Samstag, 20. Februar 2021

Pöbel sagt man nicht.

Rostock-Lichtenhagen
aus nzz.ch, 20.02.2021

Bürger und Pöbler – der Polit-Hooligan der Gegenwart hat zwei GesichterOb Capitol-Erstürmung, Gelbwesten-Protest oder Anti-Corona-Militanz – der Wutmensch ist der politische Phänotyp der Stunde. Blickt man in seine Seele, so stösst man auf nichts: auf kein Anliegen, keine Idee; allenfalls auf Ressentiments. Woher kommt er, und was treibt ihn um?

von Manfred Schneider
 
Ein neuer Prototyp hat die politische Arena betreten: der Polit-Hooligan. Die Globalisierung macht es möglich, dass er auf allen Kontinenten erscheint: in Australien, Südamerika, Asien, den USA und Europa. Seinen spektakulärsten Auftritt lieferte er am 6. Januar dieses Jahres in Washington, als er in Gestalt eines Mobs aus mehreren tausend leeren Köpfen und doppelt so vielen Fäusten das Capitol stürmte und im Innern der Kammern, Flure und Büros zahlreiche Schäden anrichtete, Polizei und Sicherheitskräfte angriff und eine Person tödlich verletzte.

Blickt man in die Seele des Polit-Hooligans, so stösst man dort auf nichts: auf kein Anliegen, keine Idee; allenfalls findet man Ressentiments. Das Ressentiment teilt der Polit-Hooligan einerseits mit dem Urbild seines Rabaukentums, dem Fussball-Hooligan, der seine besten Jahre allerdings bereits hinter sich hat. Andererseits unterscheidet er sich fundamental von Bürgern, die in diktatorisch regierten Ländern trotz amtlichen Verboten protestieren und dafür von den Machthabern als «Hooligans» und «Staatsfeinde» beschimpft und verprügelt werden. Die Frauen und Männer, die in Moskau und anderen Städten Russlands gegen die Vergiftung und die Verurteilung Alexei Nawalnys protestierten, oder diejenigen, die sich in Hongkong gegen die Aushöhlung des Rechts durch die Regierung in Peking empörten, sind keine Rowdy-Hooligans, sondern bewundernswerte, mutige Bürger, die für Menschenrechte, Demokratie und rechtsstaatliche Ordnung ihre Haut zu Markte tragen.

Bedroht von übler Stimmung

Der Polit-Hooligan, der in Washington, Berlin, Wien, Amsterdam, Florenz, Paris, London, Prag und anderen Städten auftritt, gibt seinen Ressentiments und seiner Wut wechselnde Namen. Er kann «Ausländer raus!», «Make America great again», «Maske weg», «Freiheit», «Corona-Lüge», «Résistance», «Menschenwürde» ebenso gedankenlos rufen wie die Namen seiner Fussballvorbilder, «Ajax», «Schalke 04» oder «Arsenal». Er benötigt nur eine positiv oder negativ besetzte Parole, um seiner Wut, seiner Stimme und seiner Faust zu tun zu geben. Aber ebenso wie sich der Fussball-Hooligan nicht primär für den Fussballmatch interessiert, der ihn und seine Genossen mobilisiert, so interessiert sich auch der Polit-Hooligan nicht für die allgemeinen Rechte oder Freiheiten, die er auf seine Plakate schreibt. Er ist nicht bedroht von Verboten oder Einschränkungen, sondern von seiner üblen Stimmung.

Der Polit-Hooligan unserer Tage hat sein Mobiltelefon zur Hand, während er eine Tür eintritt oder einem Beamten auf den Kopf schlägt.

Es spricht allerlei dafür, in der Politik alte Unterscheidungen aufzugeben, nicht mehr von Völkern, Geschlechtern, Nationen oder Klassen zu sprechen, sondern vielmehr von Bürgern und Pöbel. Diese Unterscheidung nimmt einen sehr traditionellen Gegensatz wieder auf, den die Antike pflegte, nämlich den zwischen Griechen oder Römern auf der einen und Barbaren auf der anderen Seite. Ursprünglich nannten die Griechen alle Menschen Barbaren, die eine für sie unverständliche Sprache sprachen. Sehr bald aber regelten die beiden Namen die Unterscheidung zwischen Zivilisation und ihrem Gegenteil.

Dies war eine sehr grobe Aufteilung, aber sie hat im Laufe der Geschichte zahlreiche Wiederaufnahmen erlebt. Franzosen, Deutsche, Engländer sahen sich selbst als Wiedergänger der edlen Griechen, hingegen Nachbarn, Feinde oder Fremde als Barbaren. Aber zugleich hat die neuzeitliche Kulturkritik den Barbaren auch positiv als Überwinder der ans Ende gelangten Zivilisation gefeiert: Wie angeblich einst die Germanen die römische Dekadenz beendeten, so wollten moderne Barbaren, Sozialisten, Wandervögel, Maoisten, Punks und Skinheads, die saturierte bürgerliche Welt erneuern. So sind in der neueren Zeit immer wieder pöbelnde Gruppen mit dem Ruf aufgetreten «Wir sind die Barbaren». Nicht zuletzt war es Adolf Hitler, der solches 1933 deklarierte, um damit anzukündigen, dass die Nazis alle Errungenschaften der Zivilisation zertrümmern würden.

Das Wort «Pöbel» leitet sich auf Umwegen von dem lateinischen Wort «populus» ab, das ursprünglich wertneutral das «Volk» bezeichnete, aber nach und nach eine negative Bedeutungsnuance entwickelte. Trotzdem spricht immer noch das Recht im Namen des Volkes. Es wäre daher ein Beitrag zur sprachlichen Genauigkeit, wenn die rechten Polit-Hooligans, die sich mit der Legitimitätsparole der DDR-Bürgerrechtler von 1989 schmücken, sachgerecht riefen: «Wir sind der Pöbel!»

Der pöbelnde Polit-Hooligan ist damit nicht soziologisch bestimmt. Wie die Pöbelgenossen vor den Fussballarenen kommen die Polit-Hooligans aus allen sozialen Gruppen. Sie sind weibliche wie männliche Schüler, Studenten, Rentner, Ärzte, Ingenieure oder auch Soldaten. Sie sind Meuterer innerhalb der Zivilisation, die sie trägt.

Wenn man daher genau hinschaut, dann sind Bürger und Pöbel nicht durchweg zwei verschiedene Erscheinungen, sondern häufig ein und dieselbe Person. Vermutlich sitzt der Pöbel in jedem von uns. Den Unterschied macht derjenige, der ihn von der Kette lässt. Bereits Friedrich Nietzsche hatte im Krieg 1870/71 beobachtet, dass Männer vornehmster Herkunft zu «losgelassenen Raubthieren» werden können. Zu Hause seien sie voller «Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft»; in der Fremde hingegen träten sie auf als «frohlockende Ungeheuer, welche vielleicht von einer scheusslichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung mit einem Übermuthe und seelischen Gleichgewichte davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei».

Das Unbehagen in der Kultur

Der Barbar wie der Polit-Hooligan lassen sich 150 Jahre später aber nicht mehr philosophisch oder politisch adeln. Sie und ihre Vorbilder haben ihre historischen Auftritte gehabt, und jede Wiederholung ist nur noch widerwärtiger Mummenschanz. Dabei hat Nietzsche bereits früh begriffen, dass sich diese wild gewordenen Bürger im Krieg für die «lange Einschliessung und Einfriedigung in den Frieden der Gemeinschaft» schadlos halten. Sigmund Freud hat weniger euphorisch als Nietzsche das «Unbehagen in der Kultur» diagnostiziert. Auch er sah, dass die moderne Zivilisation grosse Anforderungen an die Triebbeherrschung der Bürger stellt, aber ihn interessierte weniger die Katharsis der Befreiung im barbarischen Exzess als die neurotisierenden Effekte kultureller Anpassung.

Nietzsche hatte neben den Kriegsmännern von 1870 vor allem die Helden der Antike, die Männer und Halbgötter von Troja und Theben, vor Augen, als er in seiner «Genealogie der Moral» von den «losgelassenen Raubthieren» schrieb. Und was trieb sie dazu? Die Freiheit? Das Recht? Nietzsche fand auch bei diesen Männern kein anderes Motiv für ihre Exzesse als den Wunsch, dass anschliessend «die Dichter für lange nun wieder Etwas zu singen und zu rühmen haben». Das war noch die medientechnische Frühzeit des Epos.

Zwei Jahrtausende später sind zunächst Film- und Fernsehkameras an die Stelle der epischen Sänger getreten. Auch der Fussball-Hooligan des vergangenen Jahrhunderts war vor allem daran interessiert, dass seine Steinwürfe und seine fliegenden Fäuste nicht einfach vergessen wurden. Gleich nach einem Vandalenzug durch die Innenstadt des feindlichen Fussballvereins eilte er in der Kneipe oder zu Hause an den Fernseher, um sich die «scheussliche Abfolge» seiner Auftritte noch einmal genussvoll anzuschauen. Der Polit-Hooligan unserer Tage ist viel besser gerüstet. Er hat sein Mobiltelefon zur Hand, während er eine Tür eintritt oder einem Beamten auf den Kopf schlägt.

Bildbesoffen, mit Janusgesicht

Was wir in letzter Zeit erlebten: Die Barbarei im Capitol am 6. Januar, der Vandalismus vor und im Berliner Bundestag, die Pöbelauftritte verschiedener Polit-Hooligans in einigen europäischen Städten sind jetzt für alle Zeit in den neuen Archiven der Social Media niedergelegt. Dort sind sie zuvor in die Schule des Pöbelns gegangen, dort ist ihr heiliger Gedächtnisort. Es spricht allerdings für die Torheit der Polit-Hooligans im Capitol, dass sie alle ihre brutalen Aktionen eigenhändig in Bildern und Filmen festhielten oder jauchzend der Welt als Live-Stream schenkten, um jetzt ihren Hooliganismus in Gefängniszellen auszuschwitzen. Sonst wussten sie im Capitol nicht, was sie machen sollten, und warteten sehnlich auf eine Anweisung ihres präsidentiellen Ober-Hooligans, was sie, ausser zu stören, zu zerstören und die Zerstörung zu filmen, noch tun sollten.

Während der Fussball-Hooligan für seine Auftritte eine gehörige Menge Bier benötigt, ist der neue Polit-Hooligan vor allem bildbesoffen. So findet man beim Blick in seine Seele neben dem Ressentiment, das sich von einem beliebigen Stichwort wecken lässt, die Begierde, sich selbst zu sehen. Er ist eine epische Gestalt wie der präsidentielle Hooligan, der sich auch nicht für Politik interessierte, sondern für sein bejubeltes Bild.

Man darf daher diese Auftritte der Polit-Hooligans nicht mit Politik verwechseln. Das Ressentiment kann Asylsuchende, Corona-Massnahmen, die Medien, den Kapitalismus, den Euro zum Weltübel und Wutentzünder erklären, tatsächlich pöbeln zumeist Eitelkeit und Unbehagen. Der Polit-Hooligan hat ein Janusgesicht. Er teilt sich wie sein Name in zwei Hälften: in denjenigen, den die Griechen den «politäs», nämlich den Bürger, nannten, und in den fäusteschwingenden Pöbler, der Politiker, Wissenschafter oder namenlose Feinde für seine trüben, gedankenlosen Zustände verantwortlich macht. Nietzsches heroische Raubtiere haben zumeist den Weg zurück in eine zivilisatorische Heimat gefunden. Beim neuen Prototyp, dem Polit-Hooligan, ist allerdings offen, ob das je gelingt.

Manfred Schneider ist emeritierter Professor für deutsche Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Aus seiner Feder stammt der Band «Der Barbar: Endzeitstimmung und Kulturrecycling» (1997).
 
 
Nota. - Schärfe des Begriffs zeichnet obigen Beitrag nicht grade aus. Das liegt aber nicht am Verfasser, sondern am Gegenstand, und den kann man sich dieser Tage leider nicht aussuchen, wenn man auf Tagespolitik zu sprechen kommt. Nein, Pöbel ist kein Begriff, und einen sol-chen verdient er ja gar nicht. Pöbel ist ein Schimpfwort, und es ist politisch nur korrekt, dass Manfred Schneider es nicht nur am Stammtisch sagt, sondern in der Neuen Zürcher endlich mal schreibt.
 
Schneider definiert nicht, sondern schimpft. Das kann ich ihm nachfühlen. Doch es bleibt uns nicht erspart: Schließlich werden wir doch wieder verstehen müssen. 
 
Das ist auch gar nicht so schwer. Seit dem Ende der Weltrevolution und des Kalten Kriegs - deren jämmerlicher Karikatur - ist die Scheidung der politischen Welt in zwei Lager unterge-gangen oder besser: zerflossen in ein pragmatisches Grabbeln nach der richtigen Losung für den nächsten Tag. Das war ja anderthalb Jahrhunderte lang anders gewesen: Der nächste Handgriff für den kommenden Tag wurde vorbestimmt vom Endziel in der Ferne, von Zu-kunftsstaat und der Gesellschaft der Freien und Gleichen auf der einen, und, sobald es ernster wurde, auf der andern Seite der Wiederherstellung der Ordnung, die Reaktion, die präventive Konterrevolution.Vernünftige Politik - vom Standpunkt der bestehenden Gesellschaftsord-nung - war immer ein Schlängeln zwischen Scylla und Charybdis; das, was nach allen Kuhhan-deln und Kompromissen übrigblieb: Je stärker die Flügel wurden, umso weniger Platz ließen die lärmenden und prügelnden Rotten dem wohlmeinenden Juste Milieu.
 
 
Nach dem Ende der Weltrevolution ist als vernünftige Option nur die bestehende Gesell-schaftsordnung übriggeblieben, nämlich in ihrer dynamisierten Gestalt als Digitale Revolution auf der einen und Globalisierung auf der andern Seite. Für Kontroversen über historische Ziele und Zwecke ist gar kein Platz, wenn überhaupt noch Meinungsunterscheide bleiben, dann betreffen sie wirklich nur den allernächsten Schritt, nämlich ob er dem von niemand angezweifelten Allgemeinen Zweck auch wirklich dient. Da wird nun gepöbelt und krakeelt, und die Randalierer können sich austoben. Doch sachlich ist es völlig Fehl am Platz. Wenn die Hooligans sich ausgegrenzt und außen vor gelassen fühlen, haben sie instinktmäßig ganz Recht. Keiner hört ihnen wirklich zu. Es wird immer wiedermal Glücksritter geben, die auf kleinen Flämmchen ihre kleinen Süppchen kochen, aber das Ressentiment weiß schon jetzt: Am Ende sind doch wieder nur sie die Gelackmeierten.
JE
 

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