Donnerstag, 22. Mai 2014

Die Reformation war keine Freiheitsbewegung.

Im Januar 1527 werden in der Limmat in Zürich die ersten Märtyrer der Täuferbewegung ersäuft, hier Felix Manz, Darstellung aus dem 17. Jahrhundert.
Im Januar 1527 werden in der Limmat in Zürich die ersten Märtyrer der Täuferbewegung ersäuft, hier Felix Manz, Darstellung aus dem 17. Jahrhundert.
aus nzz.ch, 21. Mai 2014, 11:00

Die Intoleranz der Reformatoren
Soll man Ketzer verfolgen?

 

Am 27. Oktober 1553 liess Jean Calvin den spanischen Arzt Miguel Servet verbrennen. Dieser hatte die Dreieinigkeit in Zweifel gezogen, worauf ihm der Genfer Reformator gemeinsam mit dem altgläubigen Bischof von Lyon nachstellte. «Oh, Jesus, Sohn des ewigen Gottes, erbarme dich meiner», waren Servets letzte Worte auf dem Scheiterhaufen. Sie waren zugleich sein letzter theologischer Widerstand: Hätte er stattdessen Jesus als «ewigen Sohn» angefleht, wäre, was er sprach, orthodox gewesen. – Dürfen solche (für uns) marginalen Glaubensdifferenzen über Leben und Tod entscheiden? Soll man Ketzer verfolgen? So formulierte der savoyische Arzt Sebastian Castellio 1554 den Buchtitel seiner lateinischen Schrift, die nun, von Werner Stingl, erstmals ins Deutsche übersetzt und von Wolfgang Stammler herausgegeben worden ist. Dem Verständnis von Castellios Werk dient nicht nur ein hilfreicher Anhang, sondern auch ein längerer Auszug aus Hans Rudolf Guggisbergs einschlägiger Castellio-Biografie von 1997, in der die Argumente der Toleranz-Debatte dargelegt und historisch eingeordnet werden. Die zeitlose Kernbotschaft lautete: «Hominem occidere non est doctrinam tueri sed hominem occidere» – «einen Menschen töten heisst nicht eine Lehre verteidigen, sondern einen Menschen töten».
 
Kommentierte Anthologie

Castellio trat nicht für Servets antitrinitarische Überzeugungen ein, aber entschieden für Barmherzigkeit auch gegenüber «Irrenden» und damit gegen Calvins «Zügellosigkeit des Richtens». Die beiden kannten sich. Castellio war als humanistischer Reformator und Lehrer in Strassburg und Genf ein Weggefährte Calvins gewesen, bis er 1545 nach Basel auswich. Dort erschien «De haereticis, an sint persequendi» in Form einer Anthologie, in der Castellio unter Pseudonymen eigene Texte mit solchen von Kirchenvätern, Reformatoren und Freidenkern verband, die gegen die Unduldsamkeit argumentierten. In dieser Reihe, die von Augustin über Luther und Erasmus zu Sebastian Franck führte, zitierte Castellio raffiniert auch Calvin selbst. In der ersten Auflage seines Hauptwerks, der «Institutio Christianae religionis», hatte Calvin 1535 diejenigen verworfen, die Falschgläubige «zu unserem Glauben» zwingen, «indem sie sie aus ihrer Gemeinschaft ausstossen und ihnen jegliche menschlichen Liebesdienste versagen und sie mit Schwert und Waffen verfolgen».

Dieser Satz fehlte in späteren Auflagen. Während Castellio bezweifelte, dass Menschen die göttliche Wahrheit eindeutig erkennen könnten und auf dieser Grundlage Mitmenschen hinrichten dürften, war das Toleranzpostulat der anderen Reformatoren nicht prinzipiell, sondern situativ und provisorisch. Sie forderten von der alten Kirche die Freiräume, um die neu erkannte Wahrheit zu verkünden. Dass sich diese Wahrheit und damit Gottes Wille dann durchsetzen musste, war für sie unbezweifelbar: Hatte die Reformation einmal obsiegt, so war Toleranz nicht nur überflüssig, sondern sie erzürnte auch den eifersüchtigen Gott, der keine Relativierung der Wahrheit duldete.

So bekämpften sich die verschiedenen reformatorischen Bewegungen untereinander fast ebenso unerbittlich, wie sie allesamt mit den Katholiken stritten. Castellio klagte, dass «jeder für einen Ketzer gilt, der anders denkt als wir». Luther bezeichnete die Zürcher Reformierten als «verfluchte Rotte der Schwermer, Zwingler und dergleichen». Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger verwarf seinerseits die Täufer als «schantliche, verderpliche, nydige und uffruerische sect». Die Anfänge der Täuferbewegung lagen für ihn nicht in Zürich, wo ihre ersten Anhänger 1527 hingerichtet wurden, sondern in Sachsen, bei den Zwickauer Propheten und Thomas Müntzer. Damit machte der Zürcher Luthers Heimat und dessen frühes Umfeld für die Sektenbildung verantwortlich. – Christian Moser, der eine voluminöse Studie zu Bullingers um 1567 verfasster Geschichte der Zürcher Reformation vorgelegt hat, versteht Bullingers tendenziöse «Täuferhypothese» nicht als «bewusste Fälschung», sondern erkennt «durchaus plausible Schlüsse», die der Reformator aus dem ihm vorliegenden Material gezogen habe. Allerdings verfolgte Bullinger dieselbe Strategie des Schuldexports, als er einen Zusammenhang zwischen der Zürcher Reformation und den Bauernrevolten von 1524/25 bestritt: Der «gmein uruewig man» auf der Zürcher Landschaft habe seine aufrührerischen Ideen aus den Gebieten nördlich des Rheins und erneut von Thomas Müntzer empfangen.
 
Graubünden

Während Moser sich der gelehrten Historiografie, der Quellenauswertung und humanistischen Arbeitsweise widmet und einen reichen Anhang mit Texteditionen und Handschriften-Beschreibungen zur Verfügung stellt, interessiert sich Ulrich Pfister vor allem für die Umsetzung der Reformation als Glaubenspraxis im Alltag; und parallel dazu für die Umgestaltung der allumfassenden, katholischen Kirche zu einer Konfessionskirche. Graubünden ist hierfür trotz Überlieferungsproblemen ein hervorragender Untersuchungsgegenstand, wählten doch die verschiedenen Gerichtsgemeinden in einem langen Prozess ihre Pfarrer und damit ihr Bekenntnis nach dem Mehrheitsprinzip selbständig, was zu einem konfessionellen Flickenteppich führte.

Voraussetzung dafür war das Ilanzer Glaubensgespräch von 1526, das in seltener Weise «jedermann» die Wahl zwischen dem reformierten und dem katholischen Glauben freistellte; faktisch gemeint waren aber zusehends die Gemeinden, nicht die individuellen Gläubigen. Täufer und andere «Irrlehren» waren explizit verboten, auch wenn in der Folge selbst antitrinitarische Anhänger von Servet vor allem aus Italien nach Graubünden flohen. Vor allem die Evangelischen nutzten das Argument der Glaubensfreiheit zudem, um ihre Minderheiten in Gemeinden zu schützen und ihnen Anteil am Kirchengut zu gewähren. – Vormoderne Toleranz war kein Grundprinzip, sondern ein Argument, womit die jeweiligen Obrigkeiten das Konfliktpotenzial des Glaubensstreits sowohl entschärfen als auch eskalieren lassen konnten.

Sebastian Castellio: Das Manifest der Toleranz. Über Ketzer und ob man sie verfolgen soll. Aus dem Lateinischen von Werner Stingl. Alcorde, Essen 2013. 440 S., Fr. 45.90.
Christian Moser: Die Dignität des Ereignisses. Studien zu Heinrich Bullingers Reformationsgeschichtsschreibung. Brill, Leiden/Boston 2013. 2 Bände, 1110 S., Fr. 312.90.
Ulrich Pfister: Konfessionskirchen, Glaubenspraxis und Konflikt in Graubünden, 16.–18. Jahrhundert. Ergon, Würzburg 2013. 544 S., Fr. 104.90.

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