Der Standard in Wien bringt heute ein Interview mit dem Florentiner Migrationsforscher Rainer Bauböck zum aktuellen Flüchtlingsproblem. Es schließt wie folgt:
STANDARD: Warum ist die Haltung in Deutschland mehrheitlich positiv? Ist das die Gesellschaft, oder ist die Kanzlerin Angela Merkel die wahre Triebfeder?
Bauböck: Ich war überrascht von der Haltung Angela Merkels. Im Nachhinein kann man diese sicher leicht erklären: Sie ist in einer Position der innenpolitischen Stärke und hat mit keiner starken rechtspopulistischen Opposition zu kämpfen. In Europa ist Deutschland, auch aufgrund der Absetzbewegung in Großbritannien und der wirtschaftlichen wie innenpolitischen Schwächen Frankreichs, in eine Führungsrolle gedrängt worden, und Merkel ist die erste Kanzlerin, die versucht, diese Rolle auszufüllen.
Nun wissen zwar alle politischen Eliten in den europäischen Hauptstädten, dass es keine Lösung für das Flüchtlingsproblem auf nationalstaatlicher Ebene geben kann. Trotzdem gibt es die Widerstände gegen die Aufteilung der Flüchtlinge in der EU. Merkel hätte in dieser Situation aber keine europäische Lösung durchsetzen können, wenn sich Deutschland gleichzeitig abgeschottet hätte – denn das hätte dasselbe Verhalten aller anderen Staaten legitimiert. Daher hat sie etwas gewagt, was staatsmännisch bemerkenswert ist, und das unselige Dublin-Abkommen, das das Problem unlösbar macht, vorübergehend de facto außer Kraft gesetzt. Deutschland kann diese Haltung nun benutzen, um moralischen Druck auf die übrigen Staaten auszuüben und der Kommission den Rücken zu stärken. Das Zeitfenster dafür ist allerdings sehr eng und scheint sich bereits zu schließen.
Interviewer: András Szigetvari
RAINER BAUBÖCK ist Professor am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Er forscht auf dem Gebiet Staatsbürgerschaft und MigrationInterviewer: András Szigetvari
aus Süddeutsche.de, 27. 10. 2015
...Eindeutige Ausnahme ist die Bundesrepublik. Hier liegt die Differenz zwischen Links und Rechts bei nur 18 Prozentpunkten. Denn nicht nur Linke, Grüne oder Sozialdemokraten (90 Prozent), auch sieben von zehn Christdemokraten, Christsozialen und Wählern der AfD befürworten im September die Aufnahme der Flüchtlinge. Die Zustimmung nur bei CDU/CSU-Anhängern liegt im Oktober gar bei 86 Prozent. Ifop-Direktor Jérôme Fourquet deutet dies als persönlichen Erfolg der Kanzlerin.
"Der starke Einsatz von Angela Merkel für die Migranten hat unbestreitbar seine Auswirkungen auf die Meinung der Wähler von CDU/CSU", glaubt der französische Demoskop, der staunend einen Vergleich mit seinem Heimatland zieht: Mit 72 Prozent sei die Zustimmung unter den detuschen Wählern rechts der Mitte weit mehr als doppelt so hoch wie bei Frankreichs konservativen Republikanern (29 Prozent).
Fourquet entdeckt sogar noch einen zweiten "Merkel-Effekt". Bei der Ifop-Nachfrage im Oktober sank die Hilfsbereitschaft der deutschen Linken um sechs Punkte (auf 84 Prozent), rechts von der Mitte blieb die Lage stabil: 73(vorher 72) Prozent waren für Offenheit. "Ihre Wählerbasis hält der Kanzlerin weiterhin die Treue", resümiert Fourquet.
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