...Wer sagt den Kindern der dritten Generation, wie sie sich benehmen sollen? Wie sie sich in der Türkei benehmen müßten , wissen ihre Eltern auch nur aus Erzählungen; wie sie sich in Deutschland benehmen sollen, können sie ihnen überhaupt nicht sagen. Das müßten schon die Deutschen selber tun.
Und das ist der springende Punkt. Die Deutschen, die, aller "geistig-moralischen Wende" unerachtet, seit '68 den öffentlichen Ton angeben, können den Satz wie man sich in Deutschland benimmt ja gar nicht aussprechen, ohne zu stottern! Schon wenn sie "Deutschland" sagen sollen, müssen sie husten. Da konnte man im Sommer 1990 auf dem bröckelnden Hausputz in Kreuzberg, Friedrichshain und Prenzelberg die kecke Losung "Nie wieder Deutschland!" finden. Doch so anarchistisch radikal, wie es klang, war es nicht gemeint. Es sollte nur heißen: In unsern Nischen war's doch recht bequem. ...
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Also wir sind jetzt wieder eine Nation - wie alle anderen. Nicht trotz Auschwitz sind wir es, sondern wegen Auschwitz sind wir es mehr als die anderen. Nicht, weil wir uns, qua Sippenhaft, mit allen Deutschen schuldig fühlen müßten. Sondern schlicht und einfach, weil wir dazugehören: Mit Auschwitz verbindet mich so viel und so wenig, oder so wenig, aber auch so viel wie mit Goethe, Beethoven und Kant; und mit den Juden Marx und Luxemburg. Alles in allem ist es viel. So viel, ach, wie kaum eine andere Nation zusammenhält. Die deutsche Teilung bot die Gelegenheit, sich nach Auschwitz aus der Nation heraus zu stehlen. Da folgte aus dem völkerrechtlichen Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik einerseits die sogenannte "Wiedergutmachung", andererseits eine postume innere Emigration der (damals) heimatlosen Linken; recht eigentlich eine Komfortversion davon, denn sie fand coram publico statt. Dann kam das Jahr '68 und die Abrechnung mit der Generation der Väter. "Wo warst Du eigentlich damals?" hieß es in vielen Wohn zimmern, und in noch mehr anderen blieb es ungesagt in der Luft hängen, was die Sache nur schlimmer machte.
Das war wohlbemerkt nicht bloß ein - wiewohl allgemeines - Familienproblem. Die (wenigen) Kinder aus den Familien der Opfer hatten es nicht besser: Wohin wir blickten, zum Nachbarn, zum Straßenbahnschaffner, auf unsre Lehrer oder auch die nette Verkäuferin im Spielzeugladen - wir waren von Erwachsenen umgeben, die alle in unfaßlicher Weise Schuld hatten. Und das Schlimmste: die meisten nicht einmal aus Verblendung, sondern aus gewöhnlicher Feigheit. Also die sollten uns zeigen, wie es in der Welt ist? So war die Grundstimmung einer ganzen Generation, und im Jahr '68 kochte sie über. Nicht in Frankreich oder USA, sondern in Deutschland fand in jenem Jahr eine Kulturrevolution statt.
Freilich auch nur im Westen. Die eigentliche Teilung Deutschlands geschah 1968. Die DDR nahm sich aus dem nationalen Erbe, was ihr paßte. Sie hatten Weimar; sollten sich die andern mit Auschwitz plagen! Ein alter Nazi mit neuem Parteibuch war nie ein Nazi gewesen. Es gab nichts zu bewältigen. So brauchte denn die NVA auf Stech-schritt und Präsentiermarsch nicht zu verzichten. Und der bequemere Teil der Linken im Westen mußte nicht lange heimatlos bleiben. Sie waren gleich zweimal zuhause. Den Kühlschrank im Westen und das beruhigte Gewissen drüben im Friedenslager: damit "von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgeht". Nur in dieser Verneinung durfte Deutschland noch vorkommen. Im übrigen aber waren "die Nation historisch überlebt" und die Deutschen nur noch Bevölkerung... Und gegen die Zweifler in jenem Landesteil, wo Zeitungen schreiben konnten, was sie dachten, schwangen die Gerechten ihre Moralkeule: Auschwitz als Erpressung. ...
aus: Deutsche Frage und abendländische Leitkultur, Januar 1999
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