Samstag, 21. Juni 2014

Die atlantische Option war nur zweite Wahl.

 
aus Die Presse, Wien, 22. 6. 2014

Weltpolitik
Die Geburt des Westens aus dem Scheitern der Eroberung des Ostens 
Weltpolitik einmal anders betrachtet.

 

Amerika und China sind die Pole der globalen Politik. Heute wie auch schon vor 500 Jahren: Die damals beginnende Expansion Europas fokussierte sich auf diese beiden Teile der Welt, argumentiert der französische Historiker Serge Gruzinski in seinem eben auf Deutsch erschienenen Buch „Drache und Federschlange“ (347 Seiten, 35,90 Euro, Campus Verlag).

Christoph Kolumbus wollte bekanntlich Ostasien erreichen, als er 1492 in Richtung Westen in See stach. Er war auch überzeugt, seinem Ziel ganz nahe gekommen zu sein – die Bezeichnung „Westindische Inseln“ für die Karibik zeugt bis heute davon. Erst seinen Nachfolgern wurde klar, dass dem nicht so war: Sie realisierten, dass sie nicht in jenem sagenhaften Land gelandet waren, das sie aus Marco Polos Reisebeschreibung „Il Milione“ (Die Wunder der Welt) zu kennen glaubten. Binnen weniger Jahrzehnte unterwarfen sie die Reiche der Azteken, der Maya und so weiter. Und zwar mit einer Leichtigkeit, die bis heute staunen macht.

Gleichzeitig bissen sich die Europäer aber am anderen Ende der Welt die Zähne aus: Um 1520 versuchten die Portugiesen, die um Afrika herum und durch den Indischen Ozean nach Südostasien gelangt waren, in China Fuß zu fassen und es für die Christenheit zu erobern; sie scheiterten kläglich an dem wohlorganisierten Reich der Mitte.

Aber auch die Spanier gaben ihren Traum nicht auf, ostasiatische Gefilde zu erreichen: Nach der Eroberung Mittelamerikas ließ Hernán Cortés an der Pazifikküste Mexikos Schiffswerften errichten, um dort weiterzumachen, wo Kolumbus aufgehört hat. Die Passage über den Pazifik erwies sich aber als viel schwieriger als gedacht. Erst 1565 war das Problem gelöst. Einflussreiche Kreise in Spanien und Portugal, unter ihnen die Jesuiten, starteten umgehend einen zweiten Versuch, China zu erobern. Daraus wurde erneut nichts – auch deshalb, weil sich die Machtverhältnisse in Europa gedreht hatten. 1588 ging die spanische Armada im Krieg gegen England unter, das iberische Zeitalter war zu Ende. Erst im 19. Jahrhundert sollte Europa in China Fuß fassen (und auch dann nicht für lange).

Gruzinski zieht aus dieser Geschichte einen bemerkenswerten Schluss: Erst durch das Scheitern der europäischen Expansionsbestrebungen in China hat sich Europa auf Amerika konzentriert. Und erst dadurch kam es schließlich zur Bildung des euroamerikanischen Westens, der bis heute im Widerstreit mit dem chinesischen Osten liegt. Weltpolitik einmal anders betrachtet.

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.
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diepresse.com/wortderwoche





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