Donnerstag, 18. Februar 2021

Wie Indien zur britischen Kolonie wurde.

 

aus nzz.ch, 15. 2. 2021                                                                                                                                        Die East India Company war nicht nur eine Handelsgesellschaft, sondern ein wichtiger Bestandteil des britischen Weltreichs. Nach der Niederlage in der Schlacht von Baksar vom November 1764 musste Shah Alam II Bengalen, Bihar und Orissa der East India Company überlassen.

 
East India Company: 
Der Weg zum Weltreich führt über die Aktiengesellschaft 
Vor 420 Jahren wurde die East India Company gegründet, der erste globale Multi. Nach heutigen Kriterien beurteilt, lässt sich die Handelsgesellschaft durchaus mit modernen Konzernen vergleichen.
 
von Sergio Aiolfi 

Was braucht es, um ein Imperium zu errichten? Vor allem gute Verkehrsverbindungen! In der Darstellung des in Oxford lehrenden Historikers John Darwin waren die Briten in der Lage, ein Weltreich aufzubauen, «weil sie die Chancen der globalen Vernetzung besser nutzten als ihre Rivalen». Dieser Umstand bildete nach Darwin jedoch nicht nur die Basis des britischen Imperiums, sondern war auch generell die Voraussetzung für die Globalisierung, so wie sie Ende des 16. Jahrhunderts ihren Anfang nahm.

Geknüpft wurden die ersten weltumspannenden Netze mithilfe von Handelsgesellschaften, so etwa der Hudson Bay Company, der niederländischen Vereenigde Oostindische Compagnie oder dem englischen Pendant, der um 1600 gegründeten East India Company. Was sich schliesslich bis im 19. Jahrhundert zu einem riesigen britischen Herrschaftsgebiet auswuchs, über dem, wie es hiess, die Sonne nie mehr unterging, hatte einst als kleinformatiges privates Projekt begonnen.

Eine Aktie für Kleinsparer

Nicht zufällig waren die frühen Handelsfirmen als Joint-Stock Companies, also Aktiengesellschaften im heutigen Sinne, organisiert. Diese damals neue Rechtsform erlaubte es, Risiken, die mit dem Überseehandel verbunden waren, auf eine Vielzahl von Schultern zu verteilen. So führte eine Reise nach Indien über das stürmische Kap der Guten Hoffnung

Die Dutch East India Company stand in Konkurrenz mit den Briten: ein niederländischer Handelsposten in Hugli in Bengalen.

«Ein Handelsgeschäft in so entfernten Ländern kann nur durch eine Aktiengesellschaft gesteuert werden», sagte anlässlich der Gründung der East India Company einer der Hauptgeldgeber. Die Gruppe der Investoren umfasste neben Vermögenden auch eine bunte Schar gewöhnlicher Sterblicher, Lebensmittelverkäufer und Kurzwarenhändler, Handwerker, Seeleute und Soldaten, alle bereit, ihr Erspartes in ein Startup-Unternehmen zu stecken.

Eine Aktiengesellschaft ist nicht nur eine betriebswirtschaftliche Einheit, sondern lässt sich auch als umfassendes Vertragswerk umschreiben. In der neuen Institutionen-Ökonomie ist im Zusammenhang mit Firmen zuweilen von einem «nexus of contracts» die Rede: eine Verflechtung von Vereinbarungen, in denen Rechte und Pflichten der beteiligten Akteure festgeschrieben sind.

Von diesem Konzept inspiriert, haben wirtschaftshistorische Forscher in jüngerer Zeit begonnen, die East India Company auf ihre vertraglichen Grundlagen hin zu untersuchen. Und dabei stellten sie fest, dass die Wesensmerkmale dieses historischen Gebildes denen eines modernen Konzerns nicht unähnlich sind.

Was für die East India Company als Aktiengesellschaft zu den Charakteristika zählte, war – wie bei heutigen Konzernen – das spezielle Verhältnis zwischen Kapitalgebern und «Managern» (das Principal-Agent-Problem); die Investoren spielten die Rolle von passiven Teilhabern und überliessen das Führen der Geschäfte ihren Bevollmächtigten: erfahrenen Seeleuten, Händlern und nicht zuletzt einigen waghalsigen Abenteurern.

Nachlässig und verschwenderisch

Adam Smith beschrieb in seinem Werk «The Wealth of Nations» 1776 die Schwierigkeiten, die mit dieser Konstruktion verbunden waren, wie folgt: «Da die Direktoren solcher Gesellschaften das Geld anderer Leute und nicht ihr eigenes verwalten, kann man nicht erwarten, dass sie sich darum mit der gleichen Aufmerksamkeit kümmern, mit der die Partner eines privaten Unternehmens über ihr eigenes Geld wachen. Nachlässigkeit und Verschwendung werden deshalb immer in der Verwaltung der Angelegenheiten einer solchen Gesellschaft vorherrschen.»

Smith erkannte schon damals, was das Grundproblem der Corporate Governance war, und der Hinweis auf die «Verschwendung» zeigt, dass ihm der lockere Umgang der Manager mit Firmenressourcen (einschliesslich des Bezugs überrissener Boni) bewusst war. Umso erstaunlicher, dass das Abzocker-Problem auch bald 250 Jahre nach Smith immer noch einer überzeugenden Lösung harrt.

Ein frühes Beispiel von Unternehmenskunst: ein Porträt des «Aussendienstlers» William Fullerton, entstanden zwischen 1760 und 1764.

Im Fall der East India Company war die Handhabung des Principal-Agent-Problems noch durch die Raum- und Zeitverhältnisse erschwert, in denen das Indien-Geschäft betrieben wurde. Die Eigentümer hatten meist Sitz in London, die im Aussendienst tätigen Angestellten arbeiteten in Handelsstationen, die Tausende von Seemeilen entfernt waren. Zwischen der Abreise der Segelschiffe aus England und ihrer Rückkehr aus dem Subkontinent vergingen in der Regel 18 bis 24 Monate.

Diese raumzeitliche Distanz führte zwischen Zentrum und Peripherie zu einer erheblichen Informations-Asymmetrie, wie heutige Institutionen-Ökonomen es nennen würden. Und da das Controlling mit grosser Zeitverzögerung behaftet war, blieb den Kapitalgebern keine andere Wahl, als ihre Aussendienstler an der langen Leine zu führen.

Privatgeschäfte als Problem

Umso wichtiger war es deshalb, mithilfe von Regeln und Vereinbarungen dafür zu sorgen, dass Werk und Wirken der Aussendienstler in Einklang mit den Interessen des Unternehmens gebracht werden konnten. Entscheidend waren dabei – neben den Statuten mit dem für die Angestellten geltenden Verhaltenskodex – die Arbeitsverträge. Und diese sind von der East-India-Company-Forschung in jüngerer Zeit genauer unter die Lupe genommen worden – was Bemerkenswertes zutage gefördert hat.

Ein Problem, das der Zentrale in London viel Kopfzerbrechen bereitete, war der private Handel, den die Agenten neben ihrer regulären Tätigkeit betrieben und der ihnen erlaubte, grosse Vermögen anzuhäufen. Sie kauften und verkauften in eigener Regie Edelware wie Rohseide, Juwelen und Korallen und nutzten dabei das von der Company etablierte Kontaktnetz.

Investoren und Direktoren hegten nicht ohne Grund den Verdacht, dass dieser Zuerwerb den Firmeninteressen zuwiderlief. Um dem entgegenzuwirken, beschlossen sie, Privatgeschäfte zu untersagen und Fehlverhalten mit Geldbussen oder der Entlassung zu bestrafen. Da das Treiben der Aussendienstler jedoch nur schwer zu überwachen war, zeigte das Verbot wenig Wirkung.

Privatgeschäfte als Anreiz

Es dauerte einige Zeit, bis sich die Direktoren in London die Zwecklosigkeit ihrer Weisung eingestanden. Als sie es schliesslich taten, vollzogen sie eine radikale Kehrtwende. Santhi Hejeebu, eine am Cornell College in Mount Vernon (Iowa) lehrende Ökonomin, hat diesen Gesinnungswandel im Detail dokumentiert und im Aufsatz «Contract Enforcement in the English East India Company» dargestellt.

Wie sie zeigt, entschloss sich die Direktion 1675, das Verbot zu lockern. Zwar blieb es den Angestellten nach wie vor untersagt, asiatische Güter privat nach Europa einzuführen; formell gestattet war fortan aber das Betreiben von Handelsgeschäften innerhalb von Asien. Damit schickte sich die Direktion ins Unvermeidliche, in der Erkenntnis allerdings, dass die angepasste Direktive für das Unternehmen auch Vorteile schuf.

Einer davon betraf die Entlöhnung der Aussendienstler. Die East India Company war bekannt für die sehr bescheidenen Basissaläre. Dank der Teilzulassung privater Geschäfte bekamen die Aussendienstler nun Gelegenheit, ihr Einkommen aufzubessern, ohne das Budget der Company zu belasten. Nach der Darstellung von Hejeebu profitierte das Unternehmen vom Privathandel aber auch insofern, als er die unternehmerische Initiative der Angestellten anregte; das erhöhte deren Marktkompetenz und kam so wiederum dem Unternehmen zugute.

Keine andere Gesellschaft

Die Möglichkeit, auf eigene Rechnung zu wirtschaften, liess sich nicht zuletzt als Alleinstellungsmerkmal der East India Company präsentieren, wie das Schreiben eines Direktors um 1730 zeigt: «Der private Handel, der Vorteil, den wir unseren Angestellten gewähren, frei von einem Hafen zum anderen ohne Einschränkung Geschäfte zu betreiben, ist das, was ausser uns keine andere Gesellschaft je im gleichen Ausmass erlaubt hat.»

Ein Angestellter der East India Company reitet auf einem Elefanten, begleitet von einer Eskorte aus Soldaten gegen Ende des 18. Jahrhunderts.

Mit der Zulassung des privaten Handels und dem für die Agenten geschaffenen Anreiz, ihre Interessen mit jenen des Prinzipals abzustimmen, war ein entscheidendes und die Geschäfte beeinträchtigendes Corporate-Governance-Problem gelöst. Die Historiker Andrew Phillips und J. C. Sharman bezeichnen es in ihrem soeben publizierten Buch «Outsourcing Empire. How Company-States Made the Modern World» als die Lösung des «grössten Problems schlechthin», mit dem die East India Company zu kämpfen hatte.

Mit ihrem pragmatischen Laisser-faire-Ansatz unterschieden sich die Engländer auch von den Konkurrenten der Vereenigde Oostindische Compagnie; diese beharrten noch lange auf dem Privathandels-Verbot, und da sich die Angestellten kaum daran hielten, gelang es auch nie, die das Geschäft belastenden Spannungen zwischen Zentrum und Aussenposten abzubauen.

Mit der Lösung des Principal-Agent-Problems erwuchs den Engländern ein entscheidender Vorteil. Wie Phillips und Sharman betonen, hatte die Festigung der internen institutionellen Strukturen zur Folge, dass es der Company möglich wurde, sich rasch und unkompliziert neuen Geschäftsfeldern zuzuwenden. Der Textilhandel bot dazu eine gute Gelegenheit.

Waren im Geschäft mit Indien zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch Gewürze das wichtigste Handelsgut gewesen – ein Segment, das die Niederländer dominierten –, erlangte gegen Ende des Jahrhunderts der Handel mit Baumwollstoffen wachsende Bedeutung. Und in diesem Geschäft gelang es den Engländern, die Vereenigde Oostindische Compagnie weit zu überflügeln.

Schlüssel zur industriellen Revolution

Anfänglich bestanden die nach Europa verfrachteten Textilwaren vorwiegend aus gefärbten und bunt bemalten Stoffen, die sich vor allem bei der wohlhabenden Klientel als Modeartikel grosser Beliebtheit erfreuten. Mit Beginn des 18. Jahrhunderts setzte jedoch eine Veränderung des Sortiments ein: Gefragt waren von da an mehr und mehr weiss gebleichte Tuche, und die Hauptabnehmer in Europa waren nicht mehr Konsumenten, sondern Kattun- oder Zeugdrucker – die Vertreter eines Gewerbes, das sich als neues und gewichtiges Segment der Textilbranche zu etablieren begonnen hatte. Mit ihrer mechanisierten Fabrikation bedruckter Tuche zählten die Zeugdrucker zu den Ersten, die so etwas wie Massenproduktion betrieben.

Die Nachfrage der neuen Abnehmerschaft erforderte Warenlieferungen, die zum einen in zuverlässiger Regelmässigkeit erfolgten, zum anderen eine Stoffqualität aufwiesen, die industriellen Anforderungen genügte. Das setzte voraus, dass die Company die Tücher nicht mehr einfach an den lokalen indischen Märkten beschaffte, sondern an den Anfang der Lieferkette vorrückte, bis zu den Produzenten. Die Korrespondenz zwischen London und den Faktoreien in Indien zeigt, dass die Angestellten öfter angewiesen wurden, die Herstellung der Stoffe, das Weben und Bleichen, genau zu überwachen und nach Bedarf die Prozesse selber zu organisieren.

Auf diese Weise etablierte sich die East India Company bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts als verlässlicher Zulieferer des englischen Zeugdrucks, eines Protagonisten der industriellen Revolution. Und so besehen war die Company nicht nur Pionierin der globalen Vernetzung, sondern trug dank ihren gefestigten institutionellen Strukturen auch entscheidend zur epochalen Umwälzung der europäischen Wirtschaft bei.

 
Ein Handelsposten der East India Company in der indischen Stadt Surat im 17. Jahrhundert.

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