Reinhard Lässig
Medienkontakt WSL Birmensdorf
Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL
Jahrringmessungen decken eine drastische Kälteperiode in Eurasien zwischen 536 und etwa 660 nach Christus auf. Sie überlagert sich zeitlich mit der Justinianischen Pest sowie mit politischen Umwälzungen und Völkerwanderungen sowohl in Europa als auch in Asien. Dies berichtet ein interdisziplinäres Team unter Leitung der Eidg. Forschungsanstalt WSL und des Oeschger-Zentrums der Universität Bern im Fachjournal "Nature Geoscience".
Die Wissenschaftler um den Jahrringforscher Ulf Büntgen von der WSL konnten erstmals präzise die Sommertemperaturen der letzten 2000 Jahre in Zentralasien rekonstruieren. Möglich machten dies neue Jahrringmessungen aus dem russischen Altai-Gebirge. Die Ergebnisse ergänzen die bereits 2011 im Fachjournal "Science" von Büntgen und Kollegen publizierte Klimageschichte der Alpen, welche 2500 Jahre zurückreicht. "Der Temperaturverlauf im Altai passt erstaunlich gut mit dem der Alpen überein", sagt Büntgen. Die Studie ermöglicht erstmals Aussagen über die Sommertemperaturen in grossen Teilen Eurasiens für die letzten 2000 Jahre.
Aus der Breite der Jahrringe kann man die sommerlichen Klimabedingungen der Vergangenheit jahrgenau ableiten. Dabei stach den Forschenden eine Kälteperiode im 6. Jahrhundert ins Auge, die noch kälter, länger und großräumiger war als die bisher bekannten Temperatureinbrüche innerhalb der „Kleinen Eiszeit“ zwischen dem 13. und 19. Jahrhundert. "Es war die stärkste Abkühlung auf der Nordhalbkugel während der letzten 2000 Jahre", sagt Büntgen.
Klima und Kultur
Die Forschenden bezeichnen deshalb erstmals den Zeitraum von 536 bis etwa 660 nach Christus als "Spätantike Kleine Eiszeit" (Late Antique Little Ice Age, LALIA). Auslöser waren drei große Vulkanausbrüche in den Jahren 536, 540 und 547 nach Christus, deren Effekt auf das Klima durch die verzögernde Wirkung der Ozeane und ein Minimum der Sonnenaktivität noch verlängert wurde.
Gemäß dem Team aus Natur-, Geschichts- und Sprachforschern fällt eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Umwälzungen in diese Periode. Nach Hungersnöten etablierte sich zwischen 541 und 543 die Justinianische Pest, die in den folgenden Jahrhunderten Millionen von Menschen dahinraffte und vermutlich zum Ende des Oströmischen Reichs beitrug.
Völkerwanderungen
In die von den Römern verlassenen Gebiete im Osten des heutigen Europas wanderten Frühslawisch sprechende Menschen ein, vermutlich aus den Karpaten, und definierten den slawischen Sprachraum. Auch die Expansion des Arabischen Reichs in den Mittleren Osten könnte von der kühlen Periode begünstigt worden sein, mutmaßen die Forschenden: Auf der arabischen Halbinsel gab es mehr Regen, mehr Vegetation und somit mehr Futter für Kamelherden, welche die arabischen Armeen für ihre Kriegszüge nutzten.
In kühleren Gebieten wanderten einzelne Völker auch nach Osten in Richtung China, vermutlich wegen eines Mangels an Weideland in der Zentralasien. In den Steppen Nordchinas kam es folglich zu Konflikten zwischen Nomaden und den dort herrschenden Mächten. Eine Allianz dieser Steppenvölker mit den Oströmern besiegte danach das persische Großreich der Sassaniden und führte zu dessen Untergang.
Strategien für den heutigen Klimawandel
Die Forscher betonen jedoch, dass mögliche Zusammenhänge zwischen der Kälteperiode und soziopolitischen Veränderungen stets mit grosser Vorsicht zu beurteilen seien. "Die 'Spätantike Kleine Eiszeit' passt aber erstaunlich gut mit den grossen Umwälzungen jener Zeit zusammen", schreiben sie.
Für Ulf Büntgen zeigt die Untersuchung beispielhaft auf, wie abrupte Klimaveränderungen bestehende politische Ordnungen verändern können: "Aus der Geschwindigkeit und Größenordnung der damaligen Umwälzungen können wir etwas lernen", sagt er. So ließen sich Erkenntnisse darüber, wie sich große Klimaumschwünge früher ausgewirkt haben, beispielsweise dazu nutzen, um Strategien im Umgang mit dem heutigen Klimawandel zu entwickeln.
Weitere Informationen:
JE
Altai-Gebirge: hier u. a. wurden die Baumringe vermessen
aus Tagesspiegel.de
Zu den Epidemien zählen sie etwa die Justinianische Pest, die den Mittelmeerraum ab 541 heimsuchte und Millionen Menschen tötete. Kurz darauf, im Jahr 551, wurde in Zentralasien, wo die Kältephase stärker ausgeprägt war als in Europa, die Stammesföderation Rouran durch Turkvölker beendet. Kälte und politische Wirren waren nach Ansicht der Forscher auch der Grund für ausgeprägte Völkerwanderungen.
Demnach erreichten die von Osten kommenden Awaren bis etwa 550 das Schwarze Meer, bevor sie letztlich im heutigen Ungarn siedelten. Sie könnten den Autoren zufolge die Langobarden verdrängt haben, die 568 ins heutige Italien einfielen. Auf der Arabischen Halbinsel förderten höhere Niederschlagsmengen die Ausbreitung der Vegetation und trugen somit indirekt zum Aufstieg des Islamischen Reiches bei, argumentieren Büntgen und Kollegen. Größere Kamelherden könnten den Transport der arabischen Armeen und ihrer Vorräte während der Eroberungszüge im 7. Jahrhundert gefördert haben.
In einem Kommentar, der ebenfalls in „Nature Geoscience“ erscheint, schreibt der Historiker John Haldon von der Universität Princeton, an gesellschaftlichen Veränderungen seien immer viele Faktoren beteiligt, nicht zuletzt die Strukturen der Gesellschaften. Dennoch lasse sich der Einfluss von Klima- und Umweltveränderungen nicht leugnen. Die extreme Kältephase falle mit ähnlich dramatischen historischen Veränderungen zusammen. „Im Fall der Kleinen Eiszeit in der Späten Antike haben wir anscheinend einen ziemlich klaren Fall anzunehmen, dass eine dramatische Abkühlung, die ziemlich präzise datiert werden kann und mit substanziellen gesellschaftlichen Veränderungen auf einem großen Teil der Erdoberfläche zusammenfiel, einen ursächlichen Einfluss besaß.“
Wolfgang Behringer von der Universität des Saarlandes, der an der Studie nicht beteiligt ist, betont, die Kältephase am Übergang von Antika zum Mittelalter sei unter dem Namen „frühmittelalterliches Pessimum“ schon länger bekannt. Ihre Ausprägung werde aber durch die aktuelle Studie, die viel Neues enthalte, untermauert. „Damals ist Außerordentliches passiert“, sagt der Historiker. Eine Schwäche der Studie sei allerdings, dass die Autoren nicht darauf eingingen, dass zwei Großreiche bereits früher zusammengebrochen seien: das Römische Reich im 5. und die chinesische Han-Dynastie im 3. Jahrhundert. dpa
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