Friedrich Adler
aus Der Standard, Wien, 21.Oktober 2016, 07:00
Ein Fall von Exzess des Mathematischen
Vor
hundert Jahren erschoss Friedrich Adler, Physiker, Politiker und
Einsteins Doppelgänger, den Ministerpräsidenten Graf Stürgkh
Wien
– Friedrich Adler und Albert Einstein wurden 1879 geboren. Sie zogen
beide nach Zürich, um dort zu studieren, und erwarben im selben Jahr ihr
Diplom fürs Lehramt in Physik
und Mathematik. Sie wurden beide durch die Schriften Ernst Machs
geprägt. Sie hatten denselben Doktorvater. Sie heirateten im selben
Jahr, jeweils eine Studentin aus Osteuropa. Ihre Kinder spielten
miteinander, denn die Adlers und die Einsteins wohnten im selben Haus
und besuchten einander oft. "Unsere Entwicklung war ziemlich parallel",
schrieb Friedrich Adler seinem Vater. "Sie haben eine ähnliche
Bohémien-Wirtschaft wie wir ... Wir sind in Fragen einer Meinung, deren
Stellung die Überzahl der anderen Physiker überhaupt nicht begreift."
Um 1910 kamen beide Wissenschafter für eine außerordentliche Professur in Zürich infrage. Wie Einstein später Reportern erzählte: "Der junge Privatdozent Adler, für den die Erlangung dieses Lehrstuhls eine berufliche Existenzfrage bedeutete, wies aus eigenem Antrieb darauf hin, dass wenn die wissenschaftliche Befähigung allein in Frage käme, einer seiner Mitbewerber bei weitem den Vorzug verdiene." Was Einstein nicht erwähnte: der Mitbewerber war er selbst!
Abkehr von der Physik
Friedrich Adler gab also den Weg frei für Einstein, hängte die Physik an den Nagel und kehrte zurück in seine Heimatstadt Wien. Sein Vater war Viktor Adler, der Gründer der Sozialdemokratischen Partei. Viktor Adler hatte stets gefürchtet, dass es seinen Sohn in die Politik ziehen würde. Darum hatte er ihn zum Physik-Studium nach Zürich geschickt. Aber jetzt, 1911, war Friedrich Adler wieder da und wurde prompt Sekretär der Sozialdemokratischen Partei.
Doch warum wollte Viktor Adler vermeiden, dass sein Sohn in die Politik ging? Weil er dessen Fanatismus fürchtete, den er als "Exzess des Mathematischen" kennzeichnete. Auch Friedrichs Kollegen nannten ihn bald "den Logiker", weil er mit beinharter Konsequenz seinen Überzeugungen folgte.
Und diese gnadenlose Unbeugsamkeit führte dazu, dass Friedrich Adler im Oktober 1916 – der Weltkrieg war über zwei Jahre alt – den k. k. Ministerpräsidenten Graf Stürgkh erschoss, den er für die Zensur und die Aufhebung des parlamentarischen Systems verantwortlich machte.
Die Tat geschah im Meißl und Schadn am Neuen Markt, bekannt wegen der adeligen Klientel und des hervorragenden Rindfleisches. Hier speiste der Graf täglich zu Mittag.
Am 21. Oktober zog sich Friedrich Adler besonders sorgfältig an, teilte seiner Mutter telefonisch mit, dass er nicht zu Hause essen würde, und nahm im Meißl und Schadn ein dreigängiges Menü zu sich, um sich zu beruhigen. Nach dem Kaffee trat er an den Tisch des Ministerpräsidenten und jagte ihm mehrere Pistolenkugeln in den Kopf. Dann ließ er sich festnehmen.
Gnadengesuch Einsteins für Adler
Einstein – inzwischen der führende Physiker seiner Zeit – war in Berlin, als er von der Tat seines Freundes und Doppelgängers erfuhr. Sofort setzte er sich für Friedrich Adler ein. In Einsteins Nachlass findet sich ein Gnadengesuch: "Majestät! Unter dem Druck einer unabweisbaren Pflicht erlaube ich mir ein Gesuch an Ihre Majestät zu richten ... Ich ersuche Ihre Majestät aus dem tiefsten Grund meines Herzens, falls Adler zu Tode verurteilt wird, Gnade walten zu lassen."
Einsteins Schreiben blieb Entwurf. Auf der Rückseite finden sich kosmologische Formeln. Aber Einstein bot an, vor Gericht für Adler auszusagen, und veranlasste Zürcher Kollegen, eine Stellungnahme abzugeben, die Adlers hehre Prinzipien betonte. In Einsteins Worten war Adler "ein seltener Kerl, von einer außergewöhnlichen Selbstlosigkeit, die ihn eigentlich in die Tinte gebracht hat."
Nur die Tat erklären
Doch Friedrich Adler ging es nicht darum, dem Galgen zu entkommen. Nicht sich verteidigen, sondern seine Tat erklären wollte er – also für sie geradestehen! Nichts fürchtete er mehr, als für unzurechnungsfähig erklärt zu werden. Um zu beweisen, dass er bei vollem Verstand war, nahm er in der Untersuchungshaft seine physikalischen Gedanken wieder auf.
In seiner Einzelzelle konnte er, wie er schrieb, so ungestört arbeiten wie noch nie. Bald glaubte er, einen Durchbruch ersten Ranges erzielt zu haben. Seinem Vater schrieb er vom Wiener Landesgericht aus: "Ich glaube eine Entdeckung gemacht zu haben, von der nicht zu viel gesagt ist, wenn man sie als die größte bezeichnet, die beim gegenwärtigen Stand der Physik möglich war."
Viktor Adler wollte seinen heißgeliebten Sohn nicht verlieren und setzte daher alle Hoffnung darauf, ihn für unzurechnungsfähig zu erklären. Den euphorischen Brief seines Sohnes übermittelte er einer Kommission von Psychiatern, die Friedrich Adler umgehend besuchten. Der Gefangene war tief gekränkt und beschwerte sich beim Vater: "Ich schreibe dir als einem Freund und du schickst mir die Psychiater."
Die Gutachter erklärten, dass Friedrich Adler ein Fanatiker war. Fanatiker und Geisteskranke wären Sprosse desselben Stammes, aber Adler sei für seine Tat völlig zurechnungsfähig. Und Friedrich Adler konnte somit vor Gericht seinen Standpunkt darlegen.
Er begann, ganz Physiker, mit der kopernikanischen Wende. Muss das sein, fragte der Richter. Wir leben in der Zeit der Relativität, antwortet Adler ungerührt. Seine Rede ließ er sich nicht beschneiden. Sie geriet zu einem glasklaren Meisterwerk. Er hatte gehandelt, um die Freiheit zu retten, so wie einst Wilhelm Tell. Denn Graf Stürgkh wollte die Demokratie beseitigen und den Absolutismus wieder einführen.
Reden Sie nicht zum Fenster hinaus, sagte der Richter und verurteilte Adler zum Tod durch den Strang. Aber der Wunsch Friedrich Adlers war erfüllt: Man hatte ihn gehört. Die Zensur war machtlos geworden.
Auch Einsteins Hoffnung wurde erfüllt: Adler wurde vom jungen Kaiser Karl begnadigt. Er wandelte die Todesstrafe in 18 Jahre schwerer Haft um. Und vom Gefängnis aus konnte Adler die Korrespondenz mit Einstein fortführen. Er schrieb ihm: "Ich glaube sowohl bei Mach als bei Ihnen gefunden zu haben, wo die Fehler liegen." Er schlug sogar ein Experiment vor, das Einsteins Relativitätstheorie widerlegen sollte. Es erwies sich freilich als undurchführbar. Adlers Theorie war aber kein Zeichen geistiger Verwirrung, sie war einfach falsch. Einstein setzte ihm geduldig seine Fehler auseinander. Vertraulich äußerte er sich weit schärfer über Adler: "Ziemlich steriler Rabbinerkopf ... Reitet den Machschen Klepper bis zur Erschöpfung." Aber das beeinträchtigte nicht Einsteins Hochachtung vor dem Freund. Er schrieb ihm in die Strafanstalt Stein: "Ich bin neugierig, wer von uns zuerst dazu kommt, den anderen zu besuchen."
Physikalisch hatte sich Friedrich Adler verrechnet, aber seine politische Rechnung ging auf. Beim Prozess hatte er große Teile der kriegsmüden Öffentlichkeit auf seine Seite gezogen und wurde als Märtyrer seiner demokratischen Überzeugungen gefeiert. 1918 brach die Donaumonarchie zusammen. Kaiser Karl dankte ab. Eine seiner letzten Amtshandlungen war Adlers Begnadigung.
Drei Bücher
Friedrich Adler galt jetzt als oberste moralische Instanz der Linken. Die Kommunistische Partei Österreichs bot ihm die Führung an. Aber Friedrich Adler blieb der Sozialdemokratischen Partei auch nach dem Tod seines Vaters treu. In rascher Folge wurden drei Bücher Friedrich Adlers gedruckt.
Von Ernst Machs "Überwindung des mechanischen Materialismus" und "Ortszeit, Zonenzeit, Systemzeit" hat man in der Folge nicht mehr viel gehört. Aber das Protokoll von Friedrich Adlers Gerichtsverhandlung wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und fand dadurch weltweit Verbreitung.
Erst kürzlich brachten es Michaela Maier und Georg Spitaler neu heraus. "Vor dem Ausnahmegericht" liest sich so gut, als stammte es von Arthur Schnitzler.
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