Hans Makart, Bacchus und Ariadne
aus Die Presse, Wien, 21. 5. 2014
Wie der Bürgerkrieg heute noch den US-Süden einschnürt
Ein
altes Konzept, das Gesellschaften in „enge“ mit rigiden Normen und
„lockere“ mit Toleranz einteilt, wurde aktualisiert und für die USA
fruchtbar gemacht.
Wenn man der ganzen Menschheit empfehlen würde, sich die besten Regeln der Welt zu geben, würde jede Gruppe, nach eingehender Beratung, ihre eigenen Sitten wählen; und jede Gruppe würde sich als die bei Weitem beste betrachten.“ Mit diesen Worten brachte Herodot vor 2400 Jahren als Erster das Staunen darüber zu Papier, wie unterschiedlich Gesellschaften organisiert sind, und ihre Denk- und Verhaltensweisen auch. Das frappiert heute noch mehr, erst kommen in den TV-Nachrichten die Hardcore-Fundamentalisten aus Nigeria, dann folgt der Eurovisions-Contest. Haben die jeweiligen Gesellschaften ihre Werte und Normen ausverhandelt, wie Herodot das imaginierte? Und welchen Handlungsspielraum hatten sie?
Damit tun sich die Sozialwissenschaften, die ohnehin kaum mehr existieren, schwer, eine der Letzten an der Front ist Michele Gelfand, Psychologin an der University of Maryland. Sie knüpft an eine Tradition an, die im frühen 20. Jahrhundert Gesellschaften in „apollinische“ und „dionysische“ einteilte (Ruth Benedict, 1934) oder auch in „kooperative“ und „individualistische“ (Margareth Mead, 1937), das waren ethnologische Arbeiten über „primitive“ Kulturen, sie brachten etwa ans Licht, dass in bäuerlichen Gesellschaften rigidere Normen herrschen, bei Jägern und Sammlern laxere, Bauern müssen einfach stärker kooperieren.
Bedrohungen machen alles eng
Ob sich mit dem Begriffspaar auch heutige Gesellschaften fassen lassen, testete 1965 Perrti Pelto (University of Minnesota), er brachte Begriffsschärfe in den Dualismus: Gesellschaften sind entweder „eng“ oder „locker“, in engen ist alles streng normiert und sanktioniert, in lockeren gibt es Raum für Abweichler. Ihren Hintergrund haben die Modelle in Umwelt und Geschichte: In unsicheren Regionen, in denen Naturkatastrophen und Epidemien und Kriege drohen, in denen also das Notwendigste ständig in Gefahr ist, geht alles in die Enge: Normen und Sanktionen sind hart, an straff organisierter Ordnung liegt mehr als an Freiheit. Das schlägt durch auf die Mentalität, auch der Blick wird eng, er duldet keine Vielfalt und achtet auf Selbstdisziplin, von außen unterstützt durch viel Polizei, von innen durch einen starken Glauben.
Das Konzept hat Gelfand 2011 für einen internationalen Vergleich aktualisiert, in 33 Nationen bzw. Städten erhob sie Enge und Lockerheit (Science, 332, S.1102). Ganz grob passte das Bild: Im sicheren Groningen in den Niederlanden war der „Enge-Wert“ tief („Tightnes-Score“: 3,3), im geplagten Hyderabad in Pakistan war er hoch (12,3), Österreich lag mit Linz im Mittelfeld (6,8).
Dabei kamen auch Details ans Licht wie die stärkere Unterdrückung der Linkshändigkeit in engen Gesellschaften, aber man rieb sich beim Betrachten der Statistik schon die Augen: Am lockersten ging es demnach in der Ukraine zu (Odessa: 1,6), es folgte Ungarn (Budapest: 2,6). Die Analyse sagte also eher etwas über die Städte als über die Länder, das war auch in den USA so, die mit Washington einen Score von 5,1 hatten. Deshalb ist Gelfand nun am Exempel der USA in die Feinheiten gegangen, sie hat alle 50 Bundesstaaten verglichen und ein unterschiedliches Bild gefunden, mit einem starken Lockerheits/Enge-Gefälle von Norden (und Westen) nach Süden: Rechts unten ist es eng, Mississippi, Alabama, Arkansas liegen an der Spitze des „Tightness-Score“ (mit Werten um die 75, Gelfand hat diesmal anders skaliert).
Ganz locker ist es im Westen (Kalifornien: 27,37), es folgt der Norden: In beiden Regionen gibt es mehr Alkohol- und Drogenkonsum, aber relativ wenige Insassen in Gefängnissen und wenig Diskriminierung. Im Gegenzug wieder sind Kreativität und Wohlbefinden größer (Pnas, 19. 5.). Woher das alles? Im Süden ist die Natur bedrohlicher, dort gibt es die Hurrikans, dort grassieren Infektionskrankheiten. Und im Süden hat die Geschichte tiefe Spuren hinterlassen, die des Bürgerkriegs, der betraf den Norden natürlich auch, aber ausgekämpft wurde er im Süden.
Kultur als Anpassung an lokale Umwelt
Die Erinnerung an diese Bedrohung hat sich gehalten. „Enge und Lockerheit sind Anpassungen an lokale Umwelten, die das Verständnis kultureller Differenzen auf vielen Ebenen ermöglichen“, schließt Gelfand, die allerdings auch weiß, dass das Konzept nicht alles erklärt: Es gibt lockere „Inseln“ in engen Regionen und enge in lockeren.
Und natürlich spielt auch mit, was bei Gelfand nur über einen Umweg einfließt, die Sozioökonomie. Eine ihrer Auswirkungen hat Soziologe Jens Ambrasat (FU Berlin) in Deutschland erhoben (Pnas, 19. 5.): Er hat Testpersonen Wörter vorgelegt, die entweder sichere Sozialbezüge implizierten („Lebensgefährte“, Verbündeter“) oder bedrohliche („Störenfried“, „Krimineller“). Sozioökonomisch gehobene Testpersonen reagierten mit weniger Emotion auf die Sicherheit, aber mit mehr auf die Bedrohung.
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