aus nzz.ch, 15. Mai 2014, 05:30
Die neue Sozialphysik
Kaeser ⋅ Die Idee, dass die Sozialwissenschaften durch exakte Modelle zu seriösen Prognoseinstrumenten werden, ist ein alter methodologischer Wunschtraum. Der Statistiker Adolphe Quetelet und der Philosoph Auguste Comte zum Beispiel trugen sich im 19. Jahrhundert mit der Vision einer Sozialphysik, die unter Kenntnis der Anfangsbedingungen bestimmte soziale Ereignisse mit ähnlicher Präzision voraussagen würde wie die Himmelsmechanik den Lauf der Planeten. Schon immer wurden solche «terrible simplifications» in der Soziologie als Daten-Positivismus kritisiert. Inzwischen erhält die Idee, die Gesellschaft sei eine Art soziales Gas, Unterstützung von einer anderen verführerischen Idee: von der Gesellschaft als einem Netzwerk.
Deshalb versteht sich die Sozialphysik heute als Netzwerkforschung. Und in Netzen gibt es nicht Menschen, sondern Knoten, nicht Beziehungen, sondern Kanten, nicht Klassen, sondern Cluster. Ein mathematisches Modell erklärt, wie wir sozial ticken – oder besser gesagt: klicken. Alex Pentland, einer dieser neuen Soziologen, spricht ruhmredig von einer «Wiedererfindung der Gesellschaft im Sog von Big Data» und hält mit seiner Vision nicht hinterm Berg: «Wer du tatsächlich bist, wird bestimmt durch den Ort, wo du deine Zeit verbringst, und die Dinge, die du kaufst (. . .) Indem Wissenschafter diese Art von Daten analysieren, können sie dir eine Menge Dinge über dich erzählen. Sie können dir sagen, ob du eine Person bist, die ihre Kredite zurückzahlt, oder ob du Diabetes-anfällig bist.»
Wir haben es hier mit einem Übergang von Daten zu Metadaten zu tun. Befürworter der Überwachung spielen diese gerne mit der Beschwichtigung herunter, dass man ja nicht Daten, sondern «nur» Metadaten sammle. Der Inhalt einer Nachricht interessiere nicht, wohl aber die Adresse oder die Websites, die man anklicke. Das ist ein Wolf-im-Schafpelz-Argument. Metadaten verraten mehr, als einem lieb ist. Man erinnert sich an den sogenannten AOL-Skandal 2006. Der Onlinedienst America Online gab die Daten einer halben Million Nutzer anonymisiert zu Forschungszwecken frei. Wie sich herausstellte, liess sich die Identität einiger Nutzer relativ schnell aus ihrem Verhalten bestimmen. Reporter der «New York Times» ordneten innert Stunden einer bestimmten Nummer die Person Thelma Arnold zu, eine 62-jährige Witwe.
Auch wenn in diesem Fall durchaus noch auf Inhalte Bezug genommen wurde – Partner-, Medikamenten-, Kreditsuche –, so zeichnet sich eine Entwicklung ab, die man als inhaltsfreie Identifikation bezeichnen könnte. Das Individuum spielt keine Rolle, nur seine Klick-Geschichte. Stewart Baker, ehemaliger leitender Berater bei der NSA, bemerkte kürzlich mit erstaunlicher Freimütigkeit, dass der Unterschied zwischen Daten und Metadaten mit der Zeit hinfällig werde. «Metadaten sagen absolut alles über jemandes Leben. Wenn man genügend Metadaten hat, benötigt man eigentlich gar keinen Inhalt (. . .) Es ist schon sehr befremdlich, wie wir Menschen voraussagbar sind.»
Dass es faszinierende neue Phänomene gibt, die primär auf dem Kommunikationsverhalten im Netz beruhen, ist unbestritten. Soziophysikalische Erklärungen werden also umso zutreffender, je mehr sich der Mensch wie ein Knoten oder «Hub» im Netz aufführt. Denn desto mehr ähnelt er der Stanzform der Sozialphysiker: einem prognostizierbaren Zombie aus Metadaten.
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