Dienstag, 13. Mai 2014

Was vom Realexistierenden übrigblieb.

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Weniger Zusammenhalt in den ostdeutschen
Bundesländern
Ute Friedrich 
Pressestelle
Bertelsmann Stiftung  

12.05.2014 08:02

Studie: Bundesweit wächst der gesellschaftliche Zusammenhalt / 25 Jahre nach dem Mauerfall ist Abstand zwischen Ost und West jedoch größer denn je / Wirtschaftskraft, Wohlstand, Urbanität und Demographie entscheidende Faktoren / Akzeptanz von Vielfalt entwickelt sich ambivalent

Gütersloh, 12. Mai 2014. Die Deutschen halten heute besser zusammen als noch zu Beginn der 90er Jahre. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung belegt, dass in Deutschland insgesamt der Gemeinsinn während der vergangenen zwei Jahrzehnte gewachsen ist. Hamburg nimmt im Gesamtindex eine deutliche Spitzenstellung ein. Neben den Stadtstaaten schneiden auch Baden-Württemberg, Bayern und das Saarland überdurchschnittlich gut ab. Schwerer tun sich die ostdeutschen Bundesländer: Zwar ist auch dort der Gemeinsinn heute stärker als direkt nach der Wende, allerdings ist der Abstand zu den westlichen Bundesländern 25 Jahre nach dem Mauerfall größer denn je.

Das "Radar Gesellschaftlicher Zusammenhalt" untersucht die sozialen Beziehungen zu anderen Menschen, die emotionale Verbundenheit mit dem Gemeinwesen und die Orientierung am Gemeinwohl anhand von 31 Indikatoren, die in neun Dimensionen zusammengeführt werden. In sieben Dimensionen belegen die ostdeutschen Bundesländer im Ländervergleich die hinteren Plätze. Das heißt allerdings keineswegs, dass die Gesellschaft dort immer weiter auseinander driftet. Denn auch im Osten hat sich der Zusammenhalt seit der Wiedervereinigung positiv entwickelt, nur offensichtlich langsamer als im Westen.

In den ostdeutschen Bundesländern beobachten die Autoren, ein Forscherteam aus Sozialwissenschaftlern der privaten Jacobs University Bremen, durchaus Parallelen zu anderen ehemals sozialistischen Staaten. So ist das relativ geringe Vertrauen der Ostdeutschen in ihre Mitmenschen typisch für Länder, in denen zuvor eher Kontrolle das gesellschaftliche Klima bestimmt hatte. "Vertrauen in Menschen ist ebenso wertvoll wie zerbrechlich. Eine Vertrauensbasis ist schnell zerstört – sie wieder aufzubauen, erfordert Zeit und Geduld", sagt Liz Mohn, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann Stiftung.

Beim Vertrauen in Institutionen wie Justiz und Polizei hingegen hat der Osten während der vergangenen zehn Jahre einen kräftigen Sprung nach oben gemacht.

Die Verteilungsgerechtigkeit beurteilen die Bürger im Osten deutlich schlechter als die Bürger im Westen. So sind in den ostdeutschen Ländern erheblich mehr Menschen der Meinung, die Regierung solle dafür sorgen, Einkommensunterschiede zu reduzieren. Dies spiegelt sich in einer relativ hohen Unzufriedenheit der Ostdeutschen mit dem eigenen Lebensstandard: Während im Westen seit 1990 durchgehend mehr als jeder zweite Bürger meint, einen gerechten Anteil am Wohlstand zu erhalten, sackte dieser Anteil in den meisten ostdeutschen Bundesländern nach einem Zwischen-hoch wieder kräftig ab. Fast so niedrig wie direkt nach der Wende sind die Werte in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Dort empfindet nur noch jeder Fünfte seinen Lebensstandard als gerecht. "In vielen Regionen im Osten scheint der zwischenzeitliche Optimismus einer gewissen Ernüchterung gewichen zu sein", sagt Kai Unzicker, Experte für gesellschaftliche Entwicklung in der Bertelsmann Stiftung.

Die Akzeptanz von Vielfalt hat sich in Deutschland ambivalent entwickelt. Erheblich angestiegen ist in nahezu allen Bundesländern die Toleranz gegenüber Homosexuellen. Selbst in Bayern als dem in diesem Punkt am wenigsten tolerantem westdeutschen Bundesland herrscht relativ hohe Zustimmung zu der Aussage, Schwule und Lesben sollten ihr Leben führen können, wie sie möchten. Auch in den ostdeutschen Bundesländern hat sich die Akzeptanz gegenüber homosexuellen Lebensformen erhöht, liegt aber außer in Thüringen unterhalb des Bundesdurchschnitts.

Zuwanderern begegnen viele Deutsche nach wie vor mit großer Skepsis. Zwar zeigen sie sich zunehmend offener für ein gesellschaftspolitisches Engagement von Ausländern, allerdings akzeptieren sie immer seltener, wenn diese in Deutschland ihren traditionellen Lebensstil pflegen. Diese nachlassende Akzeptanz von kultureller Vielfalt erscheint unbegründet, denn die Studie zeigt: In den Bundesländern mit den höchsten Ausländeranteilen halten die Bürger am engsten zusammen.

"Offenbar empfinden noch immer viele Deutsche Zuwanderung als Bedrohung. Wir sollten stattdessen Vielfalt als Chance begreifen", sagt Liz Mohn, die stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann Stiftung.

Mit ihrer Analyse, welche Einflussgrößen entscheidend sind für den Grad des Zusammenhalts in einer Gesellschaft, liefert die Studie auch Erklärungen, warum die ostdeutschen Länder den Abstand zu Westdeutschland noch nicht verringern konnten: "Je höher das Bruttoinlandsprodukt eines Bundeslandes, je niedriger das Armutsrisiko, je urbaner das Wohnumfeld und je jünger die Bevölkerung, desto höher der Zusammenhalt", fasst Kai Unzicker zusammen. Damit bestätigt die Studie, dass Wirtschaftskraft und Wohlstand förderlich sind für das innere Gefüge einer Gesellschaft. Das war bereits das Ergebnis des letztjährigen Radars, das den Gemeinsinn in mehr als 30 Staaten untersucht hatte. Der innerdeutsche Vergleich zeigt nun zusätzlich, dass auch ein städtisches Umfeld und eine positive demographische Entwicklung helfen, eine Gesellschaft zusammenzuhalten.

Informationen zum "Radar Gesellschaftlicher Zusammenhalt"

Das "Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt" ist ein Index der Bertelsmann Stiftung, den ein Forscherteam unter der Leitung von Prof. Klaus Boehnke und Prof. Jan Delhey von der Jacobs University in Bremen erstellt hat. Bereits im Juli 2013 ergab ein internationaler Vergleich, dass die skandinavischen Staaten und die angelsächsischen Einwanderungsländer einen besonders hohen Zusammenhalt aufweisen. Deutschland landete hierbei im Mittelfeld der 34 untersuchten Länder, mit deutlichen Schwächen bei der Akzeptanz von Diversität. Für den innerdeutschen Vergleich der Bundesländer wurden verschiedene Befragungsstudien sowie Daten der amtlichen Statistik in einer sogenannten Sekundäranalyse zusammengeführt und ausgewertet. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird durch 31 Einzelindikatoren in neun Dimensionen erfasst, die sich den drei Themenbereichen "Soziale Beziehungen", "Verbundenheit mit dem Gemeinwesen" und "Gemeinwohlorientierung" zuordnen lassen.

Rückfragen an: Kai Unzicker, Telefon: 0 52 41 / 81 81405
E-Mail: kai.unzicker@bertelsmann-stiftung.de

Stephan Vopel, Telefon: 0 52 41 / 81 81397
E-Mail: stephan.vopel@bertelsmann-stiftung.de

Die vollständige Studie, die 16 Bundesländerreports, der Methodenbericht und der komplette Datensatz finden Sie unter

Weitere Informationen:
http://www.bertelsmann-stiftung.de und
http://www.gesellschaftlicher-zusammenhalt.de


aus Süddeutsche.de, 12. Mai 2014 08:28


Studie zu gesellschaftlichem Zusammenhalt  
Was den Wir-Westen vom Ich-Osten trennt 
Toleranz, Heimatgefühl und Familiensinn haben für die Menschen in Westdeutschland einen höheren Stellenwert als im Osten. Seit der Wiedervereinigung ist der Unterschied beim Zusammenhalt sogar immer größer geworden. Die Forscher haben auch untersucht, woran das liegen könnte.

 
Von Jan Bielicki

25 Jahre nach dem Mauerfall gibt es immer noch eine Kluft zwischen West und Ost. Und sie ist seither noch tiefer geworden - jedenfalls, was den Gemeinsinn der Deutschen angeht: Die Westdeutschen halten einer neuen Studie zufolge gesellschaftlich deutlich besser zusammen als die Ostdeutschen. Danach sind die Menschen in den westlichen Bundesländern enger in ihre Familien und Freundeskreise eingebunden als die Bewohner der östlichen Länder, sie haben ein größeres Vertrauen in ihre Mitbürger und die staatlichen Institutionen, sie sind eher bereit, ihre Gesellschaft für gerecht zu halten, und auch Solidarität und Hilfsbereitschaft sind bei ihnen stärker ausgeprägt. Das geht aus einer umfangreichen Vergleichsstudie hervor, die an diesem Montag von der Bertelsmann-Stiftung vorgestellt wird und die der Süddeutschen Zeitung vorliegt.

Bei Toleranz und Heimatgefühl steht der Osten hinten

Mit Abstand am stärksten ist der Gemeinsinn demzufolge in Hamburg entwickelt. Auch die andere als Bundesland selbständige Hansestadt -nämlich Bremen -, das Saarland und die großen Flächenländer Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen stehen weit oben in der Rangliste des von Sozialwissenschaftlern der privaten Jacobs University Bremen zusammengestellten "Radars gesellschaftlicher Zusammenhalt".
Die fünf neuen Länder Brandenburg, Sachsen, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und als Schlusslicht Sachsen-Anhalt finden sich dagegen allesamt am Ende dieser Tabelle. Und wenig deutet darauf hin, dass sich daran etwas ändern könnte: "Die Kluft zwischen West und Ost ist aktuell sogar größer, als sie es unmittelbar nach der deutsch-deutschen Vereinigung war", schreiben die Bremer Forscher. Ob es nun um die soziale Einbindung, um das Heimatgefühl oder um die Toleranz gegenüber Ausländern geht - in vielen der vermessenen Teilbereiche sind die östlichen Bundesländer seither tendenziell weiter hinter dem Westen zurückgefallen.
 
Für seine Studie hat das Bremer Forscherteam um die Soziologen Klaus Boehnke und Jan Delhey Daten des Statistischen Bundesamtes, des Bundeswahlleiters und sechs weiteren nationalen und internationalen Erhebungen für einen Zeitraum von fast 25 Jahren ausgewertet. Dabei versuchten sie, den gesellschaftlichen Zusammenhalt anhand von 31 Einzelpunkten zu messen. In den so errechneten Zusammenhalts-Index gehen Zahlen wie Wahlbeteiligung oder die Häufigkeit bestimmter Delikte ein, vor allem aber die Ergebnisse von Umfragen und die dabei gegebenen Antworten von Bürgern auf Fragen wie: Bekommen Sie Hilfe durch Freunde und Bekannte? Wie stehen Sie zu Homosexuellen als Nachbarn? Wie stark sind Sie Ihrer Heimatregion verbunden? Wie groß ist Ihr Vertrauen in Justiz, Polizei oder Stadtverwaltung? Haben Sie im vergangenen Jahr Geld gespendet? Wie oft sind Sie in Ihrer Freizeit ehrenamtlich tätig? Haben Sie schon Abzeichen oder Aufkleber einer politischen Kampagne getragen?

Wohlstand fördert den Zusammenhalt

Nach den so ermittelten Kennzahlen liegt Hamburg in fast allen der für den Zusammenhalt wichtigen Eigenschaften - ob Vertrauen, Heimatgefühl oder gesellschaftliche Teilhabe - in der Spitzengruppe. Sachsen-Anhalt dagegen findet sich in fast jedem der untersuchten Teilbereiche auf den unteren Plätzen.
Einzige Ausnahme: An soziale Regeln halten sich Hamburger, aber auch Berliner oder Bremer deutlich weniger gerne als ihre Mitbürger aus ländlich geprägten Flächenländern. Das belegt die Kriminalitätsrate, die in Städten deutlich höher ist als auf dem Land. Das aber ändert nichts an der Tatsache, das Städter in der Tendenz besser vernetzt, vertrauensvoller und gesellschaftlich engagierter erscheinen als Landbewohner. Stadtluft fördert den Zusammenhalt demnach ebenso wie Wohlstand: Wo der Reichtum groß und die Armut klein ist, wächst der Studie zufolge auch der Zusammenhalt einer Gesellschaft.

Das Gleiche gilt für Regionen, in denen die Bevölkerung im Schnitt jünger und damit aktiver ist als etwa in den Abwanderungsgebieten Ostdeutschlands.

Das gilt innerhalb der Bundesrepublik genauso wie im internationalen Vergleich. Mithilfe ganz ähnlich gewonnener Kennzahlen hatten die Bremer Wissenschaftler bereits zuvor eine Rangliste des Gemeinsinns in 34 westlichen Industrieländern gebildet und im vergangenen Sommer veröffentlicht. Die Bundesrepublik kam darin auf Platz 14 und rangierte deutlich hinter Skandinaviern, Australiern und Nordamerikanern.

Die Sozialforscher widersprechen den Thesen Sarrazins

Damals stuften die Forscher vor allem wachsende Vorbehalte gegenüber Einwanderern als "Risiko für den Zusammenhalt" ein. Während Schwule und Lesben inzwischen auf deutlich mehr Verständnis stoßen als noch in den Neunzigerjahren, hat die Bereitschaft der Deutschen, Migranten die Sitten und Gebräuche ihrer Herkunftsländer pflegen zu lassen, demnach in den vergangenen 25 Jahren eher nachgelassen. Das halten die Bremer Wissenschaftler für "bedenklich" und sehen sich in dieser Einschätzung durch ihren innerdeutschen Vergleich bestätigt: Wo viele Einwanderer leben wie in Hamburg, Bremen oder Baden-Württemberg, ist der gesellschaftliche Zusammenhalt höher als in den östlichen Landstrichen der Republik mit ihrem niedrigen Migrantenanteil.
 
 
Einwanderung "in den gegenwärtigen Größenordnungen", so wenden sich die Sozialforscher gegen den Bestseller-Autor Thilo Sarrazin, "untergräbt in keiner Weise den gesellschaftlichen Zusammenhalt, wie Bücher wie ,Deutschland schafft sich ab' publikumswirksam suggerieren. Ganz im Gegenteil."

Insgesamt jedoch, das hat schon der internationale Vergleich ergeben, halten die Deutschen heute enger zusammen als noch vor 25 Jahren. "Das ist eine gute Entwicklung", sagt Liz Mohn, die stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann-Stiftung. Denn noch eine Erkenntnis ihres internationalen Vergleichs sehen die Wissenschaftler auch innerdeutsch bestätigt: Wo eine Gesellschaft zusammenhält, sind die Menschen zufriedener mit sich und ihrem Leben. "Zusammenhalt bedeutet Glück", sagt Mohn, "ohne Bindungen kann man nicht glücklich werden." Und siehe da: Die im Schnitt unzufriedensten Deutschen leben in Sachsen-Anhalt, die zufriedensten in Hamburg - HSV und Schmuddelwetter zum Trotz.


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