aus nzz.ch, 27.4.2016, 05:30 Uhr
Paul Mason: Postkapitalismus
Nach dem Kapitalismus ist vor dem Kapitalismus
Die Linken feiern ihn bereits als neuen Marx: Paul Mason. Er hat ein imposantes neues Werk vorgelegt. Doch was taugt seine Diagnose der Gegenwart?
René Scheu
Paul Mason hat nach Thomas Piketty das Zeug, zum neuen Helden der Linken zu werden. Die Utopisten, Empörten und Extremisten unter den Sozialisten, die sich von den Zeitläuften unbeeindruckt weiterhin einer Theorie der revolutionären Praxis hingeben, finden in seinem neuen Opus tonnenweise Anregungen für ihre unerschütterlichen Lebensträume. Naomi Klein, eine ihrer Ikonen, hat sich bereits mit ihrem potenziellen Konkurrenten aus England solidarisiert, ebenso wie der Polit-Pop-Stalinist Slavoj Žižek. Niemand will zu spät kommen, wenn es darum geht, den neuen Anführer zu preisen. Den Vogel schoss aber zweifellos der in Cambridge lehrende David Runciman mit seinem Quote ab: «Paul Mason ist ein würdiger Nachfolger von Marx.»
Würde der grosse bärtige Gelehrte aus Trier im 21. Jahrhundert tatsächlich von den Toten auferstehen, er wäre höchst erstaunt über die gegenwärtige Lage und ihre Beschreibung. Marxens Name ist zwar wieder populärer als auch schon, als mit ihm bloss die Greuel kommunistischer Schreckensherrschaft assoziiert wurden. Bis weit in linke Kreise hinein gilt er jedoch weiterhin als rotes Tuch, und dies, obwohl sich die Politik – je nach Strenge der Lesart – einen Gutteil seiner zehn im «Kommunistischen Manifest» erhobenen Forderungen längst zu eigen gemacht hat. Die Punkte lesen sich aus heutiger Sicht wie das Programm einer sozialdemokratischen Partei, deren Positionen auch im softbürgerlichen Lager zustimmungsfähig sind, von der «starken Progressivsteuer» über die «Zentralisation des Kredits in den Händen des Staates durch eine Nationalbank» über Industriepolitik und faktische Verstaatlichung des Bauernstandes bis hin zur «öffentlichen und unentgeltlichen Erziehung aller Kinder». Über einen Punkt dürfte der auferstandene Marx allerdings wirklich ins Grübeln kommen: Wie um Himmels Willen kommen die Zeitgenossen darauf, ihre Ordnung als Turbo- oder Raubtierkapitalismus zu bezeichne
Der unscheinbare Dritte
Mason,
der neue Marx, schreibt zwar überaus gelehrt und unterhaltsam. Doch
unterwirft er sich dem ebenso geschichts- wie faktenfremden Sprachspiel
der Gegenwart, das Marx kaum verstanden hätte. Der linke Aktivist aus
der Working Class stimmt in den modischen Singsang ein, wonach wir seit
zwei Jahrzehnten in einer Phase der totalen Deregulierung und
Privatisierung lebten, und macht einen gespenstischen Neoliberalismus
verantwortlich für alles, was schiefläuft in der Welt: für
wirtschaftliche Stagnation, Schuldenwirtschaft, Krieg, Verwüstung und
politische Radikalisierung.
Wenn
heute jemand den Staat als wichtigsten Akteur der Wirtschaft übersieht,
gibt es dafür mindestens zwei plausible Gründe. Er erkennt ihn nicht
mehr, weil er sich längst an seinen Anblick gewöhnt hat – vom Staat zu
abstrahieren, erfordert mehr Phantasie, als im Zeitalter des Etatismus
erwartet werden darf. Oder er hat eine politische Agenda – aus viel
Staat soll noch mehr Staat werden. Im Falle von Masons neuem Buch
schwingen zweifellos beide Nuancen mit. Verweilen wir deshalb kurz beim
Status quo und halten uns an jenes Land, das gemäss vorherrschendem
Narrativ besonders marktwirtschaftlich organisiert sein soll: die
Schweiz.
Der unscheinbare
Dritte ist in der Schweiz höchst mächtig und aktiv, als Preissetzer,
Eigentümer, Arbeitgeber und Steuereintreiber. Dies zeigt eine jüngere,
zurückhaltend kalkulierende Studie des Wirtschaftsdachverbands
Economiesuisse plausibel auf («Staat und Wettbewerb»).
Mehr als die Hälfte der Preise für Güter und Dienstleistungen ist
staatlich administriert, vor allem in den betont staatsnahen Branchen:
Landwirtschaft, Verkehr, Bildung, Gesundheits- und Sozialwesen,
Rundfunk, Post, Energie- und Wasserversorgung, Finanzbranche; über ein
Fünftel aller Vermögenswerte in der Grössenordnung von 500 Milliarden
Franken gehört dem Staat; ein Drittel aller Beschäftigten arbeitet
direkt beim Staat oder in einem staatlich geprägten Betrieb; die
erweiterte Fiskalquote (inklusive aller Zwangsabgaben an die berufliche
Vorsorge und die Krankenversicherung) beträgt in der Schweiz rund 43
Prozent. Diese letzte Zahl, die gerne auf alle möglichen Arten
relativiert wird, ist zugleich die aussagekräftigste: Sie bedeutet, dass
selbst in der Schweiz der einzelne produktive Bürger nur mehr über rund
die Hälfte seines Wirtschaftserfolgs selbst verfügt. Ist das die
vielgescholtene freie Marktwirtschaft, worin der Einzelne Herr über
seine wohlverdiente Kaufkraft ist?
Eigentum
aber bedeutet nicht nur juristische Verfügungsmacht, wie sie in der
Verfassung steht, sondern faktische. Ludwig von Mises nannte darum
Mischsysteme wie das real existierende völlig unaufgeregt
«halbsozialistisch»: Nicht der Bürger selbst, sondern gewählte und nicht
gewählte andere entscheiden über die Verwendung der Hälfte seines
Eigentums. Peter Sloterdijk
hat diesen Tatbestand in eine ebenso eingängige wie präzise Formel
gegossen, die es verdient, immer wieder ausführlich zitiert zu werden:
«Wir leben gegenwärtig ja keineswegs ‹im Kapitalismus› – wie eine so
gedankenlose wie hysterische Rhetorik neuerdings wieder suggeriert –,
sondern in einer Ordnung der Dinge, die man cum grano salis als einen
massenmedial animierten, steuerstaatlich zugreifenden Semi-Sozialismus
auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage definieren muss.»
Die
Sozialisierung der Wirtschaft, die Mason fordert, schreitet seit
Jahrzehnten voran, oder besser: Sie hat seit siebzig Jahren nie
aufgehört. Die liberalen Klassiker des 20. Jahrhunderts – von Mises über
Röpke bis zu Hayek – haben die Parallelen zwischen dem
planwirtschaftlichen Kommandostaat unter Kriegsbedingungen und dem
modernen zentralverwaltungswirtschaftlich organisierten Sozial- und
Interventionsstaat beschrieben. So viel lässt sich mit Blick auf Europa
zweifelsfrei festhalten: Ein Etatismus mit Fiskalquoten um 50 Prozent in
Friedenszeiten, wie sie spätestens seit den 1990er Jahren weitherum
herrschen, ist in der Geschichte der Menschheit ein echtes Novum. Er
garantiert eine nicht minder einzigartige kollektive Rundumversorgung
von dem Moment an, in dem man das Licht der Welt erblickt, bis zum Tod.
Statt von echten Eigentümern ist er – mit Mises gesprochen – von
«bevorrechteten Genossen» bevölkert. Wer wie, wann und wie viel
profitiert, lässt sich angesichts der Komplexität der innerstaatlichen
Geldflüsse kaum eruieren. Klar ist indes, dass selbst die
Privilegiertesten glauben, zu kurz gekommen zu sein – die Erregbarkeit
im demokratischen Semi-Sozialismus hat nicht erst jüngst zugenommen.
Diese Erregbarkeit ist es, die sich Paul Mason mit seiner Programmatik
zunutze machen will. Und er tut dies sehr geschickt.
«Postkapitalismus»
– den Ausdruck übernimmt Mason von Peter Drucker – ist ein
interessantes Buch, trotz seiner Marx-Hörigkeit. Denn ja, der heutige
westliche Staat – dauerüberschuldet, überfordert, handlungsunfähig –
steckt in einer Krise. Mit ein paar politischen Retuschen dürfte es in
der Tat nicht getan sein. Und ja, die Digitalisierung krempelt nicht nur
die staatlichen Institutionen, sondern auch die Geschäftsmodelle der
Unternehmen und das Geldwesen radikal um.
Befreiung der Menschen
Mason
bietet viel Zahlenmaterial und Theorie auf (darunter eine eigens
verfeinerte Version der Kondratieff-Zyklen), aber letztlich ist seine
Erzählung nach einem durchschaubaren Muster gestrickt. Die
Informationstechnologie hat die Produktivkräfte entfesselt: Information –
oder, allgemeiner, anwendbares Wissen – ist im Überfluss vorhanden,
wächst exponentiell, prägt zunehmend die Herstellung von Gütern und
Dienstleistungen, ist beliebig verfüg- und kopierbar, ihre Grenzkosten
tendieren gegen null. Das paradiesische Reich der Freiheit, das Mason
imaginiert, ist Marxens Phantasie im «Maschinenfragment» der
«Grundrisse» nachempfunden: Maschinen werden dereinst die Arbeit der
Menschen erledigen, wobei Letztere sich kreativ engagieren können, um
den «general intellect» voranzubringen, bis irgendwann auch die
Maschinen ihre Programme selber schreiben. Der Hauptwiderspruch des
herrschenden Systems, in dem sich diese Entwicklung bereits abzeichnet,
ist jener zwischen «der Möglichkeit eines unerschöpflichen Angebots an
kostenlosen Gütern und einem System von Monopolen, Banken und Staaten,
die alles tun, damit diese Güter knapp, kommerziell nutzbar und im
Privatbesitz bleiben».
Das
neue Proletariat in Masons Marx-Erzählung ist die vernetzte Menschheit
von Occupy und Indignados, also junge gebildete individualistische und
konsumorientierte Opportunisten. Sie sollen sich zusammenrotten, um als
Konsum- und Meinungsmacht die Monopole zu brechen – nach Mason wird der
Tag kommen, an dem die neuen Vertreter der Gratis-Kultur nicht mehr
bereit sind, für Dienstleistungen zu bezahlen, deren Grenzkosten gegen
null tendieren. Willkommen in der Gratis-Welt des grossen Glücks der
befreiten Menschheit.
Theorie ist gleich Praxis
Selbstverständlich
ist für diese vernetzten gebildeten Potenzialrevoluzzer Mason-Lektüre
Pflicht, denn nur so erhalten sie Einblick in den dialektischen Gang der
Dinge. Wer die historischen Gesetzmässigkeiten begreift, ist zugleich
aufgerufen zu handeln – nämlich alle möglichen Verstaatlichungen zu
unterstützen, Patente und Eigentumsrechte auszuhebeln, wo es nur geht,
und zugleich die Kultur der freiwilligen solidarischen Netzwerkarbeit zu
leben. Mason beruft sich auf die Online-Enzyklopädie Wikipedia und die
Sharing-Economy als Vorboten einer neuen Kultur des Gemeineigentums, wo
allen alles gehört und alle im Überfluss leben. Dabei übersieht er
freilich, dass Wikipedia ein ziemlich autoritäres System darstellt, in
dem bloss einige tausend Akteure weltweit sich aktiv beteiligen, um,
ganz homines oeconomici, ihr Eigeninteresse auf der Ebene der
Deutungshoheit durchzusetzen. Und die Sharing-Economy ist bis auf
weiteres das genaue Gegenteil einer Kooperation auf der Basis reiner
Uneigennützigkeit: Wer sein ungenutztes Zimmer oder Auto vermietet,
aktiviert erst sein brachliegendes Eigentum, agiert also wie ein guter
alter Kapitalist. Doch sollten wir die geplante Revolution nicht
demnächst durchziehen, droht der Welt gemäss Mason das
Schreckensszenario einer neuen Massenverarmung – verschwenderischer
Ressourcenverbrauch führt zu Global Warming und Migration, die Alterung
westlicher Gesellschaften zum Kollaps der überschuldeten Staaten und
beides zusammen zu nicht mehr kontrollierbaren sozialen Verwerfungen.
Die Zeit drängt, und es gibt keine Alternative. Nur die Smart Economy
und das nachhaltige Leben im Paradies des Überflusses können uns retten.
Bei
Mason geht's wie bei Marx um das grosse Ganze. Trotz Sozialromantik,
Erkenntnis-Hybris, Herrschaftsphantasie und Missions-Eifer: Mason legt
ein Buch vor, das die mannigfachen Verflechtungen von Big Business und
Big Government immerhin problematisiert. Wer das Wort «Neoliberalismus»
durch «Semi-Sozialismus» ersetzt, darf auf einigen Erkenntnisgewinn
hoffen. Denn die Frage bleibt virulent: Wie finden wir den Weg aus dem
gegenwärtigen etatistischen Schlamassel?
Paul Mason:
Postkapitalismus – Grundrisse einer kommenden Ökonomie. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Suhrkamp, Berlin 2016. 430 S., Fr. 36.90
Nota. - Die Rezension ist rein ideologisch motiviert, sie huldigt, wie im Wirtschaftsteil der NZZ nicht anders zu erwarten, dem Fetische Eigentum. Aber für diesmal macht das nichts: Das rezensierte Buch ist offenbar ebenso ideologisch. Es hat eine apriorische Tendenz, und dafür werden links und rechts 'Beispiele' gesucht. Der Vergleich mit Marx wäre skandalös, wenn er nicht so lächerlich wäre. Der hatte eine Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft verfasst, aus der er deren Entwicklungsrichtung hochgerechnet hat - so gut das eben möglich war. Eine 'Tendenz' hatte natürlich auch der - aber nicht als Wissenschaftler, denn ein solcher war Marx; ist aber Mason offenbar nicht, sondern ein "streibarer Journalist".
Als Wissenschaftler war Marxens abschließendes Wort über die kapitalistische Wirtschaftsweise die Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate. Sie ist angesichts der eben erst beginnenden Digitalen Revolution der springende Punkt jeder Analyse. Wenn sie bei Mason überhaupt vorkommt, dann anscheinend nur en passant, sonst hätte selbst der Eigentumsfetischist René Scheu sie nicht übersehen können.
Ein "interessantes Buch"? Tödlicher kann man eine Rezension nicht zusammenfassen. Ich fürchte, es ist nicht einmal das. Wenn der Rezensent nicht alles missverstanden hat, läuft es nur darauf hinaus, dass die fürsorgliche Verstaatlichung der Welt durch wuchernde Bürokratie - Milton Friedmanns "unsichtbarer Fuß" - auf guten Wegen ist und der Kapitalismus sich selbst überwindet, wenn man die Sozialdemokratie - egal unter welchem Namen - überall da an die Schalthebel lässt, wo sie es noch nicht ist.
Und das soll ein "würdiger Nachfolger von Marx" sein?
JE
Postkapitalismus – Grundrisse einer kommenden Ökonomie. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Suhrkamp, Berlin 2016. 430 S., Fr. 36.90
Nota. - Die Rezension ist rein ideologisch motiviert, sie huldigt, wie im Wirtschaftsteil der NZZ nicht anders zu erwarten, dem Fetische Eigentum. Aber für diesmal macht das nichts: Das rezensierte Buch ist offenbar ebenso ideologisch. Es hat eine apriorische Tendenz, und dafür werden links und rechts 'Beispiele' gesucht. Der Vergleich mit Marx wäre skandalös, wenn er nicht so lächerlich wäre. Der hatte eine Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft verfasst, aus der er deren Entwicklungsrichtung hochgerechnet hat - so gut das eben möglich war. Eine 'Tendenz' hatte natürlich auch der - aber nicht als Wissenschaftler, denn ein solcher war Marx; ist aber Mason offenbar nicht, sondern ein "streibarer Journalist".
Als Wissenschaftler war Marxens abschließendes Wort über die kapitalistische Wirtschaftsweise die Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate. Sie ist angesichts der eben erst beginnenden Digitalen Revolution der springende Punkt jeder Analyse. Wenn sie bei Mason überhaupt vorkommt, dann anscheinend nur en passant, sonst hätte selbst der Eigentumsfetischist René Scheu sie nicht übersehen können.
Ein "interessantes Buch"? Tödlicher kann man eine Rezension nicht zusammenfassen. Ich fürchte, es ist nicht einmal das. Wenn der Rezensent nicht alles missverstanden hat, läuft es nur darauf hinaus, dass die fürsorgliche Verstaatlichung der Welt durch wuchernde Bürokratie - Milton Friedmanns "unsichtbarer Fuß" - auf guten Wegen ist und der Kapitalismus sich selbst überwindet, wenn man die Sozialdemokratie - egal unter welchem Namen - überall da an die Schalthebel lässt, wo sie es noch nicht ist.
Und das soll ein "würdiger Nachfolger von Marx" sein?
JE
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