Dienstag, 16. Februar 2021

Der Islam in seinem ersten Jahrhundert.


Warum der Islam Roms Osten so schnell eroberte
Nur vier Jahre nach dem Tod des Propheten Mohammed beendeten Heere der Kalifen 636 n. Chr. die Herrschaft Ostroms im Orient. Der Islamwissenschaftler Lutz Berger findet eine Vielzahl von Gründen. 

Von Berthold Seewald 

Bis zum Tod Mohammeds steht nur die arabische Halbinsel unter ihrer Kontrolle. 635 fällt Damaskus, 638 wird Jerusalem erobert, 642 verschwindet das einstige Weltreich der Sassaniden, die 626 noch vor Konstantinopel gestanden hatten, von der Landkarte. Unter den Omayyaden erreichen die muslimischen Armeen Spanien und Zentralasien. Später sollte der Islam noch bis nach Indien und Indonesien, auf den Balkan und ins tropische Afrika vordringen.

Das aktuelle Bild des Islam schwankt zwischen zwei Extremen. Für die einen führt ein direkter Weg vom Propheten Mohammed zu den Terroristen der Gegenwart, für die anderen ist das buchstabengetreue Wort des Koran ein Vademecum, das sämtliche Probleme der Moderne zu heilen vermag. Islamgegner und Scharia-Gläubige haben dabei eines gemeinsam: Sie lösen den Islam aus seinem historischen Kontext und argumentieren mit Bruchstücken, warum ihre Interpretation die einzig richtige ist.

Wer es sich nicht so leicht machen will, steht vor dem Problem, sich mit einer Geschichte auseinandersetzen zu müssen, die in keinem Schulkanon vorkommt und deren Quellen in wenig geläufigen Idiomen geschrieben sind, die in entrückten akademischen Diskursen abgehandelt werden. Bislang. Denn mit seinem Buch „Die Entstehung des Islam“ hat der Kieler Islamwissenschaftler Lutz Berger jetzt ein Buch vorgelegt, das alles enthält, um diese Defizite beinahe im Handumdrehen auszuräumen. In verständlicher, geradezu mitreißender Sprache breitet er auf 282 Seiten (plus Zeittafel, Glossar, kommentierter Bibliografie) die ersten hundert Jahre dieser Weltreligion aus, verbindet römische und nahöstliche Welt, Glauben und Macht, Schlachten und Longue durée und öffnet ein ganzes Füllhorn zum Weiterdenken, dass die Entschuldigung wirklich nicht mehr greift, man hätte – mangels Hilfestellung – nichts gewusst.

 

Die Entstehung des Islam. Die ersten hundert Jahre. Von Mohammed bis zum Weltreich der Kalifen. 

Von Lutz Berger 

C. H. Beck, München. 334 S., 26,95 Euro

 

Berger beherrscht den Perspektivenwechsel zwischen großen Linien und beispielhaften Fakten: „Niemand, den man im Jahr 632, kurz vor Beginn der muslimischen Eroberungen, danach gefragt hätte, hätte im Entferntesten damit gerechnet, dass innerhalb weniger Jahre das Christentum in Ägypten oder Syrien von einer Religion der Herrscher zu einer der Untertanen werden würde.“

Doch es waren nicht die Anhänger Zarathustras aus dem Iran, die in einem jahrzehntelangen Krieg das Oströmische Reich beinahe vernichtet hätten, sondern Menschen der Arabischen Halbinsel, die nach ihrem Sieg über die kaiserlichen Truppen am Flüsschen Yarmuk 636 den Grundstein für ein Reich legten, wie es die Welt bis dahin nicht gesehen hatte. Gut 100 Jahre später, 751, schlugen sie am Fluss Talas in Zentralasien eine Armee der chinesischen Tang-Dynastie, nachdem sie zuvor die Iberische Halbinsel überrannt hatten. Das sind die räumlichen Dimensionen von Mohammeds Lehre.

Die gewann ihre expansive Wucht aus dem Konzept des Dschihad. Mohammed verstand darunter zunächst den „Kampf“ um die Bekehrung der Heiden mithilfe des Arguments. Mit seiner Flucht aus Mekka und dem Ausbruch aus dem Stammesverband stieg der Prophet zu einem charismatischen Führer auf, der seine Botschaft mit Waffengewalt verbreitete. Um seine Anhänger zu motivieren, verschärften sich seine Verse und Bilder.

Arabien am Ende des 6. Jahrhunderts n. Chr. liegt zwischen zwei Weltmächten: dem Oströmischen Reich mit der Hauptstadt Konstantinopel und dem Reich der persischen Sassaniden mit der Kapitale Ktesiphon am Tigris. Aus deren Sicht ist Arabien wichtig wegen seiner Handelswege, allenfalls.

   

Ostrom beherrscht die Mittelmeerwelt, das Sassanidenreich den Vorderen und Mittleren Orient. Seit Jahrhunderten führen sie Krieg – um die Weltherrschaft. Der byzantinische Kaiser Justinian hat noch einmal fast das gesamte Imperium von Spanien bis an den Euphrat vereint. Im Bund mit dem ebenfalls christlichen Reich von Aksum in Äthiopien gelingt es ihm ... 

... die Perser zurückzudrängen. Die Herrscher von Aksum – hier einige heilige Kronen - können sogar für einige Zeit weite Teile Südarabiens unter ihre Kontrolle bringen

.
Die sassanidischen Großkönige – sie ließen sich darstellen wie ihr Ahn Shapur II. (Foto) – schlagen jedoch bald zurück und vertreiben die Äthiopier. Weil Byzanz durch Invasoren auf dem Balkan gebunden ist, können die Perser weite Teile Arabiens kontrollieren.
Um das Jahr 570 wird in Mekka Mohammed geboren. Er gehört zu einem weniger einflussreichen Zweig der Quraisch, die in der reichen Handelsstadt das Sagen haben. Sein Vater stirbt kurz nach der Geburt. Die Nachwelt weiß von Wunderdingen, die am Tag von Mohammeds Geburt geschehen sein sollen (osmanische Miniatur, 16. Jh.). 610 erfährt Mohammed seine "Nacht der Bestimmung": Allah offenbart sich ihm. Der Prophet wird in der Regel verhüllt dargestellt.  

Der Erzengel Gabriel offenbart ihm in der Folgezeit den Koran (osmanische Handschrift, 17. Jh.).
Darin stellt sich Mohammed als Nachfolger und Vollender der mosaischen und christlichen Offenbarung vor. Jesus etwa werde am Tag des Jüngsten Gerichts auf einem Minarett der großen Moschee von Damaskus Platz nehmen und zum Kampf gegen den Antichrist aufrufen.
Ab 613 beginnt Mohammed – er ist mittlerweile mit einer reichen Witwe verheiratet – seinen Glauben zu lehren und Anhänger um sich zu scharen. Für die Machthaber Mekkas bedeutet der Anspruch eines Untergeordneten, Gott erlebt zu haben, einen Angriff auf ihre Macht. Denn die gründet sich nicht zuletzt auf die Kontrolle übe r die Kaaba, ein gesamtarabisches Heiligtum in Mekka, zu dem zahlreiche Stämme pilgern – Szene aus dem Film "Mohammed – Der Gesandte Gottes" (1976), in dem Anthony Quinn einen Weggefährten des Propheten spielt, der selbst nicht dargestellt wird. achdem schon zuvor Anhänger nach Äthiopien hatten emigrieren müssen, verlässt Mohammed am 15. Juni 622 Mekka und flieht ins 400 Kilometer entfernte Medina, wo er freundlich aufgenommen wird. Mit der "Hidschra" beginnt die islamische Zeitrechnung. Mit glücklich überstandenen Razzien, Beutezügen von wenigen Hundert Kriegern, kann Mohammed sein Ansehen und seine Macht in Medina ausbauen. e einstecken. Aber die Mekkaner nutzen ihren Vorteil nicht aus.
Als die Leute aus Mekka 627 erneut gegen Medina ziehen, kann Mohammed sie in der "Grabenschlacht" zurückwerfen. Mohammed ist jetzt auch ein Kriegsherr und kann daran denken, mit Macht nach Mekka zurückzukehren. Zuvor kommt es zur Konfrontation mit den Juden. 


In Medina hatten sich jüdische Araberstämme niedergelassen. Mohammed sieht in ihnen Feinde und schickt sie in die Verbannung. Historiker haben dies mit der politischen Großwetterlage zu erklären versucht, in der Juden mit den Sassaniden gegen Byzanz paktierten. 

630 zieht Mohammed gegen Mekka und nimmt es ein. Die Unterlegenen werden gnädig in die Gefolgschaft aufgenommen. 

Nach der Reinigung der Kaaba von Götterbildern betet Mohammed in dem uralten Heiligtum. Es wird zum religiösen Zentrum der jungen islamischen Gemeinschaft.
Mohammed ist auf dem Gipfel seiner Macht, er ist nicht nur ein religiöser Führer, sondern auch der politische Herr Arabiens (die türkische Miniatur zeigt ihn unverhüllt).

Gleichwohl gährt es zwischen Mohammeds Anhängern der ersten Stunde und jenen, die erst im Laufe der Zeit seine Lehre angenommen haben. 632 stirbt Mohammed in Medina. 

 

Der Überlieferung nach fuhr er in den Himmel auf.

 
Das soll an der Stelle geschehen sein, auf der sich später der Felsendom in Jerusalem erheben sollte.
Schon zu Lebzeiten des Propheten hatten seine Anhänger nicht nur die übrigen arabischen Stämme unter die Herrschaft ihres Führers gezwungen, sondern sie beginnen auch mit Feldzügen außerhalb "der Insel", wie die Araber ihre Halbinsel beschreiben.

Unter den Kalifen (Nachfolgern) geht die Expansion weiter. Zwar sind die Muslime technisch den Heeren der Großmächte unterlegen, aber die Araber treibt ein starker Glaube. Und Byzanz und Sassaniden haben sich in ihren endlosen Kriegen buchstäblich aufgerieben. Zwar konnte Byzanz den Weltkrieg gegen die Perser am Ende für sich entscheiden. Der Angriff aus der Wüste aber trifft es völlig unvorbereitet.Ein Blick auf die Landkarte zeigt die schnelle Entstehung des arabischen Weltreichs. Bis zum Tod Mohammeds steht nur die Arabische Halbinsel unter ihrer Kontrolle. 635 fällt Damaskus, 638 wird Jerusalem erobert, 642 verschwindet das einstige Weltreich der Sassaniden, die 626 noch vor Konstantinopel gestanden hatten, von der Landkarte.Unter den Omaijaden erreichen die muslimischen Armeen Spanien und Zentralasien. Später sollte der Islam noch bis nach Indien und Indonesien, auf den Balkan und ins tropische Afrika vordringen.

 
Doch religiöser Streit entzweit die Gemeinde. Nach dem Tod Mohammeds wurden drei Kalifen gewählt, die mit ihm nicht blutsverwandt waren (die Miniatur zeigt vorne Umar, Uthman und Abu Bakr, dahinter Mohammed und seinen Neffen und Schwiegersohn Ali, den vierten Kalifen).

Während die Mehrheit der Gläubigen das Prozedere akzeptiert, sieht sich eine Minderheit als "Partei Alis", die nur Blutsverwandte Mohammeds für berechtigt hält, als Imame (Vorsteher) die Gemeinde (Umma) zu führen (die Darstellung zeigt Mohammed, Ali und dessen Kinder).


Diese "Partei", die Schia, nimmt den Kampf gegen die Omaijaden auf, die von Damaskus aus das arabische Weltreich beherrschen und ihm mit der großen Moschee das Vorbild für die frühen Moscheen geben (Foto).


680 kommt es bei Kerbela im heutigen Irak zur Schlacht. Alis Sohn Hussein fällt im Kampf gegen die Omaijaden. Die Spaltung in Sunniten und Schiiten wird zementiert.

 
Kerbela wird zu einem der wichtigsten Heiligtümer der Schia.
Noch heute ist die Kaaba in Mekka das religiöse Zentrum des Islam. Mit 1,3 bis 1,5 Milliarden Anhängern ist er die größte Religionsgemeinschaft nach dem Christentum (2,2 Milliarden)


Die Karte von seiner heutigen Verbreitung zeigt, dass die zentralen Regionen des Islam bereits kurz nach dem Tod des Propheten gewonnen wurden.

Dieser „Dschihad“ traf auf zwei alt geworden Weltreiche, die ihre Kräfte in langen Kriegen gegeneinander verschlissen hatten. Zwar konnte Ostrom 628 schließlich über die persischen Sassaniden triumphieren. Aber seine Provinzen im Vorderen Orient waren ruiniert. Zudem rissen die Gräben zwischen der Orthodoxie Konstantinopels und den monophysitischen und anderen christlichen Glaubensrichtungen des Ostens erneut auf. Hinzu kam, dass die Großmächte die politischen und sozialen Veränderung in Arabien buchstäblich übersahen und sich mit der Einziehung arabischer Klientelfürstentümer auch der Pufferstaaten beraubten, die sie lange vor unangenehmen Überraschungen aus der Wüste geschützt hatten.

Faszinierend, wie es Berger gelingt, auf wenigen Seiten die tieferen, inneren Ursachen für die schnellen Erfolge der Muslime herauszuarbeiten. Syrien, das ihnen als Erstes in die Hände fiel, war über Jahrhunderte von klassischen antiken Städten geprägt gewesen. Ihre archäologischen Reste zeigen aber, dass deren Eliten sich längst nicht mehr als selbstbewusste Wohltäter für ihre Kommune begriffen. Statt Theater, Thermen oder Bibliotheken als Symbole aristokratischer Selbstdarstellung entstanden nunmehr Zweckbauten wie Werkstätten oder Lager.


In den Ruinen von Sufetula (heute Sbeitla) in Tunesien lässt sich die Verkleinerung der Städte und der Rückzug ihrer Eliten studieren

Spätestens die endlosen Kriege mit Persien ließen die Eliten in Konstantinopel Zuflucht suchen. Die Zurückbleibenden aber, darunter zahlreiche Araber, erkannten schnell, dass sie unter den neuen Herren kaum schlechter lebten als unter den alten. Da die Muslime zudem über eine hoch motivierte und mobile Kriegsmaschinerie verfügten und die Truppen des Kaisers weit waren, öffneten viele Städte den Eroberern „mit Musik und Tanz“ ihre Tore. Das beschleunigte den Wandel der orientalischen Stadt von einer selbstverwalteten Kommune zu einem bloßen Ort der Produktion, der sich nur wenig von seinem Umland abhob.

Während die Byzantiner in den Festungsstädten Anatoliens und des Balkans ihr welthistorisches Überleben sicherten, wählten die Granden des Iran eine andere Strategie. Nach der Vernichtung des Sassanidenreichs durch die Muslime unterwarfen sie sich den Siegern, übernahmen ihren Glauben und wahrten so ihre Führungsrolle, wobei die Erinnerung an die persischen Weltreiche der Antike identitätsstiftend wirkte. Persisch wurde zur zweiten Sprache der islamischen Welt.

Die Mamluken rekrutierten sich aus Militärsklaven aus Zentralasien

Neben den großen Linien sind es vor allem zahllose Beobachtungen, die Bergers Buch zu einem einzigen Augenöffner machen. Etwa zur Rolle der islamischen Militärelite. Als mit neuen Eroberungen Mitte des 8. Jahrhunderts auch die Beute ausblieb, suchten die Kalifen ihre Offiziere mit Land abzufinden. So wurden aus Kämpfern Untertanen. Aber eine auf Großgrundbesitz gegründete Aristokratie, die – wie in Europa – vom Herrscher ökonomisch unabhängig war, entstand nicht. Das wiederum führte in der islamischen Welt zu der folgenschweren Institution der Militärsklaven, die sich stets zum Staat im Staate entwickelten.

Oder zum muslimisch-jüdischen Verhältnis. Berger wagt die quellenkritische Hypothese, dass die antijüdischen Aussprüche Mohammeds womöglich erst nach seinem Tod in einer Phase entstanden, als jüdische Aufstände im Irak die muslimischen Kämpfer provozierten. Die unheilvolle Wirkungsgeschichte dieser Propaganda reicht bekanntlich bis in die Gegenwart.

Immer wieder gelingt es Berger, im historischen Detail die weltgeschichtlichen Folgen zu zeigen. Das größte Exempel ist das Thema seines Buches selbst: Der Aufstieg des Islam degradierte den Westen zu einem Entwicklungsland, „auf das Muslime wie orientalische Christen für Jahrhunderte – wenn überhaupt – nur mit Herablassung blickten“. Um das zu verstehen, muss man den Nabel der Geschichte nicht nach Zentralasien verschieben, wie das derzeit von ambitionierten Autoren versucht wird. Es reicht, zu zeigen, wie es eigentlich gewesen ist.

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen