Pierre Bourdieus Vorlesungen am Collège de France 1989–1992
Der Staat ist überall
Pierre Bourdieu ist sicherlich einer der originellsten und wirkungsreichsten Soziologen der jüngeren Vergangenheit. Die «feinen Unterschiede» und «Distinktionsgewinne», die Auffächerung des «Kapitals» einer Person in «ökonomisches», «soziales», «symbolisches» und «kulturelles»: Das Vokabular des 2002 verstorbenen französischen Wissenschafters gehört heute zur geläufigen Münze der gebildeten Alltagssprache. Erst vergleichsweise spät, dann aber mit grosser Intensität hat sich Bourdieus Interesse auch auf den Staat gerichtet. Die jetzt auf Deutsch erschienenen Vorlesungen «Über den Staat», die er zwischen 1989 und 1992 am Collège de France gehalten hat, erlauben es auf das Schönste, die Ergebnisse dieser Beschäftigung zu besichtigen.
Der Eigenheimkauf
Zunächst stellt sich Bourdieu die Frage, warum nicht nur er, sondern, wie er meint, alle Welt so wenig über den Staat nachgedacht hat. Seine Antwort lautet: weil der Staat universal, mithin selbstverständlich geworden sei. Überall habe der Staat seine Finger im Spiel: im Stundenplan der Schulen, in der Festlegung des Kalenders, im Ausfüllen der Formulare, in der Verteilung von Positionen und Ehrungen, beim Wunsch nach dem Eigenheim und auch in unserem Denken und unseren Köpfen.
Also gebe es schlechterdings kein Aussen mehr, keine Position ausserhalb des Staates, von der aus man den Staat beobachten könne. Bourdieu selber wurde, wie er berichtet, auf den Staat im Laufe seiner Untersuchungen über den Eigenheimmarkt aufmerksam. Noch jedes Verkaufsgespräch zwischen einer Bank und einem Eigenheimkäufer gehe am Ende auf eine staatliche Entscheidung zurück. Hinter dem Wunsch nach den eigenen vier Wänden stehe mithin nicht die «Natur» des Menschen, sondern die Entscheidung des französischen Gesetzgebers, statt den sozialen Wohnungsbau den Kauf von Eigenheimen zu fördern. Ins Generelle übersetzt: Jedes soziale Faktum, und sei es noch so marginal, verweist auf den Staat. Es gibt keine staatsfreie Gesellschaft. Die Gesellschaft ist immer schon und bis in alle Verästelungen das Resultat staatlicher Einflussnahme, ein Produkt des Staates.
Eine wirklich sensationelle Erkenntnis ist das freilich nicht. Politikwissenschaftern kommt sie sehr bekannt vor, und den Amtsinhabern und Entscheidungsträgern schmeichelt sie, weil sie ihnen bestätigt, dass ihre Bedeutung nicht auf Einbildung beruht, sondern darauf, dass sie tatsächlich in der Lage sind, die gesellschaftliche Entwicklung in die von ihnen gewünschte Richtung zu steuern. Die Politikwissenschaft würde freilich ergänzen, dass bei der staatlichen Steuerung meistens gar nicht das herauskommt, was die staatlichen Entscheider am Anfang als Ziel ausgegeben haben.
Für Bourdieu aber steht fest: Der Staat ist das Wichtigste im sozialen Leben. Daraus folgt, dass es auch für den Soziologen keine wichtigere Frage mehr geben kann als die, woher der Staat kommt und wie er es geschafft hat, sich zur Universalie zu machen. Dieser Frage widmet Bourdieu den weitaus grössten Teil seiner Vorlesungen. Er greift auf eine Fülle historischer und soziologischer Untersuchungen zurück und zeigt, wie in Europa zwischen dem 12. und dem 19. Jahrhundert in einem komplizierten Prozess die dynastische Reproduktion der Herrschaft durch den bürokratischen Staat abgelöst wird. Während die dynastische Logik um Verwandtschaft und persönliche Abhängigkeit kreist, vergibt der moderne Staat die Positionen nach den unpersönlichen Regeln der Qualifikation und der Leistung. In dieser langen Geschichte des Übergangs vom Königtum zur Staatsräson spielen Juristen und Beamte, die es exzellent verstehen, ihr partikulares Interesse als das allgemeine Interesse erscheinen zu lassen, eine herausragende Rolle. Bourdieu schliesst in seinen Überlegungen immer wieder an Max Weber an. Doch zeigt er eben nicht nur, dass der Staat das Monopol der legitimen physischen Gewalt mit Erfolg beansprucht, sondern auch, dass er sich erfolgreich zum Monopolisten der «symbolischen Gewalt» aufschwingt.
Politik und Interesse
An vielen Stellen sind die Vorlesungen überaus lehrreich und kurzweilig. Jenseits vieler Details, über die man streiten kann, gibt es vor allem zwei grundsätzliche Fragen, die die Grenze dieses soziologischen Diskurses markieren. Erstens fällt auf, dass Bourdieu keine Vorstellung vom politischen Handeln hat und an keiner Stelle zureichend über das Verhältnis von Staat und Politik nachdenkt. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass der dramatische Kollaps der kommunistischen Staatenwelt, der sich zur gleichen Zeit ereignet, als Bourdieu die Vorlesungen «Über den Staat» hält, in seinen Ausführungen keinerlei Resonanz findet. Und vielleicht hängt damit auch zusammen, dass Bourdieu immerzu alles, was Akteure tun, auf ihre Interessen zurückführt und dadurch jegliche Eigenbedeutung von Argumenten aus dem Auge verliert.
Zweitens scheint die Soziologie in Bourdieus Augen fraglos dazu in der Lage zu sein, gleichsam ex cathedra die Wahrheit über den Staat zu ermitteln und zu verkünden. Die Soziologie des Staates, die Bourdieu fordert, verfolgt ein ehrgeiziges Ziel. Am liebsten möchte er die Tätigkeiten der Akteure in ihrem jeweiligen Feld so beschreiben, dass deren Handeln und Verhalten völlig durchsichtig wird und ohne Rest auf ihre jeweiligen Interessen zurückgeführt werden kann. Plausibel begründet wird dieser vermessene Anspruch aber an keiner Stelle.
Pierre
Bourdieu: Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989–1992.
Herausgegeben von Patrick Champagne, Remi Lenoir, Franck Poupeau und
Marie-Christine Rivière. Deutsch von Horst Brühmann und Petra Willim.
Suhrkamp, Berlin 2014. 723 S., Fr. 74.90.
Nota.
Es
ist ein doppelter Fehler, 'den Staat' - sofern diese Abstraktion denn
überhaupt berechtigt ist: den modernen bürgerlichen Staat nämlich - ohne
Rücksich auf 'das Politische' zu betrachten, welches sich in den
besagten modernen bürgerlichen Gesellschaften in der Öffentlichkeit legitimieren muss; und ohne Rücksicht auf die 'den Staat' in seinem Alltag ausmachende Bürokratie, die
andererseits ein anti-öffentliches Partikularinteresse ausmacht, das
Heimlichkeit und Privileg erheischt. Dass beide nicht zufällig
zusammengehören, sondern 'notwendig', übersteigt den Horizont der
Soziologie und macht eine politische Geschichtsschreibung erforderlich.
JE
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