aus Der Standard, Wien, 9. 5. 2014
Wir sind, was unsere Ahnen gesät haben
Wir sind, was unsere Ahnen gesät haben
Verschiedene
Methoden beim Anbau von Reis und Weizen könnten zu Unterschieden
zwischen östlicher und westlicher Kultur beigetragen haben
Peking - Im späten 18. Jahrhundert erlebte England die ersten Vorboten der industriellen Revolution. Angetrieben von einer Fülle technischer Innovationen begann sich zunächst der Norden Europas, später Nordamerika und schließlich der gesamte Globus nachhaltig zu verändern. Warum diese Umwälzungen ausgerechnet von Nordeuropa ausgingen, ist immer noch eine der großen Fragen der Geschichte. Führt man sich die Welt vor tausend Jahren vor Augen, dann hätte man wohl auf naheliegendere Kandidaten getippt, die die Grundlagen für einen solchen globalen Fortschritt legen könnten: China etwa oder der Nahe Osten.
Bisher haben Historiker Antworten auf diese Frage in religiösen oder geographischen, ja sogar genetischen Unterschieden gesucht. Thomas Talhelm von der University of Virginia und sein Team chinesischer und US-amerikanischer Forscher verfolgen dagegen einen anderen Ansatz: Ihre "Reis-Theorie" geht davon aus, dass unterschiedliche Methoden beim Anbau von Reis und Weizen für die Verschiedenheiten zwischen östlicher und westlicher Kultur hinsichtlich Individualität und analytischen Fähigkeiten einerseits und kollektivistischer Lebensweise andererseits verantwortlich sind.
Die Grundthese, die die Forscher im Fachblatt "Science" erläutern, lautet: Während der Reisanbau arbeitsintensiv und mit einem großen Aufwand bei der Bewässerung verbunden ist und daher kooperatives Vorgehen der Landbevölkerung notwendig macht, können Weizenbauern unabhängiger arbeiten. Dies würde sich auch in psychologischen Unterschieden niederschlagen.
Reis macht kooperativ
"Die Idee dahinter ist, dass Reis wirtschaftliche Anreize zur Kooperation gibt und solche Kulturen über viele Generationen stärker ineinandergreifend sind, während Gesellschaften, in denen jeder einzelne weniger vom anderen abhängig ist, mehr Freiheit für Individualismus haben", meint Talhelm, der seine These während eines vierjährigen China-Aufenthalts entwickelte.
Um sicherzustellen, dass andere historische und politische Unterschiede keine Rolle spielen, haben die Wissenschafter allein in China geforscht, wo traditionell im Norden Weizen und im Süden Reis angebaut wird. Die Wissenschafter erhoben bei 1.162 Chinesen Unterschiede hinsichtlich Individualismus, Analysefähigkeit und Gemeinschaftssinn.
Tatsächlich zeigte sich, dass die Menschen im südlichen China mehr voneinander abhängig sind und ganzheitlicher denken als der Weizen züchtende Norden, was in wesentlichen Punkten auch die Unterschiede zwischen östlichen und westlichen Kulturen widerspiegelt. Die befragten Chinesen waren übrigens großteils Studenten ohne Bezug zur Landwirtschaft, was für Talhelm seine "Reis-Theorie" untermauern würde: "Einfach gesagt: Man muss nicht Reisbauer sein, um die Reiskultur geerbt zu haben." tberg,
Abstract
Science: Large-Scale Psychological Differences Within China Explained by Rice Versus Wheat Agriculture
Nota.
"Seine These" hat er also während eines vierjährigen China-Aufenthalts entwickelt? Genauso gut ist denkbar, dass er sie gefunden hat, als er die Nase in ein Buch von Karl August Wittfogel gesteckt hat. Und da besagter Wittfogel in Vergessenheit geraten ist, kann man sich heute ungeniert mit seinen Federn schmücken. Oder ist er am Ende an der Univerity of Virginia so gründlich vergessen, dass Mr. Thalhelm "seine" These wirklich selber erfinden musste? Das eine wäre akademisch so skandalös wie das andere.
JE
aus DiePressse.com, 08.05.2014 | 17:25 |
Ost und West = Reis und Weizen Die Agrikultur prägt die gesamte Kultur: Wo Weizen gepflanzt wird, gedeiht Individualismus, Reis hingegen lässt Kollektivismus sprießen. Das zeigt sich just in China.
Wie groß sind Sie, im Vergleich mit anderen, präziser: Wie groß schätzen Sie sich ein? Das hängt ganz davon ab, wo Sie leben bzw. woher Sie stammen. Falls das ein westlicher Industriestaat ist, dann gehören Sie zur Kultur der Weirds – western, educated, industrialized, rich, democratic –, und deren Selbsteinschätzung macht ihrem Namen Ehre. Das zeigte ein Test, den Shinobu Kitayama University of Michigan 2009 ersonnen hat: Dabei werden die Teilnehmer gebeten, sich selbst und das Netzwerk ihres Freundeskreises auf einem Blatt Papier zu skizzieren, jeder der Beteiligten wird mit einem Kreis markiert.
Die Grenze ist der Jangtse . . .
Daher, dass die Ahnen im Osten eher Reis anpflanzten und die im Westen eher Weizen. Das ist der jüngste Erklärungsvorschlag. Er stammt von Thomas Talhelm, der studiert Kulturpsychologie an der University of Virginia, und er hat konkurrierende Hypothesen verglichen: Zum einen die Modernisierungshypothese, die darauf setzt, dass Individualisierung und analytisches Denken mit dem Reichtum kommen; zum Zweiten die Pathogen-Prävalenz-Theorie, die geht davon aus, dass in Regionen mit hoher Infektionsgefahr die Menschen enger zusammenrücken und sich nach außen abschotten. Auch das gehört zum „asiatischen“ Kollektivismus; und zum Dritten die Reistheorie. Sie ist eine Fortführung der Subsistenztheorie, die die heutigen Unterschiede etwa dadurch erklären wollte, dass die Ahnen der einen auf sich selbst gestellte Hirten waren und die der anderen auf andere angewiesene Bauern. Aber das greift zu kurz, und es gibt unterschiedliche Bauern, auch dort, wo man sie auf den ersten Blick gar nicht vermutet, in Ostasien, enger: in China.
Das ist das Untersuchungsgebiet Talhelms. Er hat es in seinem früheren Beruf kennengelernt, er war Englischlehrer, erst im Süden Chinas, dann im Norden. Dabei bemerkte er, dass es die klassische Ost/West-Divergenz auch in China selbst gibt, dort tut sie sich zwischen Süden und Norden auf, die Grenze zieht der Jangtse: Im Süden überwiegt der Reis, im Norden der Weizen. Die prägen das Leben und die Kultur der Bauern: Der Anbau von Reis, vor allem der auf gefluteten Feldern, nimmt doppelt so viel Zeit in Anspruch wie der von Weizen, und die notwendigen Bewässerungsanlagen kann ohnehin nur eine Gemeinschaft bauen und managen. Weizen kann jeder für sich säen und ernten, so steht es schon in einem chinesischen Bauernhandbuch des 16. Jahrhunderts: „Wenn jemand wenig Arbeitskräfte hat, ist Weizen am besten.“
Und das schlägt durch. Talhelm hat es an Studenten in sechs chinesischen Städten in verschiedenen Regionen gezeigt. Er hat sie zwei Tests machen lassen, zum einen die Loyalitäts- und Nepotismus-Aufgabe. Die erhebt, wie man sich gegenüber Freunden verhält und wie gegenüber Fremden, und in beiden Fällen auch gegenüber unehrlichen. Letztere werden im Westen leichter abgestraft, im Osten hält die Treue trotzdem, und dieses Muster zeigte sich auch in China: Der Norden ist westlicher. Das lässt sich auch aus offiziellen Statistiken herauslesen: Im Norden sind die Scheidungsraten höher, der Erfindergeist ist es auch. Dort werden mehr Patente angemeldet. Denn dort wird analytisch-westlich gedacht, das ergab der Triadentest: Dabei werden drei Gegenstände gezeigt, ein Bus, eine Eisenbahn, Eisenbahnschienen etwa. Welche zwei gehören zusammen? Für den westlichen Blick gehören Bus und Bahn in eine Kategorie, die der Verkehrsmittel, im Osten geht es um den funktionalen Bezug, die Bahn gehört zu den Schienen.
. . . je nach Ufer sprießt andere Kultur
Schließlich kam auch noch Kitayamas Test, der mit den Kreisen: Die aus den Weizenprovinzen machten sich groß, die aus den Reisprovinzen machten sich klein (Science, 344, S. 603). Das alles hielt nicht nur im großen Vergleich quer durch China, sondern auch auf engem Raum, innerhalb einzelner Provinzen, durch die der Jangtse fließt: An seinen beiden Ufern herrschen andere Kulturen, auf den Feldern, in den Köpfen.
Wie lange werden sie noch herrschen? Die Testpersonen waren keine Bauern, sondern eben Studenten, die nur aus den jeweiligen Regionen stammen. Aber Kultur geht so leicht nicht aus den Köpfen heraus, das weiß man aus den USA: Die Gewalt ist heute noch dort höher, wo sich einst Hirten aus Irland und Schottland ansiedelten.
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