Freitag, 28. Oktober 2016

Putins Plan.

aus nzz.ch, 25.10.2016, 07:08 Uhr

Was will Putin? 
Bomben in Syrien, Panzer in der Ukraine, Konfrontation mit dem Westen: Wladimir Putin ist die Schlüsselfigur in der internationalen Politik. Er will Russland wieder zur Supermacht aufsteigen lassen. Sein Plan in sechs Punkten. 

von Lucienne Vaudan und Anja Burri 

Syrien: Der verlässliche Verbündete der Araber werden

Die Lage: Die engen Beziehungen zwischen Russland und Syrien reichen in die Sowjetzeit zurück. Die Russen sicherten sich so direkten Zugang zum Mittelmeer, die Syrer profitierten von Militäraufbauhilfe. Seit dem Ausbruch des syrischen Krieges tritt Russland als Schutzmacht des Asad-Regimes auf. 

Mit seinem Veto verhindert Moskau regelmässig Massnahmen der Uno gegen den syrischen Machthaber. Und es unterstützt Bashar al-Asad militärisch, zuerst mit Waffenlieferungen, seit gut einem Jahr mit geschätzten 13 000 Luftangriffen.

Die russische Armee verfügt in Syrien über Militärstützpunkte bei Tartus und Latakia, zwei Städten an der syrischen Mittelmeerküste; Beobachter vermuten weitere Stationen.



Der Plan: Die Militärintervention in Syrien ist die erste überhaupt, die die russische Föderation ausserhalb der Grenzen der ehemaligen Sowjetunion unternimmt.

Dass die Position des syrischen Machthabers Bashar al-Asad seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 gefährdet ist, beunruhige Russland stark, sagt Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen: «Wladimir Putin fürchtet sich generell vor Regimewechseln in autoritär geführten Staaten, denn sie könnten die bestehende Ordnung gefährden.»

Russland habe bereits die Revolutionen 2003 in Georgien, 2004 in der Ukraine und 2005 in Kirgistan mit grosser Nervosität beobachtet und in Georgien und der Ukraine auch militärisch eingegriffen. Gemäss Schmid soll die russische Infrastruktur in Tartus und Latakia signalisieren: «Das ist jetzt unser Stützpunkt, wir bleiben hier.»

Zu dieser Symbolpolitik passe auch das grosse Siegeskonzert nach der Befreiung Palmyras, an dem Putin ein russisches Orchester vor den Ruinen der Wüstenstadt auftreten liess. Den Nutzen, den Putin aus dem Einsatz in Syrien ziehe, überwiege die Kosten, sagt Schmid. Putin wolle sich im östlichen Mittelmeer einen permanenten Militärstützpunkt sichern und sich zudem im gesamten arabischen Raum als zuverlässiger Partner empfehlen.

Der Militäreinsatz in Syrien zeige auch, dass Russland über Menschenrechtsverletzungen grosszügig hinwegsehe und den Regimen nicht ständig mit erhobenem Zeigefinger begegne. «Das kommt bei Staaten wie Ägypten gut an», sagt Schmid. Da die sunnitischen Golfstaaten traditionell Beziehungen zu den USA pflegen, müsse Russland zum wichtigsten Verbündeten der Schiiten werden. Das bedeute, mit Iran zu kooperieren.

Vor der Aufhebung der westlichen Sanktionen habe die schiitische Macht keine andere Wahl gehabt, als sich an die Seite von Russland zu stellen. «Im Moment driftet das Land aber von Putin weg», sagt Schmid. Iran verfolge eine Politik, die alle Optionen offenlasse. Das führe zu einer Konkurrenzsituation zwischen dem Westen und Russland in Iran.
Russische Kampfflugzeuge über Latakia.  Russische Kampfflugzeuge über Latakia. 
Ukraine: Die Nachbarn von der EU fernhalten 

Die Lage: Am Anfang des Konflikts in der Ukraine ging es um die Annäherung des osteuropäischen Landes an die EU. Die ukrainische Regierung stoppte 2013 unter starkem Druck aus dem Kreml ein Abkommen mit der EU. Es folgten monatelange Massenproteste, bis im Anfang 2014 der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch gestürzt wurde. Wenige Tage später liess Putin die zur Ukraine gehörende Halbinsel Krim annektieren.

Im April 2014 erreichte die Krise schliesslich die Ostukraine: Es folgte ein Krieg zwischen den von Russland unterstützten Separatisten und der ukrainischen Armee. Am 17. Juli 2014 schossen prorussische Separatisten das Passagierflugzeug MH17 der Malaysian Airlines mit 300 Passagieren ab. Russland streitet bis heute jede Verantwortung ab.

Die Friedensverhandlungen verlaufen zäh. Der im September 2014 erstmals ausgerufene Waffenstillstand wird permanent gebrochen. Diese Woche einigten sich die Kriegsparteien in Berlin auf eine Stärkung der OSZE-Mission in der Ostukraine. 

Der Plan: Russland habe bereits alles, was in seiner Macht stehe, unternommen, um eine Integration der Ukraine in die EU und die Nato zu verhindern – «durchaus mit Erfolg», urteilt Russlandexperte Ulrich Schmid. Präsident Putin wolle das Land nicht an den Westen verlieren, stattdessen habe er einen anderen Weg vorgesehen: Die Ukraine soll wirtschaftlich und politisch näher an Russland rücken – nämlich als Mitglied der eurasischen Wirtschaftsunion.

Zwar hat die Ukraine bis heute nicht den Kriegszustand ausgerufen und spricht lediglich von «terroristischen Aktivitäten» in der Ostukraine, die man bekämpfen müsse. Aber die Regierung habe die besetzten Gebiete im Osten nicht unter Kontrolle, sagt Schmid: «So sind weder ein Nato- noch ein EU-Beitritt in den nächsten 20 Jahren realistisch.»

Putin sei an einer Lösung des Konflikts gar nicht interessiert. Der Status quo diene seinen Interessen am besten. Die Situation sei ähnlich wie im Jahr 2008 in Georgien, das zwei Teilrepubliken verlor, die heute de facto ein russisches Militärprotektorat darstellen. Laut Schmid bereiten diese beiden Fälle den drei baltischen Nato-Mitgliedern Bauchschmerzen. Estland, Lettland und Litauen sähen es am liebsten, wenn das Militärbündnis permanente Truppen stationieren würde.

Die Nato zaudere jedoch, weil sie Russland in der angespannten Lage nicht zusätzlich provozieren wolle, erklärt Schmid. Als Signal setzt die Nato aber 4000 Soldaten im Baltikum und in Polen ab 2017 auf Rotationsbasis ein.

Abgeschossene MH17 in der Ukraine. (Bild: Maxim Zmeyev / Reuters) Abgeschossene MH17 in der Ukraine. 


USA: Die Macht der USA schwächen 

Die Lage: US-Präsident Barack Obama trat vor acht Jahren mit dem Vorsatz an, die abgekühlten russisch-amerikanischen Beziehungen neu zu beleben. Seit Putin 2012 ins Präsidentenamt zurückgekehrt ist, dominieren allerdings Beleidigungen und Belehrungen.

Im September 2013 stellte Putin Obama in einem Meinungsartikel in der «New York Times» als überheblichen Kriegstreiber dar. Zuvor hatte Obama ein Treffen mit Putin platzen lassen – als Retourkutsche für dessen Weigerung, den US-Whistleblower Edward Snowden auszuliefern. Je mehr sich die Krisen in Syrien und der Ukraine verschärften, desto angespannter wurde das Verhältnis der beiden Männer. Bei einem Gipfel zur Atomsicherheit in Den Haag im März 2014 degradierte Obama Russland zu einer «Regionalmacht».

Die neusten Vorwürfe aus den USA betreffen den Präsidentschaftswahlkampf. Hillary Clinton verdächtigt Russland, das E-Mail-Konto ihres Wahlkampfchefs gehackt und die Daten der Enthüllungsplattform Wikileaks zur Verfügung gestellt zu haben. US-Vizepräsident Joe Biden deutete an, die USA erwögen, sich mit einer Cyber-Attacke auf Russland zu revanchieren. 

Der Plan: Obama mache kein Hehl aus seiner Geringschätzung für den russischen Staatschef, Putin habe ihm die Kränkungen nie verziehen, erklärt Experte Schmid. Die Beziehungen zwischen den USA und Russland seien an einem Tiefpunkt angelangt, der Zustand erinnere zuweilen an den Kalten Krieg: «Es gibt aber einen Unterschied zwischen Rhetorik und Realität.»

Der Westen unterstelle Putin gerne, er wolle die Sowjetunion wiederaufleben lassen. Eine ideologische Systemkonkurrenz gebe es jedoch nicht mehr, stellt Schmid fest: «Schon Ende 1999 sagte Putin, der Kommunismus sei eine Sackgasse.» Gleichzeitig versuche Russland seit zehn Jahren, die USA als einzig verbliebene Supermacht herauszufordern und eine multipolare Weltordnung mit mehreren Machtzentren zu installieren.

In dieser Ordnung sollen neben Russland und den USA auch Japan, China, Südamerika und Europa eine Rolle spielen. Offiziell gibt sich der Kreml in Hinblick auf die Präsidentschaftswahl in den USA neutral. «Es liegt aber auf der Hand, dass ihm ein Präsident Trump lieber wäre», sagt Schmid. Clinton, die unter Obama bereits Aussenministerin war, würde vermutlich kaum grösseres Verständnis für Putin aufbringen.

Europa: Den Europäern auch in Zukunft Erdöl verkaufen

Die Lage: Die Beziehungen zwischen der EU und Russland sind durch die Kriege in der Ukraine und in Syrien getrübt. Als Reaktion auf Russlands Rolle in der Ukraine hat die EU Wirtschaftssanktionen und einen Verhandlungsstopp für ein neues Partnerschaftsabkommen beschlossen. Die Sanktionen wurden kürzlich verlängert. Die EU ist dennoch Russlands wichtigste Handelspartnerin.


Überraschender Besuch: Russlands Präsident Wladimir Putin reiste diesen Donnerstag zum Ukraine-Gipfel nach Deutschland. (Berlin, 20. Oktober 2016) (Bild: AXEL SCHMIDT / REUTERS) Russlands Präsident Wladimir Putin reiste diesen Donnerstag zum Ukraine-Gipfel nach Deutschland. 

Der Plan: Obwohl Russland die Sanktionen deutlich spüre, versuche Moskau die Europäische Union als Staatenverbund zu ignorieren, erklärt Russlandexperte Schmid. Mit EU-Vertretern treffe sich Putin nur in Ausnahmefällen. Der Kreml verfolge eine andere Strategie: Er verhandle nicht mit der EU als Ganzes, sondern picke sich russlandfreundliche Mitgliedstaaten heraus, wie etwa die Slowakei, Ungarn, Griechenland oder auch Österreich.

«Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat ein kritisches Verhältnis zu Putin, lässt den Dialog aber nicht abbrechen», sagt Schmid. So kam diese Woche in Berlin ein Ukraine-Gipfel zustande, bei dem Putin unter Vermittlung Merkels und des französischen Präsidenten Hollande mit dem ukrainischen Präsidenten sprach.

Was die Bekenntnisse zu einem Friedensplan wert sind, wird sich zeigen. Die Gaspipelines zwischen Russland und Europa betrachtet Schmid als Konstante in der sonst angespannten Beziehung. Wie wichtig diese Handelsbeziehung für beide sei, sehe man auch daran, dass der Energiesektor nicht von Sanktionen betroffen sei.

Russland könne nicht so einfach neue Abnehmer für seine Öl- und Gaslieferungen finden, und umgekehrt sei auch Europa auf die Versorgung angewiesen. Viele europäische Staaten denken zwar über Alternativen nach, aber diese Pläne sind laut Schmid nicht ausgereift.


Putin mit dem Griechen Tsipras. (Bild: Orestis Panagioutou / EPA) Putin mit dem Griechen Tsipras

 Asien: Ein Gegenprojekt zur EU aufbauen

Die Lage: Putins Prestigeprojekt ist die Eurasische Wirtschaftsunion, die im vergangenen Jahr gegründet wurde. Sie soll, ähnlich der EU, einen Binnenmarkt ermöglichen. Gründungsmitglieder sind Kasachstan und Weissrussland, auch Armenien und Kirgistan gehören dazu. Tadschikistan und Syrien haben Interesse an einem Beitritt bekundet.

Putin möchte die Eurasische Wirtschaftsunion politisch vertiefen, um die russische Vormachtstellung im postsowjetischen Raum wiederauferstehen zu lassen. 

Der Plan: Die Pläne für eine politische Integration der Eurasischen Wirtschaftsunion haben nach der Annexion der Krim an Schwung verloren. Kasachstan habe kalte Füsse bekommen, denn ein Viertel der kasachischen Bürger seien ethnische Russen, erklärt Ulrich Schmid: «Putin hat gezeigt, dass er mit der Begründung, die russische Bevölkerung im Ausland zu schützen, handstreichartig fremde Territorien einnehmen kann.»

Auch in anderen Mitgliedstaaten sei die Angst vorhanden, von Russland dominiert zu werden. Ein berühmter Ausspruch von Zar Alexander III. lautete, Russland kenne nur zwei Verbündete: die Flotte und die Armee. «Daran hat sich bis heute im Wesentlichen nichts geändert », sagt Schmid.

Russland gehe höchstens opportunistische Bündnisse ein, wie etwa mit der Türkei, einem wichtigen Verhandlungspartner im Syrien-Krieg. Oder China, mit dem es wirtschaftliche Interessen teile: «Im Moment ist die russisch-chinesische Beziehung ein Zweckbündnis, in dem der Nutzen die Kosten übersteigt», so Schmid. Aber sobald sich die Rechnung ändere, werde Russland auch dieses Engagement überdenken.

Wirtschaft und Innenpolitik: Mit Säbelrasseln von Problemen ablenken

Die Lage: Die russische Wirtschaft kämpft mit strukturellen Problemen: Die verarbeitende Industrie ist kaum konkurrenzfähig, auch wegen der Korruption. Die Finanzkrise 2008 traf Russland stark. Die anschliessende Erholung verdankte die Wirtschaft vor allem den höheren Staatsausgaben.

Auch der Verfall des Ölpreises macht dem Land zu schaffen: Etwa die Hälfte der Staatseinnahmen stammen aus Steuern des Öl- und Erdgassektors. Hinzu kommen die westlichen Sanktionen. Gemäss Internationalem Währungsfonds schrumpfte die russische Wirtschaft 2015 um rund fünf Prozent.

Das alles schwächt die Kaufkraft der Russen, wie der «Big-Mac-Index» des Wirtschaftsmagazins «The Economist» zeigt. Für einen Big Mac in den USA müssen 4 Dollar 93 gezahlt werden. In Russland kostet er nur 1 Dollar 53. 

Der Plan: Russland könne die wirtschaftliche Durststrecke dank der vorausschauenden Finanzpolitik in den Jahren 2000 bis 2008 überbrücken, sagt Experte Schmid: «Damals hatte Russland Reservefonds eingerichtet. Diese schmelzen nun aber dahin wie ein Schneemann in der Sonne.»

Dafür verantwortlich sei auch eine Fehleinschätzung: Zwar hatte der Kreml für die Krim-Annexion einige Sanktionen gegen hochrangige Vertreter der Regierung einkalkuliert. Doch der Abschuss der MH17 sei ebenso unvorhersehbar gewesen wie die anschliessende Reaktion der EU, einheitliche Wirtschaftssanktionen einzuführen.

«Die russischen Medien spotten über den fehlenden Mozzarella in den Supermärkten», sagt Schmid. Aber abgesehen davon, dass Reisen in den Westen um 30 Prozent teurer wurden, mangele es den Russen im Alltag letztlich an nichts, erklärt der Experte: «Putins Zauberwort heisst Importsubstitution, die einheimische Wirtschaft soll nun jene Güter bereitstellen, die nicht mehr importiert werden.»

Innenpolitisch scheint Putin keine Konkurrenz fürchten zu müssen. Seine Partei «Geeintes Russland» hat sich in den Parlamentswahlen über drei Viertel der Mandate gesichert. «Das russische Machtsystem ist stark personalisiert, Loyalität ist ausschlaggebend», erklärt Schmid Putins Führungsstil. So habe der Präsident drei seiner Leibwächter zu Gouverneuren ernannt. Gleichzeitig sei es ihm wichtig, die Fassade einer Demokratie zu bewahren.

Der Kreml schaffe es, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf anderes zu lenken. In den Nachrichten der letzten Wochen drehe sich vieles um die Armee: Die Entsendung russischer Kriegsschiffe ins Mittelmeer, die Teilnahme von 5000 russischen Fallschirmjägern an Übungen in Ägypten sowie die grösste Zivilschutzübung der russischen Geschichte, bei der die Rettung von 40 Millionen Menschen geprobt wurde.

Kürzlich liess das Verteidigungsministerium verbreiten, Russland wolle seine Militärbasen auf Kuba und Vietnam reaktivieren. Schmid erklärt: «Die Russen hören aus den Medien oft, Amerika wolle nicht, dass sich Russland ‹von den Knien erhebe›. Die militärische Aufrüstung soll die Leute glauben lassen, dass das keine leeren Worte sind, sondern eine ernsthafte Bedrohung – und dass Russland gewappnet ist.»


Ulrich Schmid, 51, ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. Seit 2011 koordiniert er zudem ein internationales Forschungsprojekt zum Regionalismus in der Ukraine und schreibt regelmässig für die NZZ. Schmid hat Germanistik, Slawistik und Politische Wissenschaften in Zürich, Heidelberg und Leningrad studiert.

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