er nämlich bemerkt, dass die Geschichte, wenn sie weiter blind verläuft, von den Reichtümern, für deren Anschatzung unsere Vorfahren geschwitzt und geblutet haben, das Beste dem Bedünken zufälliger Tagesgrößen preisgeben wird. Denn dann muss das Steuer energisch herumgerissen werden – und zur Not das Unterste zu oberst gekehrt.
Keinesfalls konservativ ist einer, der vom Temperament her nur immer auf der Bremse steht. Der ist bloß klein-kariert und hätte zu Bismarcks Zeiten die Vorrechte der verlumpten ostelbischen Junker verteidigt; siehe oben.
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