Donnerstag, 15. Mai 2014

Ein Fallschirmjäger unter den Soziologen.

aus nzz.ch, 15. Mai 2014, 05:30 

Ulrich Beck wird siebzig
Der Risiko-Soziologe
Mit seinem Buch «Die Risikogesellschaft», kurz vor der Katastrophe von Tschernobyl erschienen, avancierte Ulrich Beck zum Gegenwartsdiagnostiker. Sein soziologischer Blick ist grossräumig geblieben.

von Joachim Güntner

Für die Geschichtswissenschaft hat der französische Historiker Emmanuel Le Roy Ladurie einmal die «Trüffelsucher» von den «Fallschirmspringern» unterschieden. Die einen heften ihren Blick auf Details und machen dort die erstaunlichsten Entdeckungen, bleiben freilich auch im bodennahen Gestrüpp der Wirklichkeit hängen; die anderen nehmen die Empirie nur als Anstoss, wollen die grossen Linien der Entwicklung erfassen und den Horizont des Wahrscheinlichen aufreissen. Natürlich ist das eine idealtypische Kategorisierung, man wird stets Mischformen der beiden Perspektiven finden. Zugleich hat sie etwas Triftiges. Unter den Soziologen zählt Ulrich Beck zweifellos zu den Fallschirmjägern. Er praktiziert ein weiträumiges Analysieren und Denken, worin noch der alte sozialphilosophische Anspruch fortlebt, man müsse gesellschaftliche Tendenzen «auf den Begriff» bringen.

In den zurückliegenden drei Jahrzehnten hat Ulrich Beck dies in beeindruckender Weise unternommen. Er lieferte prägnante Stichworte zur weltgesellschaftlichen Situation der Zeit: Risikogesellschaft, reflexive Modernisierung, Zweite Moderne, Globalisierungsfalle. Mit der Einsicht in Individualisierungsschübe, welche den Einzelnen aus überkommenen Ordnungen lösen und mit der Aufgabe konfrontieren, sich seine Biografie selbst zu basteln, stand Beck nicht allein. Aber er hat, sei es in fruchtbarer Zusammenarbeit mit dem englischen Kollegen Anthony Giddens oder seiner Frau Elisabeth Beck-Gernsheim, die Konturen der Individualisierung im späten 20. Jahrhundert auf denkbar kenntliche Weise verschärft. Wohltuend an seiner Diagnose war, dass sie sich vom kulturkonservativen Lamento fernhielt, die Gesellschaft zerfalle in atomisierte Egos. Selbst wenn Beck über die Liebe in Zeiten der Globalisierung nachdachte, pochte er darauf, dass Bindung an ferne Geliebte über die Distanz hinweg möglich sei. Bisweilen mochte man den Eindruck haben, er verallgemeinere dabei etwas zu sehr seine eigene Lebensform – die einer Scientific Community, deren soziale Absicherung es erlaubt, als akademischer Jetset überall heimisch zu werden und unter seinesgleichen Rückhalt zu finden.

«Die Gesellschaft ist nichts anderes als eine umfassende Versicherung gegen die Risiken, die sie durch ihre eigene Entwicklung verursacht.» Dieser Satz steht nicht bei Ulrich Beck, sondern bei dem französischen Philosophen François Ewald, dessen Werk «L'Etat Providence» wie in brüderlichem Geiste zu Becks Analyse der «Risikogesellschaft» geschrieben scheint (zur deutschen Ausgabe «Der Vorsorgestaat» hat Beck ein umfassendes Nachwort beigesteuert). Beide Autoren legen dar, wie die Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts im Zuge der technologischen Modernisierung von den Eigentümlichkeiten der Risikogesellschaft überformt wird. In fortgeschrittenen Gesellschaften werden die hungernden Mäuler satter und die Bäuche dicker, die Not der Subsistenz schwindet, die Verhältnisse zivilisieren sich.

Doch was einst «Gefahr» hiess, wandelt nun, eingedämmt, seinen Charakter: Mit dem Fortschritt wachsen die «Risiken», denn die Mittel, welche wir zur Daseinserleichterung durch Grosstechnologien in die Hand bekommen, zeitigen unbeabsichtigte Nebenfolgen. Auch betreffen diese Nebenfolgen nicht nur die Nutzniesser einer Technologie und Wirtschaftsform, sondern sie globalisieren sich. Alles und alle hängen irgendwie zusammen. Becks Buch «Die Risikogesellschaft», kurz vor der Kernschmelze im Reaktor von Tschernobyl 1986 erschienen, erfuhr durch die «atomare Wolke», die sich grenzüberschreitend in Europa verteilte, exemplarische Bestätigung. Der Autor stieg zum Gegenwartsdiagnostiker auf, sein Werk wurde zum Buch der Stunde.

Es konnte nicht ausbleiben, dass mit dem Wachsen von Ulrich Becks Nimbus auch die Lust dieses Linksliberalen an Interventionen wuchs. Beck ist bekennender Kosmopolit und Anhänger der europäischen Einigung wider alle Rückfälle ins Nationalistische. Dabei bleibt ihm durchaus nicht die Einsicht verwehrt, dass das Bedürfnis nach heimatlicher Verortung zu den Windschattenphänomen der Globalisierung zählt. Doch für Beck gilt als ausgemacht, dass antieuropäische Bewegungen den nationalen Interessen schaden. Für «die Bewältigung globaler Risiken», sagt er, gebe es «nur einen, nämlich den kosmopolitischen Weg». Dazu gehören für ihn die Dominanz europäischen Rechts über nationale Verfassungen sowie eine Weltfriedensordnung, die ohne die Autorität eines Hegemonen auskommt. Beck betrachtet sich nicht als Idealisten. Er vertraut auf die Lehren eines faktischen, eines «banalen» Kosmopolitismus. Die Vermischung der Zivilisationen birgt Konflikte, setzt aber auch wechselseitige Anerkennung in Gang. Nur den Gesellschaften, die sich abschotten, erscheint die Moderne als Zumutung. «Weil aber Staaten überleben wollen», schreibt Beck in «Der kosmopolitische Blick» (2004), «müssen sie zusammenarbeiten.» Heute, am 15. Mai, wird der Soziologe des Risikos siebzig Jahre alt.

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