Viola van Melis
Zentrum für Wissenschaftskommunikation
Exzellenzcluster „Religion und Politik“
an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
13.04.2016 13:16
Historiker Lucian Hölscher über die Gedenkaktivitäten 2017 und eine neue Lesart der Reformation: gesamteuropäische Erneuerungsbewegung statt deutsch-provinziellen Charakters – Evangelische und katholische Reformer als Teil einer einzigen Reformation des Christentums – Auftakt der Vortragsreihe „Hans-Blumenberg-Gastprofessur“ am Exzellenzcluster
Zum Reformationsgedenken 2017 schlägt der erste „Hans-Blumenberg-Gastprofessor“ am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster, Historiker Prof. Dr. Lucian Hölscher, eine neue Lesart der Reformation vor. Staat und Kirchen sollten das Jubiläum „in Erinnerung an die gesamteuropäische Erneuerung des Glaubens vor 500 Jahren“ feiern, sagte er am Dienstagabend in Münster. Es sei an der Zeit, der Reformation den „deutsch-provinziellen Charakter“ zu nehmen. Der renommierte Bochumer Wissenschaftler warnte zugleich davor, „die historische Wahrheit zu verbiegen“. Falsche Legenden über die stärkere Nähe des Protestantismus zur modernen Gesellschaft sollten verworfen und theologische Gemeinsamkeiten über die konfessionellen Grenzen hinweg betont werden.
Der Historiker nannte es „skandalös“, wenn in Schriften der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur Reformation vor 500 Jahren eine „problematische protestantische Erinnerungskultur“ mit historischer Erkenntnis gleichgesetzt werde. „Subjektiv hat zwar jede Institution das Recht, sich zu Jahrestagen ihrer eigenen Ursprünge und Anfänge zu erinnern“. Doch es gehe zu weit, daraus allgemeine Aussagen über die moderne Gesellschaft, die Ursprünge der Demokratie und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung abzuleiten.
Als Beispiel für ein „schlechterdings falsches Geschichtsbild“ nannte Prof. Hölscher die Vorstellung, demokratische Herrschaftsformen hätten sich bevorzugt in protestantischen Ländern gebildet. Das gelte weder für Frankreich noch für Deutschland, wo auch der politische Katholizismus maßgeblich an der Durchsetzung der Demokratie beteiligt gewesen sei. Solche „Rückfälle in alte Denkmuster“ seien kaum mit dem Ziel der EKD vereinbar, die Reformationsfeiern weltoffener und auch im Zeichen der Ökumene zu feiern.
Auftakt zur neuen Gastprofessur – mit Tochter des Namensgebers
Der Vortrag „500 Jahre Reformation in Deutschland – Wie erinnern wir uns daran?“ war Auftakt einer öffentlichen Vortragsreihe der neuen „Hans-Blumenberg-Gastprofessur“ am Exzellenzcluster „Religion und Politik“. Die Gastprofessur, benannt nach dem einflussreichen Philosophen Hans Blumenberg (1920-1996), soll dazu beitragen, innovative Impulse aus der internationalen Forschung nach Münster zu bringen, und die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit am Exzellenzcluster stärken. Zum Auftakt war auch die Tochter des Namensgebers, Schriftstellerin Bettina Blumenberg, gekommen.
Prof. Hölscher führte aus, die Jubiläumsfeiern früherer Jahrhunderte hätten „im Dienste einer Politik der protestantischen Selbstbehauptung“ gestanden. Das sei heute nicht mehr vertretbar. Katholiken und Protestanten lebten in einer religiös pluralistischen Bevölkerung, in der mehr als ein Drittel gar keiner Religion mehr angehörten. „Auch das lädt zur neuen Lesart ein“, nach der die Erneuerungsimpulse protestantischer, aber auch katholischer Reformer im 16. Jahrhundert „als Varianten einer einzigen umfassenden Reformation des Christentums“ gelesen werden sollten. Schließlich seien die „großen Traditionsstränge des westlichen Christentums“, Katholizismus und Protestantismus, in der Reformation „nur zwei Seiten derselben Medaille“ gewesen.
Für die neue Lesart der Reformation spricht nach Auffassung des Historikers vor allem „die gemeinsame geistliche Wurzel der protestantischen und katholischen reformatorischen Erneuerungsbewegung in der sogenannten devotia moderna (neue Frömmigkeit), einer Neuausrichtung der Glaubenspraxis auf die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen im Spätmittelalter. Daraus seien beide Reformationszweige erwachsen: Martin Luthers (1483-1546) Frömmigkeit, aber auch die des spanischen Gründers des katholischen Jesuitenordens, Ignatius von Loyola (1491-1556). Generell herrsche unter Historikern heute Einigkeit, dass beide Konfessionen gleichermaßen zur Modernisierung der westeuropäischen Gesellschaften beigetragen hätten. „Sie versagten allerdings auch gleichermaßen vor elementaren Gefahren, etwa der des Antisemitismus oder der Unterstützung autoritärer Regierungen.“
„Wunden aus dem 16. Jahrhundert noch immer nicht geheilt“
Statt einen „deutsch-provinziellen“ Blickwinkel beizubehalten, sei es heute angebracht, die Reformation im Kontext des europäischen Humanismus und anderer zeitgenössischer Einflüsse, etwa der hermetischen und esoterischen Bewegung zu sehen, unterstrich der „Hans-Blumenberg-Gastprofessor“. „Es handelte sich um eine gesamteuropäische Erneuerungsbewegung, die sich über die christlichen Konfessionen hinaus bis in die humanistischen und säkularistischen Bewegungen der Zeit ergoss.“
Zum heutigen Verhältnis zwischen den christlichen Kirchen sagte der Wissenschaftler, es sei, „so friedlich es auch oft in der Öffentlichkeit erscheint, theologisch und psychologisch unbefriedigend.“ Unter Protestanten seien immer noch zahlreiche anti-katholische Vorurteile zu finden und umgekehrt. Die Wunden, die im 16. Jahrhundert geschlagen wurden, seien immer noch nicht geheilt. Doch gebe es heute „ermutigende Elemente“ einer gemeinsamen christlichen Theologie und überkonfessionellen Geschichtsschreibung. Sie seien ebenso die „Voraussetzung für den religiösen Frieden in unserem Land“ wie „Grundlage des säkularen Selbstverständnisses der modernen Gesellschaft“.
Münster als herausgehobener Standort für Religionsforschung
In der Vortragsreihe „Hans-Blumenberg-Gastprofessur“ folgen im April und Mai drei Vorträge von Lucian Hölscher zur Geschichte der protestantischen Frömmigkeitskultur. In den kommenden Semestern werden weitere renommierte Forscherinnen und Forscher aus wechselnden Disziplinen auf die Hans-Blumenberg-Gastprofessur berufen, etwa aus der Soziologie, der Ethnologie und Rechtswissenschaft. Die Mitglieder des Exzellenzclusters arbeiten kultur- und epochenübergreifend, historisch und gegenwartsbezogen sowie bekenntnisneutral und bekenntnisgebunden. Damit ist Münster zu einem in Größe und Vielfalt herausgehobenen Standort für interdisziplinäre Religionsforschung geworden.
Prof. Dr. Lucian Hölscher ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte und Theorie der Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) und seit 2008 Vorstandsmitglied des Käte-Hamburger-Kollegs „Dynamics of Religion Between Asia and Europe“ der Ruhr-Universität Bochum.
Neue Ringvorlesung „Religionspolitik heute“ ab 10. Mai
Die Vorträge der „Hans-Blumenberg-Gastprofessur“ sind dienstags von 18.15 bis 19.45 Uhr in Hörsaal F2 im Fürstenberghaus am Domplatz 20-22 in Münster zu hören – am Platz der öffentlichen Ringvorlesung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“. Der Start der Ringvorlesung verschiebt sich damit im Sommersemester auf den 10. Mai 2016. Sie trägt den Titel „Religionspolitik heute. Problemfelder und Perspektiven in Deutschland“. (ska/vvm)
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